Über die Jahre
Ein Annuarium
Auf unserer Seite CARGO Film Medien Kultur hat sich die Rubrik Was vom Jahr bleibt etabliert. Freund*innen der Zeitschrift schreiben auf, was ihnen vom abgelaufenen Jahr nennenswert erscheint. Daraus ist eine ganz eigene Textsorte entstanden, ein inzwischen riesiger Thesaurus aus dem Leben, Erleben, Lesen, Sehen, Denken, Reisen, Empfinden, Zeitgenössischsein einer wachsenden Schar von Menschen. Schon jetzt hat jedes dieser Jahresdokumente im Grunde den Umfang eines Buches. Hier sammle ich meine eigenen Einträge von dort in einer anderen, chronologischen Form.
2023
Im Juni besuchte ich Volker Koepp in der Uckermark. Wir sprachen über seinen Film Gehen und Bleiben, aßen Wurst und Kuchen, danach ging ich ein wenig in die Felder. Nach wenigen Minuten schon war ich sehr weit von allem entfernt, es war still bis auf den Wind. Far from the Maddening Crowd. Kein Idyll, die Landwirtschaft dort ist industriell, aber doch eine Ahnung eines anderen Lebens mit der Natur. Eine kleine Epiphanie und ein kümmerlicher Versuch, sie festzuhalten.
Schon in Heft 58 schrieb Daniel Eschkötter über die Serie Mrs Davis, die damals noch nur für Kundige erreichbar war. Ich kam dann selbst erst dazu, sie zu schauen, als sie gegen Jahresende unvermutet auf Amazon Prime auftauchte. Meine ganze persönliche Geschichte wie auch die des Abendlands sehe ich hier mit geradezu exzessiver Virtuosität durchgespielt: aus Religion wird Popkultur, Humanität erweist sich an Unsinn.
2022
In der Schattenbibliothek, die ich vor ein paar Jahren entdeckte und die ich seither häufig wie eine Suchmaschine verwende, gab ich irgendwann im Frühling den Begriff Crypto ein, weil ich eine Geschichte über die entsprechenden «Währungen» schrieb. Ich stieß dabei auf ein Buch mit einem ganz anderen (na ja) Thema: Jewish Cryptotheologies of Late Modernity: Philosophical Marranos von Agata Bielik-Robson. Es hat mich durch das Jahr begleitet, viel deutsch-jüdisches Denken (Rosenzweig, Scholem) in englischer translalienation, trotzdem ungeheuer anregend im Nachdenken darüber, wie die Philosophie als gottlose Theologie nihilistisch und messianisch und antinomisch und damit eben vor allem jüdisch über ihre abendländischen Großkonzepte hinauskommen könnte. Im November nahm dann das FBI die Schattenbibliothek hopps (this domain has been seized), ich habe sie aber später im TOR wiedergefunden. Vor dem Gesetz, hinter der Schwelle. Ich war in diesem Jahr in Kutaisi, in Sachsenhausen, mit Cyril Schäublin im anarchistischen Jura 1877 (Unrueh ist mein Film mindestens des Jahres), in der Charité und leider nicht in Mariupol, wohin ich im Sommer fahren wollte, aber es kam ein Krieg dazwischen, der mir (sorry, Jemen) sehr nahe geht.
