Die Sprache der Zukunft

Über den Film «Die Amitié» von Ute Holl und Peter Ott

Von der sizilianischen Stadt Trapani bis nach Lübeck im Norden Deutschlands sind es knapp 1800 Kilometer Luftlinie. Die Strecke ist einer von vielen denkbaren Vektoren, auf denen man die Gegebenheiten im heutigen Europa eintragen kann. Zum Beispiel die Landwirtschaft. Ein Betrieb in Lübeck, der Biotomaten produziert, bekam seine Arbeitskräfte lange Zeit aus Polen. Während der Pandemie zerschlug sich diese Tradition. Nun kommt ein junger Mann namens Dieudonné aus dem afrikanischen Staat Cote d’Ivoire nach Deutschland, um hier Tomaten zu ernten. Sizilien war nur eine Zwischenstation für ihn gewesen. Die Umstände seines Ortswechsels verweisen auf die Pointe des Films Die Amitié: es sieht zwar alles nach den geläufigen Formen von Ausbeutung und Menschenschleuserei aus, doch bei genauerem Hinsehen hat es mit Dieudonnés Migration eine andere Bewandtnis. Er gehört zu einem offenen, klandestinen Netzwerk, das auf der Idee von Freundschaft beruht. Freundschaft nicht in einem engeren, privaten Sinn. Freundschaft eher in einem Sinn, der an den Begriff der Solidarität denken lässt. Solidarität unter den Bedingungen einer technologisch verknüpften Weltgesellschaft. Freundschaft als Ermächtigung: „Was einer oder eine kann, das werden alle können. Das ist die Macht der Amitié.“

Ute Holl und Peter Ott müssen für ihre Utopie nicht ausbuchstabieren, wie das technisch genau gehen soll, was sie entwerfen. Es reicht, wenn man mit den geläufigen Funktionen eines Smartphones vertraut ist, wenn man weiß, wie Menschen mit einem kleinen Bildschirm interagieren, und wie eine VR-Brille aussieht – in diesem Fall ein Modell, das besonders low tech ist, wie auch die Benutzeroberflächen deutlich auf große Zugänglichkeit ausgerichtet sind. Wichtig ist der Kern der Idee: im Inneren der Infrastrukturen, die der Plattform-Kapitalismus errichtet hat, können sich die Menschen selbst organisieren. An einer Stelle des Films ist ein Mann zu sehen, der an einer Kunsthochschule ästhetische Theorie unterrichtet. Er liest mit den Studierenden einen berühmten Aufsatz der postkolonialen Theorie: Can the subaltern speak? von Gayatri Chakravorty Spivak. Die Amitié ist eine solche Sprache der Subalternen, ein Medium, das über sich hinauswächst, das seine technologischen Bedingungen transzendiert, weil es von Menschen getragen wird, die gemeinsam klüger und weiter sind als allein.

Die Landwirtschaft ist einer der Zusammenhänge, die in und von der Amitié unterwandert werden. Die Pflege ist ein anderer. Als Dieudonné in Lübeck ankommt, sitzt er im Bus neben einer jungen Frau, die wie er ein Buch in der Hand hält. Ihres ist in polnischer Sprache und heißt Gott segne dich, Afrika. Seines ist ein weiterer Klassiker der Theorie: Schwarze Haut, weiße Masken von Frantz Fanon in einer französischen Ausgabe. Die junge Frau heißt Agnieszka, sie kommt aus Wroclaw, um in Lübeck die Betreuung von Siegfried zu übernehmen, eines dementiell erkrankten Mannes. Sein Sohn Carsten hat sie engagiert, weil er zu einer Rundumbetreuung seines Vaters nicht in der Lage ist. Er muss auch regelmäßig nach Stuttgart, wo er an einer Hochschule arbeitet. Carsten ist der Professor, der den Aufsatz über die Subalternen auf die Leseliste gesetzt hat.

