Größere Leuchtkraft
Lektüre: Michael Chighel über Hebräischen Humanismus und Heideggers Antisemitismus
Als ich im Herbst 1983 an der Universität Wien Germanistik und Katholische Theologie zu studieren begann, gab es im wesentlichen zwei Leitfiguren in meinen Fächern. Dienstag Mittag las Wendelin Schmidt-Dengler im Audimax Deutsche Literatur, und Freitag von 10-12 gab es im Hörsaal 47 Christliche Philosophie bei Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld OPraem. „Der Wucherer“, wie er ehrfürchtig genannt wurde, war ein Charismatiker mit einem gehörigen Schalk. Er war ein frommer Heideggerianer, der scholastische Aristotelismus von Thomas von Aquin kam bei ihm (Potenz/Akt) aus dem entbergenden Sein, dazu hielt er viel von dem personal-dialogischen Denken von Ferdinand Ebner.
Unsere damaligen Bemühungen um eine kritische Antwort auf Heidegger waren naturgemäß unbedarft. Es war wohl bis zu einem gewissen Grad immer noch der Student von damals in mir, der im Frühling 2020 auf einen Titel im Programm des Klostermann Verlags aufmerksam wurde: Kabale. Hebräischer Humanismus im Lichte von Heideggers Denken von Michael Chighel. Eine jüdische Auseinandersetzung mit Heideggers Antisemitismus. Mein Interesse war geweckt, ich fragte beim Verlag wegen eines Besprechungsexemplars an, konnte aber kein konkretes Rezensionsvorhaben benennen, bekam also kein Buch, kaufte es mir, und begann zu lesen. Vorbereitet war ich halbwegs, ich kannte den ersten Band der Schwarzen Hefte, und Peter Trawnys Buch über Heideggers Antisemitismus, auch ein kritisches französisches Buch über Trawnys ambivalente Rolle als Herausgeber und Entschuldiger Heideggers hatte ich gerade gelesen.
Michael Chighel ist eine Entdeckung von Trawny. Er hat das Buch aus dem Englischen übersetzt, später erfuhr ich, dass es sogar auf seine Anregung hin geschrieben wurde. Es ist bisher nur auf Deutsch erschienen, und weil die Figur Michael Chighel doch deutlich aus den geläufigen Heidegger-Debatten herausfällt, dachte ich beim Lesen gelegentlich sogar an einen Hoax: dass Trawny sich hier eine jüdische Identität angezogen hätte, um Heideggers Antisemitismus von dessen „seinsgeschichtlichem Feind“ persönlich retten zu lassen. Aber mit jeder Seite wurde dann klarer, dass das Gegenteil der Fall ist: Michael Chighel ist tatsächlich ein orthodoxer Jude, der auf hohem Niveau die Auseinandersetzung mit Heidegger sucht, dabei aber pointiert dessen Antisemitismus beim Wort nimmt, um von da aus seine ganze Philosophie zu entkräften. „Nicht jedem Antisemiten gebührt die Ehre, dem Judentum die Gelegenheit gegeben zu haben, in einer größeren Leuchtkraft und Wärme zu glänzen.“ Genau das macht Chighel: er bringt das Judentum zum Strahlen. Und er präsentiert dabei eine Form von Orthodoxie, die wiederum einige oberflächliche Annahmen meinerseits über jüdischen Fundamentalismus korrigiert hat.
Besonders relevant ist dabei eine der fünf Gegensetzungen, mit den Chighel arbeitet: Boden/erez. Bei der Bodenständigkeit könnte man zuerst einmal meinen, dass es Berührungspunkte geben sollte zwischen der Verwurzelung, die Heidegger für das deutsche Volk in seiner philosophischen Mission so wichtig ist, und der Beziehung von Juden zu ihrem Land. Dabei ist es genau anders herum: Der Begriff der Nationalität in der Tora zielt auf einen „Landbesitz bei gleichzeitiger Verwerfung der Bodenständigkeit“. Ein Siedler-Fundamentalismus verfehlt also die Tora genau so, wie Heidegger die Juden mit dem Vorwurf der „Entwurzelung“ verfehlt. Judentum heißt für Chighel und mit den Schriften aus der Tradition, die er ausführlich mit philosophischen Texten von Rosenzweig bis Levinas zusammenführt, im Exil sein. „Der Sinn des Exils ist, die Kluft zwischen Gott und Seinem Volk zu schließen. Der Keil ist das Land selbst. (...) Eine natürliche Heimat wäre nur eine ärgerliche Behinderung im Ereignis der Intimität (zwischen Gott und seinem Volk).“
Die ganze Gegensetzung ist im Detail noch deutlich komplexer, als ich hier mit ein paar Zitaten andeuten kann. Aber sie führt in einer sehr dichten Lektüre dazu, dass Chighel auch das Judentum dort, wo es (ich spitze zu) seinerseits in die Versuchung gerät, sich mit dem Sein zu identifizieren, noch einmal dekonstruiert, durch eine wie ich finde sehr überzeugende Verbindung von religiösem Schrifttum und französischer Philosophie. Der Hebräische Humanismus wird dabei wieder so spezifisch, wie die Tora nun einmal ist: ein Gesetz für die Welt, das einem konkreten Volk in einer kontingenten historischen Situation gegeben wurde, und dann als Auslegungsgeschichte weiterlebt. Chighel ist witzig genug, Heidegger quasi beim Wort zu nehmen und es ihm dann doch umzudrehen: „die einzige wahrhaft jüdische Weltverschwörung (ist) die levitische Kabale, die von Gott Selbst am Berg Sinai organisiert wurde. (...) Die Kabale war niemals eine jüdische Idee, es sei denn natürlich, dass Gott ein Jude ist.“
Die zweite Entdeckung nach Wucherer-Huldenfeld, die ich damals in Wien machte, war die Philologie der jüdischen Bibel, die von Georg Braulik gelesen wurde: ein ungeheuer spannendes Entziffern komplexester Textschichtungen. Das schien damals mit Heidegger und einer Philosophischen Gotteslehre nichts zu tun zu haben. Bei Michael Chighel findet das zusammen, in einer Lesebewegung, die weder vorschnelle Synthesen (ein jüdisch-christliches Abendland) noch einfache Antagonismen (den Deutschen und den Griechen das Sein, den Juden das Seiende) auf sich beruhen lässt.
Als ich mit dem Buch durch war, stellte ich fest, dass bisher niemand darüber geschrieben hatte. Es war nicht schwer, einen Kontakt zu Michael Chighel zu finden, und wir verstanden uns auch deswegen sofort prächtig, weil wir beide über den Namen Seinfeld lachen mussten, der aus Sicht von Heideggerianern ja wie ein feuchter Traum klingt. Ein Gespräch, das wir telefonisch führten, ist heute in der FAS erschienen. So richtig rezensiert habe ich das Buch Kabale. Hebräischer Humanismus im Lichte von Heideggers Denken jetzt noch immer nicht, aber hingewiesen möchte ich darauf jedenfalls haben.
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