2021
2021 war für mich ein Jahr, in dem ich nahezu permanent bei Filmfestivals war. In aller Regel online, von Kreuzberg aus. Saarbrücken, Rotterdam, Berlin, Nyon, München, Sheffield, Graz, Toronto, Lissabon, Wien, Cottbus, Mannheim-Heidelberg, Duisburg. Nur bei der Diagonale, der Viennale, beim IFFMH und bei DocLisboa war ich auch vor Ort, das waren Wohltaten in jeder Hinsicht. Ich habe mich aber auch gern von dem Strom der Filme mitnehmen lassen, der mir ins Haus geliefert wurde, vor allem zahlreiche Dokumentarfilme. Die russische Serie Chicks, die ich „in“ Cottbus gesehen habe, war mein persönlicher Höhepunkt, aus vielfachen Gründen, die auch viel mit meinem Blick auf die Geopolitik zu tun haben, und mit einer tiefen Sympathie für die tapferen Zivilgesellschaften in Russland, der Ukraine und in Belarus (und im Sudan, in Chile, in Bulgarien, in Algerien, eine vollständige Liste der Staaten und struggles ist leider sehr lang, führt bis nach Österreich und in das Deutschland von Jens Spahn und dem Cum-Ex-Raushauer Olaf Scholz und zum globalen Räuberkapitalismus). Mein Arbeitszimmer ähnelt zunehmend ein bisschen der „Brücke“ auf der Enterprise: vor mir der Weltraum, als Bildschirm. Die Träume von Zugänglichkeit, die ich als Student in den Lesesälen der Universität Wien angesichts von meterweise Werkausgaben schon kaum ermessen konnte, haben sich exzessiv erfüllt. Die Assoziationen, die sich in meinen eklektischen (heimlich bzw. hier würde ich natürlich trotzdem behaupten: äußerst systematischen, nur halt auf ein paar hundert Lebenszeiten ausgelegten) Beschäftigungen und Arbeiten einstellen, sind priceless (auch das so ein Gegenwartszeichen, oft scheinen mir englische Wörter schon passender als ein entsprechendes deutsches): Ich lese Witiko von Stifter, und schaue Succession, und staune über Kontinuität von Motiven in so unterschiedlichen Kontexten (der Roman ist übrigens nicht im geringsten langweilig, sondern ein Höhepunkt des 19. Jahrhunderts, wenn auch vom Sound her eher Levitikus als Tolkien). Zugleich macht mir diese Position einer Made im Speck der allseits verfügbaren Informationen (dtv-Dünndruck, Perlego, Sky Go, die akademischen Tauschnetzwerke, in denen PDFs zirkulieren, MUBI, Festivalscope, und unsere fabelhafte Filmquelle) auch ein wenig zu schaffen. Ich erlebe sie als historisches Privileg, das ich mit Rezeptionsdisziplin ausbade. Solche Sorgen hätten die meisten Menschen gern. Im Sommer stand ich dann, mir eine bescheidene (Reise-)Freiheit herausnehmend, auf Aegina vor dem Aphaia-Tempel, schaute über das Meer nach Athen hinüber, hatte eine kleine Ahnung davon, was so viele Epochen in Griechenland suchten, und war von meiner Weltempfangshöhle in Kreuzberg sehr weit entfernt. Die Sonne tauchte alles in ein unglaubliches Licht. Sie war aber auch bedrohlich.
2020
Die Durchkreuzung des Hegel-Jahres durch die Mbembe-Debatte hatte Aspekte einer List der Vernunft. Eine passende Pointe dazu war die Leereröffnung des Humboldt-Forums im Dezember. Zugleich erreichte in diesen Wochen mit der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit eine Ableitung der Mbembe-Debatte auch den erweiterten Freundeskreis: ein Weihnachtsritual, ein jährlicher Männerstammtisch mit (niemand weiß mehr so richtig, warum) russischem Essen, fiel nicht nur Corona zum Opfer, sondern auch einem Schisma, in dem Meinungen unversöhnlich und ad hominem persönlich wurden. Meinen Film des Jahres trage ich in diese Konstellationen ein: Zombi Child erzählt davon, wie eine Nachfahrin der Schwarzen Revolution auf Haiti in eine Elite-Institution des revolutionären Frankreich kommt. Bertrand Bonello macht Geschichtspolitik in Form eines Schauerstücks.
Das autoarme Berlin im Mai als Vorschein eines revolutionären Neuanfangs aus dem Geist der Unterbrechung: on arret tout (L’An 01).
