Für die Erde zu schwer

Lektürehinweis: "Wesire und Konsuln" (1945) von Ivo Andric

In diesem Sommer war ich, des Filmfestivals wegen, zum ersten Mal in Sarajewo. Im Gepäck hatte ich ein naheliegendes Buch: Wesire und Konsuln von Ivo Andric, einen 1942 abgeschlossenen Roman, der Originaltitel lautet ganz einfach Travniker Chronik, nach der Stadt, in der Andric geboren wurde, und die in ihrer ganzen Vielfalt und mit ihrem schwierigen Lokalklima der eigentliche Protagonist ist. Travnik liegt von Sarajewo aus gut 100 Kilometer nordwestlich in einem engen Tal mit unterschiedlich steil ansteigenden Hängen auf beiden Seiten, das Andric in einer schönen Wendung mit einem „halb aufgeschlagenen Buch“ vergleicht.

Sein Roman macht dieses Tal lesbar, und damit ein Land, das schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Grenzland war: Damals war es ein Teil des Osmanischen Reichs, sodass die beiden Konsuln, der eine aus Frankreich, der andere aus Österreich, zu Außenposten in einem Land werden, für das Andric auch einmal das Beiwort „barbarisch“ verwendet. Dabei bleibt aber charakteristisch unklar, ob das seine eigene Sichtweise ist, oder ob er sich da einfach in seine zentrale Figur, in den französischen Konsul Daville, hineindenkt, der mit Bosnien, wie man so treffend und auch buchstäblich sagen könnte, nie warm wird. (Die Beschreibung der Erfahrungen mit Wetter und Jahreszeiten in einer wohnklimatisch deutlich vormodernen Welt gehören für mich zum Stärksten an diesem Buch.)

Daville vertritt das Frankreich der Französischen Revolution und das, in dem der „für die Erde zu schwere“, zeitweilig ja auch als Konsul titulierte „Bunaparte“ das Kommando übernommen hat, in einer Gegend am Rand eines Imperiums, in dem gerade im fernen Stambul ein Aufklärer (Selim III) scheitert. Die Haupt- und Staats- und Kriegsaktionen kriegt der Travniker Mikrokosmos immer nur sehr vermittelt mit. Andric erzählt Weltgeschichte vom Rande her, aus der Perspektive von Daville, seinen wechselnden österreichischen Gegenspielern und den insgesamt drei Wesiren, die in den gut acht Jahren der erzählten Zeit von der Hohen Pforte nach Travnik entsandt werden.

Dazu gibt es jede Menge markanter Figuren in einem Roman, der das realistische Erzählen ganz natürlich wirken lässt - und dabei doch der aufmerksamen Lektüre jede Menge feiner Signale hinsichtlich des Konstruktionscharakters des Texts gibt. Schon die Anordnung der Figuren hat etwas von einem Panorama: Daville steht im Mittelpunkt und zugleich, weil ihm das die Landschaft so zuweist, am Rande, denn Andric schildert ihn immer wieder am Fenster stehend und die Vorgänge und Lichtpunkte „gegenüber“ ausspähend.

Daville vertritt das revolutionäre Frankreich als gebrochene Figur, als einer, der selbst gar nichts von der napoleonischen Tatkraft hat, und der vor allem von seinem wissbegierigen und kulturell offenen Vizekonsul Des Fossés immer wieder auf seine Schwäche verwiesen wird (Des Fossés wie auch die anderen zentralen Figuren hat Andric auf Grundlage zeitgenössisscher Dokumente konzipiert). Großartig ist nicht zuletzt der Österreicher Paulich, der auf den Konsul Mitterer folgt, und der mit seiner technokratischen Akkuratesse das ganze Gegenteil des empfindsamen Melancholikers Daville ist.

Der engagierte Jugoslawe und Diplomat Andric schrieb Wesire und Konsuln nach dem Angriff Deutschlands auf Jugoslawien in einer Art inneren Emigration - den ebenfalls damals entstandenen Klassiker Die Brücke über die Drina muss ich nun klarerweise auch noch lesen. Aus heutiger Sicht sind einige kulturelle Einordnungen in Wesire und Konsuln sicher zu hinterfragen: die Levante und „der Orient“ (wenn er so pauschal genannt wird) sind eher negativ konnotiert (im Orient lauern hinter allem „wie eine ständige Drohung Misstrauen, Misserfolge und Entbehrungen“, um nur eine markante Formulierung zu nennen; an einer Stelle fällt auch das Wort "Gift", der Orient zehrt die Menschen aus).

Aber in Travnik selbst ist die südosteuropäische Welt in ihrer ganzen Vielfalt präsent, und Andric setzt die Welten immer wieder meisterlich zueinander in Beziehung - zum Beispiel in einem Kapitel, in dem er die verschiedenen Ärzte der Stadt durchgeht. Die letzte große Äußerung im Buch schreibt er interessanterweise einem Juden zu. Dieser (innere) Monolog, den Andric - wiederum brillant - als einen ausweist, zu dem der Sprecher selber gar nicht in der Lage ist, den er also für diesen aus ihm herausholt, gibt Daville für die Rückkehr nach Frankreich einen Auftrag mit: „Seien Sie unser Zeuge im Abendland“.

Gemeint ist damit das sephardische, nach Osten versprengte Judentum, das in dieser historischen Verschiebung einer katastrophalen Gegenwart des Zweiten Weltkriegs auf die Vorgeschichte des langen 19. Jahrhunderts nur in Ansätzen auf das Schicksal des osteuropäischen Judentums hindeuten kann. (Karl-Markus Gauß geht in seinem knappen Nachwort nicht darauf ein, was Andric von der Shoah gewusst haben könnte, da muss ich also auch noch weiterlesen.)

Daville flüchtet am Ende unter den Schutz von Talleyrand, und findet einen optimistischen Schluss, der wohl ebenso sehr von 1945 spricht wie von 1814: „Er wusste selbst nicht, wie, wann und wo, aber irgendwann würden seine Kinder, Kindeskinder oder noch spätere Nachkommen diesen Weg finden.“ Ich interpretiere wohl nicht über, wenn ich unter diesem Weg eine Politik verstehe, in der die universale Gleichfreiheit der Französischen Revolution anders an die Grenzen Europas und darüber hinaus getragen wird, als es Bunaparte versucht hat, der besser in Travnik ein Gipfeltreffen mit Selim III abgehalten hätte.

Ivo Andric, Wesire und Konsuln (1945), Zsolnay Verlag

Bei meinem bevorzugten Onlinebuchhändler Osiander

Eine kleine Fotoreportage von meiner Ortsbesichtigung in Travnik

 

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