Peter Ott spielt hier auf seine eigene Position im Kunstbetrieb an. Er hat in Hamburg an der HFBK studiert, und hat nun eine Professur für Film und Video an der Merz Akademie in Stuttgart. Er ist also für eine Praxis zuständig, das heißt in seinem Fall aber auf jeden Fall: für eine theoretisch informierte Praxis. Zu der theoretischen Information trägt auch Ute Holl bei, die als Medienwissenschaftlerin an der Universität Basel arbeitet. Die Amitié skizziert einen Versuch, aus einem perfiden System so auszusteigen, dass der Ausstieg nicht sofort erkennbar wird. „Perfide“ ist ein System der Ausbeutung von Menschen mit prekärem Status in einer intensiven Landwirtschaft, wie sie in Süditalien oder Spanien besonders stark betrieben wird. Dieudonné kommt aus diesem System, aber auf dem Betrieb in Deutschland verändert er, obwohl er weniger verdient, als ihm versprochen wurde, sukzessive die Bedingungen. Bald sitzt er mit der Betriebsleiterin im Büro und steht ihr mit gutem Rat zur Seite. Über Nacht, wie es scheint, hat er auch Deutsch gelernt – ein Effekt der Amitié, die Vielsprachigkeit zu einer Grundlage (und zu einem Ergebnis) ihres algorhitmischen Lernens macht.

Die polnische Katholikin Agnieszka wird zu einem Testfall der Möglichkeiten des Netzwerks. Sie kommt für eine Teilnahme ursprünglich nicht in Frage, denn sie ist „une croyante“, „eine Gläubige“, wie Dieudonné konstatiert. Doch auch hier gelten die Grundsätze der Amitié. Alles geschieht ohne Zwang, wie von selbst. Agnieszka zieht Schlüsse aus ihren Erfahrungen, sie emanzipiert sich von ihrer digitalen Überwacherin Weronika in Polen, die alles in den Dienst der christlichen Mission stellen möchte. Sie überwindet auch eine menschenfeindliche Ethik, die gegen „Versuchungen“ auf Selbstbestrafungen setzt. Agnieszka qualifiziert sich für die Freundschaft, indem sie mit Siegfried „eine neue Sprache“ findet.

Die Amitié skizzkiert eine Antwort auf eine der großen Gegenwartsfragen: lässt sich das dominierende System, der amerikanisch geprägte Digitalkapitalismus, verändern, unterwandern oder vielleicht sogar überwinden? Und wie könnte eine Revolution konkret aussehen? Ute Holl und Peter Ott gehen dezidiert über die geläufigen Ereignistypen hinaus. Sie zeichnen kein Aufstandsszenario. Barrikaden oder ein Klassenkampf auf der Straße spielen keine Rolle. Die Szene mit der Betriebsleiterin ist deswegen von zentraler Bedeutung. Denn die Amitié beruht auf Intelligenz, und sie speist ihre Intelligenz in das bestehende System ein – wobei im Modus der Andeutung verbleibt, wie es mit der Biotomaten-Plantage weitergehen könnte. Sie gehört einem börsennotierten Konzern in den Niederlanden. Sie müsste wohl eines Tages auch faktisch vergesellschaftet werden.

Dieser Akt wäre dann aber schon Ausdruck einer Vergesellschaftung, die in der Amitié vorbereitet wird. Die virtuelle Ebene des Netzwerks sieht bei Ute Holl und Peter Ott vielfach noch aus wie ein Low Budget-Computerspiel oder eine nicht zu Ende gerechnete Animation. Das ist ein Aspekt der Emergenz, wohl auch des Aufbaus „von unten“. Bewusst in einem Status der Ambivalenz muss wohl auch der Realitätsgehalt der Wirklichkeit bleiben, die in Die Amitié antizipiert oder performativ fingiert wird: Haben wir es mit einer Computersimulation zu tun, die vielleicht auf die äußere Wirklichkeit der menschlich geteilten Welt überspringen könnte? Oder um einen Traum, der die Matrix sprengen könnte, die Meta, TikTok, Youtube und ChatGPI gerade errichten? Mit einfachsten Mitteln hergestellt, steht Die Amitié nichtsdestoweniger in einer großen Tradition von Kunstwerken, die an der Veränderbarkeit der Welt arbeiten. Freundschaft mag eine bescheidende Form sein. Ihr Potential aber ist radikal.

Dieser Text erschien ursprünglich im Magazin Lerchenfeld der HFBK Hamburg.

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