Lesen: Kabale. Das Geheimnis des Hebräischen Humanismus im Lichte von Heideggers Denken von Michael Chighel; Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung von Ton Veerkamp; Salambo von Flaubert
Musik: Sault. André-Erneste-Modeste Grétry. Galcher Lustwerk
Kunst: Pawel Althamer (neugerriemschneider)
2019
30. Oktober, halbzwölf Uhr vormittags. Im Österreichischen Filmmuseum ist der Saal nahezu voll. Wir sehen Le quattro giornate di Napoli (Italien 1962, Nanni Loy) im Rahmen der großartigen Retrospektive O partigiano!. Eine Filmerzählung von den vier Tagen im Jahr 1943, in denen das neapolitanische Volk, das es auch bequemer hätte haben können, indem es sich einfach von den bereits nahen Amerikanern befreien hätte lassen, die Nazis mit einem waschechten Volksaufstand vertrieb. Nanni Loy erzählt das im besten Sinn populistisch, er lässt Chaos und Absicht durcheinander laufen, die Darsteller – nur wenige sind Stars – sind schön in dem Sinn, in dem das Kino in seinen besten Momenten auch schwache Helden nobilitiert. Ich bilde mir ein, gespürt zu haben, dass das Publikum in diesen zwei Stunden Teil dieses (und damit des eigenen) historischen Moments wurde - durch «Teilnehmung dem Wunsche» nach, wie das bei Kant heißt.
Nicht nur bei dieser Vorführung habe ich in diesem Jahr das Kino wiederentdeckt. In Berlin auch durch das Privileg, dass die beiden einschlägigen Institutionen, das Arsenal und das Zeughaus, keine Sommerpause machen. So ergab es sich einmal, dass nach der Vorführung des Musicals Die oder keine (Carl Froelich, 1932, ausgesucht und eingeführt von Lukas Förster) im Zeughauskino in dem Programm Das Lied ist nicht aus danach eine Gruppe von fast 30 untereinander allenfalls lose bekannten Leuten gemeinsam ein Lokal aufsuchte. Im Arsenal wurde die 70mm-Reihe zu einem Ritual (KLK an PTX – Die rote Kapelle, Horst E. Brandt, DDR 1971), und auch meine filmhistorische Entdeckung des Jahres habe ich dort gesehen: The Passionate Stranger (GB 1957, Muriel Box).
2018
Im Juli bin ich zum ersten Mal in meinem Leben in Jerusalem. Die Cinematheque, in der das Filmfestival stattfindet, liegt dem Tempelberg gegenüber, dazwischen geht es hinunter in das Hinnomtal, mit dem sich Vorstellungen verbinden, die noch in dem Wort präsent sind, das ich von Hadschi Halef Omar, also von Karl May, gelernt habe: Dschehenna, die Hölle, an die angeblich die Muslime glauben. Zwischen den Filmen mache ich, stunden- oder tageweise, Exkursionen: zu Fuß, mit einem Taxifahrer oder mit einem arabischen Bus, nach Jericho, nach Ramallah, nach Al-Eizariyah (das biblische Bethanien, damals einen Fußweg von der Stadt entfernt, heute hinter der Mauer). Für die zweite Hälfte meines Aufenthalts übersiedle ich aus dem Festivalhotel in ein Hotel in Ost-Jerusalem, mit Blick – nun von der anderen Seite – wiederum auf den Tempelberg. Am Tag vor der Abreise mische ich mich unter die touristisch-religiöse Weltgesellschaftsauswahl, die den «heiligen» Ort am 5. August 2018 besucht. Ich habe zehn Tage lang mit jeder Faser Geschichtlichkeit erlebt: die Zeit der Bibel, den Krisenherd der Gegenwart, meine eigene Geschichte mit dem «jüdisch-christlichen Erbe», und das, was ich daraus gemacht habe – ein Leben mit Filmen und vielen Büchern statt nur einem.
