Volk auf dem Weg

Lektüre: "Selbstbefragung" (1989) von Hedda Zinner

Im Juni 2024 hatte ich die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Zum Abschied standen wir noch eine Weile in ihrer Bibliothek und unterhielten uns über den einen oder anderen Titel. Um ihre Großmutter Hedda Zinner war es schon im Interview gegangen, nun zeigte sie mir das eine Buch von ihr, das ich, wenn, dann zuerst lesen sollte: Selbstbefragung aus dem Jahr 1989. Eine Erinnerung an die Jahre in der Sowjetunion von 1935 bis 1945, im Exil mit ihrem Mann Fritz Erpenbeck. Eine Auseinandersetzung mit einem Lebenskapitel in der Hauptstadt der Weltrevolution, in einem Land, in dem „eine menschliche Tat von gewaltiger Größe“ sich vollzog. „Wir kamen mit kaum beschreibbaren Illusionen in das Land Lenins.“ Man war nun Teil von einem „Volk auf dem Weg“. Es waren auch die Jahre des Großen Terrors, daraus resultieren Fragen: was wusste Hedda Zinner damals davon, zu welcher Einschätzung kam sie damals? Und später? Selbstbefragung ist ein Text, dessen genaue Genese nicht offen gelegt wird. Um ein zeitgenössisches Tagebuch im engeren Sinn handelt es sich nicht, gleichwohl herrscht eine Anmutung von Unmittelbarkeit, spätere Reflexionen tauchen kaum einmal auf, schon gar nicht ist das eine durchgearbeitete Reflexion, auf das Jahr 1989 als Veröffentlichungsdatum verweist im übrigen so gut wie nichts.

Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner zählten damals zu der großen europäischen Exilsgemeinde in der Sowjetunion. Aus der Tschechoslowakei gingen die 1935 nach Moskau. Stalin ist damals unumstritten, er war „der, der aus dem Volk kommt“. Auch dann noch, als schon unabweisbar ist, dass sich etwas Verstörendes vollzieht, sind Rationalisierungen die erste Zuflucht: „Irgendeinen Grund wird man schon gehabt haben.“ Und vielleicht geschehen die Verhaftungen ja ohne Wissen Stalins? Die Atmosphäre wird aus einem Detail besonders deutlich: „Abends, wenn der Fahrstuhl ging, stockte plötzlich das interessanteste Gespräch, alle horchten, wo der Fahrstuhl stehenblieb. Dann erst gingen die Gespräche weiter.“

Der Krieg und vor allem der Angriff auf die Sowjetunion 1941 ließ manche Zweifel an Stalin, vor allem nach dem Hitler-Stalin-Pakt, dann wieder in den Hintergrund treten. Zinner schildert eindringlich vor allem die Evakuierung nach Ufa, also weit in den Osten, noch hinter Kazan. In dieser extremen Situation kam ihr Sohn John zur Welt, der Vater von Jenny Erpenbeck. Das erste Kind der Komintern! Wohnverhältnisse spielen eine große Rolle in dem Buch, überall herrscht Wohnungsnot, in Ufa müssen ein paar Decken und drumherum aufgestellte Koffer einen persönlichen Bereich in einem Massenquartier definieren. Dazu kommt die Kälte im Winter.