Ich bin spät dran, aber viele meiner Freunde sind noch lange nicht so weit: 2018 verzeichne ich für mich als das Jahr, in dem die sozialen Netzwerke endgültig untragbar wurden. Inzwischen hat auch Twitter die Timelines enteignet, und viele Versuche, sich spezifische Öffentlichkeiten im technischen Zusammenhang der amerikanischen Datenoligopole zu schaffen, sind damit noch stärker an den Rand gerückt. Meine widersprüchliche Reaktion darauf halte ich für bezeichnend: ich bin seit einiger Zeit auf Instagram, und unterlaufe dort die Kirchenspaltung zwischen denen, die konsequent sich selbst in Szene setzen, und den anderen (zu denen die meisten meiner Freunde zählen), die nicht sich selbst, sondern ihr (immer interessantes) Leben zeigen, sich also indirekt in Szene setzen. Ich mache hie und da Selbstporträts, nicht einmal ironisch, meine das aber doch als Protest: auch in einem weltweiten, digitalen, geteilten Fotoalbum steckt etwas Großartiges, das halt leider wieder Facebook gehört. Dagegen zeige ich Gesicht. Irgendwann wird sich der mehrfach gewendete Widersinn in die richtige Richtung drehen. Oder auch nicht.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland lief alles großartig für Putin. Er ließ sich von seinem ordinären Schackl Medvedev bei den Spielen vertreten, und machte wie gewohnt auf einsamer Verantwortungsträger im Kreml. Bei der Siegerehrung nach dem Finale goss es dann ein paar Minuten heftig, Schirme wurden nicht gleich gefunden, ein Beflissener hatte aber schon einen, und spannte ihn über Putin auf. Macron, die kroatische Präsidentin und der widerliche FIFA-Präsident Infantino standen im Regen. Der kleine diplomatische Fauxpas war für mich das Symbolbild des Jahres: der Regen wird stärker, plötzlicher, unbeherrschbarer (auch ausbleibender), die Schirme werden weniger, sauve qui peut den Despoten, von dem er sich einen Schutzzauber erhofft.
Mein Film des Jahres: Unas Preguntas von Kristina Konrad, im Forum der Berlinale noch übersehen, bei der Dokumentarfilmwoche in Duisburg passte es dann
Mein Buch des Jahres: Beziehungsweise Revolution von Bini Adamczak
Serie: The Crown (Qualitätsfernsehen zum Beginn und vom Ende des Fernsehens)
2017
Im März sehe ich im Arsenal die lange Fassung von Michael Ciminos Heaven’s Gate. Wie nie zuvor habe ich den Eindruck, dass die 35mm-Kopie ein Individuum ist, viel mehr als nur ein Datenträger, sondern eine Art lebender Membran zwischen analogen Aufnahme- und digitalen Aufbereitungstechniken. Vor allem die Szenen von der Ankunft auf dem Bahnhof in Montana sind mit ihrer Tonmischung und ihren Zooms ein herausragendes Erlebnis von Kino in einem fast schon archäologischen Sinn.
Im August besuche ich zum ersten Mal das Filmfestival in Sarajewo. Schon die Anreise, von Wien nach Zagreb mit dem Bus und dann mit einer Mitfahrgelegenheit (einer der Mitfahrer erweist sich als Protagonist eines Dokumentarfilms auf dem Festival) am nächsten Tag über die Save nach Bosnien ist ein Abenteuer. Im Gepäck habe ich Ivo Andrics Roman Wesire und Konsuln, über die Grenzregion zwischen Orient (Osmanisches Reich) und Okzident (napoleonische Aufmarschzone) zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ich mache schließlich sogar noch eine Fahrt nach Travnik, das Provinznest, in dem der Roman spielt. Die mannigfachen Gegenwarten des südosteuropäischen Kinos, die Lektüre, die Ortsbesichtigung – hier kommt wieder einmal alles zusammen, was mein Leben und Arbeiten als «Filmkritiker» für mich ausmacht.
Im Oktober werde ich für drei Tage nach Aserbaidschan eingeladen. Veit Helmer dreht dort einen Film. Unter den Komparsen treffe ich die halbe künstlerische Opposition aus der postsowjetischen Autokratie, in der ein halbfertiger Trump-Tower für die vielen Bündnisse zwischen abgezweigtem Zweit- und Drittweltgeld und westlichem (symbolischem) Kapital (herum-)steht. Der Rückweg geht über Istanbul. Auf dem Flug von Baku in einer nagelneuen Boeing 787 der Staatslinie blicke ich in die glitzernden Phones einer neuen globalen Mittelschicht und begreife dabei konkret eine veränderte Geopolitik: Europa als aufgeklärte Öffentlichkeit wird zu einem Randphänomen.
2016
Eine Runde mit Ulrike Ottinger, Renate Schlesier, Sissi Tax e.a. in einem kroatischen Fischlokal im Tiergarten nach einer Vorführung von Chamissos Schatten in der Akademie am Hanseatenweg. Berlin ist an diesem Abend eine Stadt der Frauen. Der Film ist selbst meinen verwegensten Reiseträumen um Elementardimensionen voraus. Zur Wrangelinsel werde ich wohl nie gelangen. Aber ganz will ich den Gedanken nicht aufgeben.
Bei der Diagonale in Graz sehe ich im März Die papierene Brücke von Ruth Beckermann wieder. Erst jetzt erschließt sich mir dieser große Film über ein jüdisches (Ost-)Europa so richtig. Die Beschäftigung mit dem Werk der österreichischen Filmemacherin und Autorin begleitet mich durch das ganze Jahr. Die Szene aus dem Collagefilm Those Who Go Those Who Stay, in der Beckermann auf einer Autofahrt in Israel mit dem Kameramann Peter Roehsler über den Teufel nicht im Detail, sondern in den großen Bögen der Geschichte wahrblödelt, wird mein Mantra für dieses Jahr der Unvernunft.
Jedes Jahr fliege ich viele Meilen zum Filmfestival nach Toronto, aber den besten Film des diesjährigen TIFF habe ich gesehen, als ich schon wieder daheim war, in einem Stream auf Festivalscope: Fixeur von Adrian Sitaru, eine Geschichte über den innereuropäischen Kolonialismus, in der einmal mehr Prostitution als die große Klammer in den Machtbeziehungen dient.
2015
Das Lied Both Sides Now, geschrieben von Joni Mitchell, interpretiert von Judy Collins. Das Buch Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens von David Nirenberg. Das Sun Cinema von Clemens von Wedemeyer in Mardin in der südöstlichen Türkei.
2014
Im Oktober bin ich für ein paar Tage in Kyiv. Eines Abends gehe ich in die Oper. Ich möchte wissen, wie sich das anfühlt, eine Vorstellung in der Nationalen Oper der Ukraine. Vor der Kasse spricht mich ein Mann an: Er kann mir eine gute Karte besorgen, dreißig Prozent unter dem regulären Preis. Ich lasse mich darauf ein, weil ich wissen will, wie die Sache weitergeht. Er bringt mich zum Eingang, der Türsteher übernimmt, die Verkäuferin der Programmhefte bringt mich zu einem Logenplatz. Die Person an der Kasse muss auch eingeweiht gewesen sein, denn anders war ja nicht zu gewährleisten, dass nicht doch jemand meinen Platz reklamieren würde. Ein kleines Beispiel dafür, wie Geld den regulären Kreisläufen entzogen wird. Ist das schon Korruption? Der Aufstand auf dem Maidan hatte eine Parole (jedenfalls, wenn ich Sergej Loznitzas Film darüber folge): Weg mit dem Pack. Das Pack, das war vor allem die Janukowitsch-Entourage, die das Land systematisch enteignet hat. Das Ergebnis des Aufstandes ist, dass die Ukraine jetzt durch den IWF in Kredithaft genommen wird, um Schulden zu bezahlen, deren Gegenwert längst auf Geheimkonten liegt. Die Aktivisten des Maidan, zu denen auch junge Leute von Dovshenko Institut gehören, mit denen ich lange spreche, mögen Losnitzas Film nicht. Sie sind unbeirrt der Meinung, der Regierung die Bedingungen für eine gerechtere, offenere Gesellschaft diktieren zu können. Österreich, das Land, als dessen Bürger ich durch meinen Reisepass ausgewiesen bin, hat Putin in diesem Jahr den roten Teppich ausgerollt. Ich habe ich geschämt.