Das Schicksal einer jungen Frau, von der Zinner erzählt, will ich ausführlich zitieren, denn auf zwei Seiten wird da sehr viel erkennbar aus einem Leben, das sonst vermutlich nirgends überliefert ist, ein zufälliges Schicksal, das für eine Weile mit dem Leben einer deutschen Reporterin zusammentraf: „Olla war ein junges Mädchen, das bei einer französischen Familie in der Gemeinschaftswohnung arbeitete. Bei jemandem privat zu arbeiten, das gab es in der Sowjetunion nur noch selten. Wenn jemand sich eine Haushaltshilfe leisten konnte, wo sollte er sie unterbringen? Die Französin hatte für Olla keine Unterbringungsmöglichkeit, aber es war ihr gelungen, bei einer alten Frau eine Schlafstelle für Olla zu mieten. Die alte Frau wohnte in einem kleinen Holzhäuschen im Hof, einem der typischen Holzhäuser, wie wir sie von der Datsche her kannten und wie es sie früher in Moskau überall gab. Sie waren meist primitiv, Wasser vom Brunnen, Toilette – das Wort wirkt hier grotesk – draußen und in nicht sehr gutem Zustand. In so einem Häuschen hatte die alte Frau ein Zimmer, und in diesem Zimmer vermietete sie ein Bett. Sie selbst schlief auf dem, was vielleicht einmal ein Sofa war. Wenn Olla rechtzeitig nach Hause kam, konnte sie im Bett schlafen, kam sie zu spät, wenn sie beispielsweise im Kino war – und sie ging oft ins Kino –, ließ die alte Frau sie nicht mehr herein. Dann schlief Olla im Korridor unserer Gemeinschaftswohnung auf einer alten Truhe, die da stand, oder in einer der beiden Badewannen. Ohne Bettzeug, ohne Decke. ... Wie das junge Mädchen das aushielt, weiß ich nicht, aber es war morgens fröhlich, sang, und man sah ihm keinerlei Übermüdung an. Ollas Schicksal war typisch für die Zeit. Sie muß aus der Ukraine gewesen sein, woher, war ihr nicht bekannt. Als das Dorf brannte, es war in der Zeit der Interventionskämpfe, und die Eltern bei diesem Brand umkamen, nahmen fremde Leute das Kind mit. Die Fremden gaben sie weiter an andere Fremde und die wieder an andere, wie oft, wußte Olla selbst nicht. Mit zwölf Jahren schloß sie sich einer Gruppe verwahrloster Kinder an. Es war eine nicht ungefährliche Bande, aber die Kinder waren gut zu ihr. Sie haben ihr von dem, was sie erbeuteten, zu essen. Aber das Leben bei den Verwahrlosten gefiel Olla nicht, besonders nicht die ständige Angst, aufgegriffen und in ein Heim eingeliefert zu werden. Mit dreizehn Jahren begann sie bei einer Bäuerin in einem Datschenvorort von Moskau zu arbeiten. Die Arbeit war schwer, sie schlief in einen Verschlag beim Stall, aber sie bekam reichlich zu essen und jeden Monat ein paar Rubel, für die sie sich in der Stadt etwas kaufen konnte. Die Bäuerin vermietete, wie fast alle Ortsansässigen, ihr Haus in den Sommermonaten an Sommergäste. 1933 mietet das französische Ehepaar die Datsche. ... Olla war Analphabetin, sie hatte noch nie eine Schule besucht und konnte nur mit Mühe ihren Namen schreiben.“

Das Leben in der Sowjetunion war damals oft extrem prekär, es gab aber eben auch diese große, alltägliche Solidarität, die bei Hedda Zinner immer wieder deutlich wird, in der Exilsgemeinde vermutlich noch ausgeprägter, da man ja um das wechselseitige Schicksal wusste. Man war an einem internationalen Kampf gegen den Faschismus beteiligt, man war aber auch Beschlüssen ausgeliefert, die von irgendwoher kamen. Irgendwann hieß es dann auch für Hedda Zinner: Zurück nach Deutschland. Wilhelm Pieck rief bei ihr persönlich an. Fritz Erpenbeck war schon mit der ersten Gruppe heimgekehrt, in die spätere DDR. Mit ihren vielen Opfern war die Sowjetunion unter Stalin damals eine Friedenmacht in Waffen. Der Frieden veränderte bald seinen Aggregatzustand, aber das heutige freie Deutschland gäbe es so nicht, wenn nicht damals der notwendige Kampf geführt worden wäre.

Ganz löst Hedda Zinner den Titel ihres Buches nicht ein. Eine Selbstbefragung enthält es nur in kursorischer Form. Es überwiegt ein Tonfall unbefangenen Erzählens, eine Gegenwärtigkeit in den Ereignissen und Verhältnissen, die ja auch andauernde Adaption erforderlich machten. Zu einer Einschätzung des Großen Terrors und des Hitler-Stalin-Pakts lese ich Karl Schlögel, Bini Adamczak oder Victor Serge. Das Buch von Hedda Zinner ist als Zeitzeugnis sehr lesenswert. Es hätte noch belangvoller sein können, wenn es deutlicher aus dem Jahr 1989 auf das Jahr 1939 zurückgeschaut hätte. Der welthistorische Moment, in dem diese Selbstbefragung erschien, aber bleibt vage. „Ungeduldig erwarteten wir die Lösung aller Menschheitsprobleme, die Erlösung von allem Übel nach der – wahrhaft großen – Oktoberrevolution, nach dem Völkersieg über den Faschismus. Die große Ungeduld, vom langsamen, schweren Schritt der Geschichte mitleidlos in den Staub der Illusionen und Lebenslügen getreten ...“ Als sie diesen Satz schrieb, vermutlich 1988, hatte die Geschichte die nächste große Überraschung schon parat. Sie betraf die DDR und deren Protektionsmacht, die Sowjetunion. Sie betraf uns alle, und beschäftigt uns alle immer noch.

"Selbstbefragung" von Hedda Zinner ist 1989 im Verlag der Morgen in Ost-Berlin erschienen

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