Nach der Pressevorführung von Christian Petzolds Phoenix sitzen wir in einem Cafe. Eine Männerrunde. Wir tauschen Argumente aus, Möglichkeiten, sich zu diesem Film zu verhalten. Ich bin beeindruckt, war aber beim Sehen nicht konzentriert genug, um die Konstruktion mit Sicherheit als gelungen betrachten zu können. Vier Tage später, nach einer ungleich trivialeren Pressevorführung, erreicht uns die Nachricht von Harun Farockis Tod. Ein paar Wochen später bin ich in Toronto, sehe dort Phoenix zum zweiten Mal, in der offiziellen Weltpremiere. Nun geht alles auf, ich sehe jedes Detail, begreife den Wagemut und die Klugheit der Konstruktion – ein Mann, der mit Blindheit geschlagen ist, eine Frau, die sich nicht auf eine Opferrolle festlegen lassen will, davor aber in Wiederholungszwänge flüchtet. Dass ein Film sich so deutlich als Konstruktion ausweist, leuchtet vielen nicht ein (es erscheinen auch ein paar richtig peinliche Texte zu Phoenix), mich aber überzeugt gerade das: Intelligenz, Form, Erzählung.
Im November bin ich in Wien, um ein Gespräch mit Jacques Rancière zu moderieren. Während ich mich darauf vorbereite, wird mir wieder klar, warum ich mit seinen Texten so viel mehr anfangen kann als mit denen vieler anderer (Mode-)Philosophen. Es hat damit zu tun, dass er eher Operationen anbietet als Aussagen. Ich lese Rancière ein wenig wie Luhmann, mir kommt auch vor, dass ihr jeweiliges zentrales Manöver recht ähnlich ist, wenngleich mit einem gegensätzlichen Interesse. Beide Interessen kann ich teilen. Das Gespräch findet im Österreichischen Filmmuseum statt, dessen Direktor Alexander Horwath einer meiner besten Freunde ist, und der meinen Blick auf das Kino vor allem in den neunziger Jahren, als ich noch in Wien lebte, geprägt hat wie niemand anderer. Seine Freude über den gelungenen Abend teile ich auch.
2013
«Im Ernst, wofür ich fast alles geben würde, aufrichtig gesagt, wäre zu verstehen, wie es mein Kopf manchmal schafft, so herumzuspringen, wie er es tut.» Der explodierende Cartesianismus von Brian Marksons Roman Wittgensteins Mätresse als Fluchtpunkt aller Selbstreflexivität. Übersetzt von Sissi Tax, mit der ich einmal, das war noch 2012, nach einem Film im Arsenal im Lutter & Wegner im Sony Center über Möglichkeiten der Übersetzung eines Wortes sprach, an das ich mich nicht mehr erinnern kann.
Auf einer kleinen Fahrt durch England im Frühling ging die Festplatte meines Laptops kaputt. Ich ging noch am selben Tag in Windermere in einen Laden und kaufte mir einen Tablet-Rechner im Taschenbuchformat. Damit endete für mich das Zeitalter der Printmedien. Ich lese seither fast alle Zeitungen in digitaler Form, und verspüre keinerlei Phantomschmerz. Im November verlor ich das Tablet, musste ein neues kaufen, bei der Einrichtung war ich schon wieder ein paar Monate vorsichtiger als im Mai. Ich habe inzwischen sieben Email-Adressen. Datensparsamkeit, Informationsfülle, Fingerabdrücke.
Alexei Germans Zwanzig Tage ohne Krieg (1976): ein Heimaturlaub in Taschkent kurz vor der Entscheidung in Stalingrad, eine Meditation über Kriegsanstrengungen, im Grunde über das invididuelle Leben angesichts der Geschichte. Ein herausragendes Dokument davon, was das Kino im 20. Jahrhundert war.
2012
Clemens Meyers Text In den Strömen (aus dem Band Gewalten) habe ich zu einer Zeit gelesen, als mich Holy Motors von Leos Carax gerade sehr beschäftigte. Ich habe in der literarischen Beschreibung einer Flussfahrt in Lepizig wie in dem Episodenfilm etwas wahrgenommen, was tief in die Rätsel der Referenz führt: ein Erzählen ohne Bezugsgrund, Fiktionalität im leeren Raum, oder genauer, in einem unterbestimmten Raum, im dem mich außer dem konkreten Werk, mit dem ich es gerade zu tun habe, nichts hält.
Das Filmfestival in Toronto (TIFF) ist kommerziell bis ins Mark, und doch habe ich in diesem Jahr in den knapp zehn Tagen dort auf eine unvermutete Weise das Kino wiederentdeckt, jenseits der Schwelle vom Analogen zum Digitalen: die äußerst licht- und datenstarken Projektionen ergaben mit der Zeit einen Effekt, der über die einzelnen Vorstellungen hinausging und mich, ich bilde mir das nicht ein, körperlich veränderte. Fast bin ich versucht, von einer Kur zu sprechen, von Bädern in einer Anstalt, die alle meine Fakultäten auf das Intensivste beanspruchte und stimulierte. Eine Apparaterfahrung, die in neuen Filmen von Omirbajew, Kiarostami, Bahrani kulminierte.
Bei meiner Fahrt zum EM-Spiel zwischen Deutschland und Portugal in Lwiw musste ich auf dem letzten Streckenteil improvisieren. So ergab es sich, dass ich die Grenze zwischen Polen und Ukraine in einem ukrainischen Taxi und in Gesellschaft zweier junger deutscher Fans überquerte und zum ersten Mal auf das Territorium der ehemaligen Sowjetunion kam. Die gut 100 Kilometer, die wir dann auf neu ausgebauter Straße in das ehemalige Lemberg fuhren, waren großartig: der große Himmel, das mächtige Gewitter, die im Vergleich zu Polen merkbar veränderte Kulturlandschaft, die notdürftige Verständigung mit dem Fahrer, der schließlich sichtlich stolz war, uns sicher ans Ziel gebracht zu haben - all das steht par excellence für das, was ich auf Reisen suche.
2011
Am Ben Ash Monument kurz vor Mud Butte in South Dakota wäre ich auf meinem Western Road Trip im September beinahe vorbeigefahren. Dann stieg ich aber doch auf die Bremse und fuhr ein paar Meter zurück, um nachzusehen, worum es sich dabei handelt: Einen Gedenkstein für die «Trail Blazers» Ben Ash, S.C. Dodge, Russ Marsh, Ed Donahue und Stimmy Stimson, die von diesem Punkt in der Landschaft aus am 26. Dezember 1875 auf ihrem Treck von Bismarck, North Dakota, nach Deadwood erstmals die Black Hills am westlichen Horizont ausmachen konnten. Mein Versuch, sie mit dem Zoom meiner Laienkamera ein wenig näher heranzuholen, war dann deutlichster (und technischer) Ausdruck des großen Abstands zur Welt der Pioniere, den ich auf meiner Fahrt durch das «Indian Territory» natürlich nicht aufholen, wohl aber äußerst intensiv «genießen» konnte.
Auf verschiedenen Nebenwegen bin ich im vergangenen Jahr zur Psychoanalyse «zurückgekehrt». Die Brautbriefe zwischen Freud und Martha Bernays sind in mehrfacher Hinsicht großartig, sie zeigen einen ganz anderen Mann als den versteinerten Wissenschaftsstrategen, den David Cronenberg uns vorführte. Dass der eifersüchtige und ungeduldige Verlobte neben der unentwegten Um- und Feinschrift gerade niedergelegter Liebesschwüre (und Affektbeobachtungen) schon zu einer Selbstanalyse ansetzte, nehme ich für mich (Abwehr hin oder her) als Lizenz zu einer fortgesetzten Umgehung des klassischen analytischen Settings: Ich bin auch weiterhin «in treatment» bei Texten, zum Beispiel bei der Theorie des menschlichen Unglücks von Judith Le Soldat oder bei der Psychotheologie des Alltagslebens von Eric L. Santner.
Der verkabelte Torso, auf den Source Code von Duncan Jones zulief, ist mein Filmbild des Jahres: Wie hier Trash-Neurowissenschaft und Perspektiven-Suspense zusammenfanden, wie Anish Kapoors Cloud Gate in Chicago den Riss zwischen Alltag und Ausnahmezustand biomorph werden ließ, vor allem aber, wie sich hier die Strategien des Kriegs gegen den Terror phantasmatisch auf Amerika zurückprojiziert finden, wie der zerfetzte Soldatenkörper zum letzten Gegenstand für «enhanced interrogation techniques» wird, das alles nehme ich als wirksames Gegenbild zu der Doxa, mit der Beseitigung von Osama bin Laden sei ein Geschichtskapitel abgeschlossen worden.
2010
Drei Pilgerfahrten
1 Drei Tage in Rom im Mai. Hotel im Viertel Monti; im Stadio Olimpico ein absurdes Fußballspiel zwischen Lazio Rom und Inter Mailand, das die Heimmannschaft herschenkt, um dem Lokalrivalen vom AS Rom nicht in die Karten zu spielen; schließlich der Besuch bei Marco Bellocchio, das eigentliche Ziel dieser Reise. Bellocchios Energie (Jetlag-Medikamente?), Bellocchios Hund, die Bar, in der Bellocchio Kaffee trinkt.
2 Fünf Tage mit dem Zug durch Polen im August, an einem Sonntag komme ich nach Tschenstochau, in einen katholischen Wallfahrtsort, der, bevor Deutschland Papst wurde, Weltgeltung hatte. Mit dem neuen Fotoapparat zoome ich von ganz draußen über die Menge der Gläubigen hinweg direkt auf das heilige Bild der Madonna.
3 Ein langes Wochenende in London im Oktober gibt mir die Gelegenheit, zum ersten Mal den FC Arsenal im Stadion The Emirates zu sehen. Vor diesem Höhepunkt mache ich technisch alles falsch: Ich vergesse, die Batterien der Kamera zu laden (sie geben den Geist auf, kaum dass ich drinnen bin), das Telefon hat einen neuen Code, den ich zweimal falsch eintippe, nun kann ich auch damit keine Bilder mehr machen. In mein biographisches Sparschwein der Subjektivität (Diedrich Diederichsen) kommen also nur Sinneseindrücke.
2009
27.1. Andruck des ersten CARGO-Hefts, die Druckerei hat am Vortag Konkurs angemeldet. Die Autobahnfahrt nach Wittingen, der Bahnhof der niedersächsischen Kleinstadt: Ökonomie und Unabhängigkeit.
28.3. Zugfahrt von Bukarest ans Schwarze Meer, in die Gegend, in der Ovid im Exil war; am Abend spielt Rumänien in Constanta gegen Serbien, ich bin im Stadion genau zwischen den Fanblöcken
20.5. Max Hopps Prometheus in der Agora der Berliner Volksbühne, wenige Tage nach Beendigung der Lektüre von Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos
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