Filme und Folgen (34)

Notizen: Mai 2021

Lúa vermella (Red Moon Tide) Lois Patino 2019

Ein galicisches Dorf vermisst einen Mann: „Komm zurück, Rubio, tauch auf.“ Rubio ist an das Meer verloren gegangen, sein Körper wird angeschwemmt, doch das ist eigentlich nur noch ein Randereignis in einem mächtigen mythischen Geschehen, das Lois Patinho vorwiegend mit großartig komponierten Stillleben und murmelnden Stimmen aus dem Off evoziert. Das Meer, der Mond und ein mächtiger Staudamm in der Gegend („er vergiftet alles“) bilden so etwas wie einen Verhängniszusammenhang, dem sich die Leute entgegenstellen, indem sie sich weiße Bettlaken über den Kopf ziehen und dann wie Säulenheilige in der Gegend herumstehen (darunter aber „kochte unser Blut“). Drei Hexen, die von alltäglichen Spanierinnen mittleren Alters äußerlich nicht zu unterscheiden sind, kommen zu Hilfe. In Lúa vermella ist alles Suggestion: Das Meer ist das ursprüngliche Monster, „wir sind sein Traum“, der Film ist der Traum dieses Traums. (MUBI, auch Berlinale Forum 2020)

Brigitta Dagmar Knöpfel 1994

Die Erzählung Brigitta (1843/1847) von Stifter war die Grundlage für diesen Schwarzweißfilm über einen jungen Mann, der auf dem Weg zu einem Gut in Ungarn ist. Er lässt sich Zeit, fertigt Zeichnungen an, hat zwischendurch eine Art Fata Morgana, in der er den Mann, zu dem er will, mit zwei schönen Frauen sieht. Später erfährt man, dass die Bekanntschaft von einem Aufenthalt in Italien herrührt. Die dramaturgische Pointe des Films liegt darin, dass die Titelfigur sehr spät auftritt, nachdem sie zuvor einmal schon gleichsam anonym zu sehen war, und dann ihre Lebensgeschichte in einer Rückblende erzählt wurde: Brigitta, eine Gutsbesitzerin, von der es heißt, dass sie „als hässliches Kind“ auf die Welt gekommen war (das Punctum ihrer Hässlichkeit ist im Film übrigens ein Damenbart). Sie verfügt aber über ein „herrliches Land“, und trägt sehr viel dazu bei, dass auch ihre Nachbarn dabei mitmachen, „die wilde Gegend hier zu kultivieren“. Der Gutsbesitzerfeudalismus wurde ja schon bei Stifter zu Rosenzucht und Ordnung kultiviert, so sitzen auch bei Knöpfel die Dienstboten bei Tisch fast, als wären sie Verwandte. (Es ist, auch das ist einen Gedanken wert, ja dieselbe erzählte Zeit, in der in Amerika entlaufene Sklaven grausam gejagt werden. in Brigitta sorgen Wölfe für ein bisschen dramatische Klimax.) Wenn Stifter der verspätete Goetheaner der Literatur war, so zeigt sich Dagmar Knöpfel hier als dessen treue Adeptin: Ihre Brigitta lässt sich in Duktus und Stimmung von den Bleistiftarbeiten leiten, mit denen der Erzähler Florian das prächtige Land einfängt. (Filmmuseum München Online Retrospektive)

Gurbet is A Home Now Pinar Ögrenci 2021

Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an: Die geläufige Songzeile von Cem Karaka rahmt den knapp einstündigen Film über die türkische Migration nach Kreuzberg. Diese fand de facto in zwei Wellen statt: auf die Gastarbeiter mit ihren Familien folgten nach 1980, als es in der Türkei einen Militärputsch gab, Menschen auf der Flucht, vor allem Kurden. Sie kamen in eine Welt desolater Immobilien, von denen Pilar Ögrenci in ihrem Film vor allem durch Fotografien einen Eindruck gibt. Zugleich erzählt sie von den Bemühungen zweier kritischer Architektinnen, Esra Akcan und Heide Moldenhauer, die Lebensverhältnisse zu verbessern – und dabei auch gesellschaftliche Modernisierung mitzubedenken, es wird eigens erwähnt, dass Frauen sich im Hinterhof im Bikini sonnen können sollten. Gurbet bedeutet so viel wie „nicht daheim sein“. Pilar Ögrenci gibt wichtige Hinweise auf ein Kreuzberg, das älter ist als die Hausbesetzergeschichte. Der Film hätte gern länger sein können, vieles wird nur angedeutet, was ausführlichere Behandlung verdient gehabt hätte. (Dokfest München)

Wer wir gewesen sein werden Erec Brehmer, Angelina Zeidler 2020

Ein Film für Angi. Erec Brehmer hat seine Freundin verloren. Sie starb bei einem Verkehrsunfall, bei dem sie selbst am Steuer war, während er auf dem Beifahrersitz saß. Sie war 29 Jahre alt. Von der glücklichen Beziehung gibt es viel Videomaterial, weil Erec Brehmer sehr oft mitfilmt. An seinen Erinnerungen an Angi lässt er das Publikum teilhaben, in einer Offenheit, die ganz selbstverständlich wirkt. Er erzählt die Geschichte ihres Kennenlernens, selbst von ihren Tinderprofil scheint er damals einen Screenshot gemacht zu haben. Er erzählt die Geschichte ihrer Beziehung, die Urlaube, die Besuche bei den Eltern, die banalen Momente, in denen man oft am deutlichsten verspürt, wenn man jemand liebt. Er zeigt, was man vom Unfall weiß, Aufnahmen von der Bergung, immer wieder seinen mehrfach operierten Fuß. Er erzählt von den Phasen der Trauer, und von neuen Bekanntschaften. Und so paradox es klingen mag: die Öffentlichkeit dieses Films scheint genau der richtige Ort für die Intimität seiner Geschichte zu sein. Nebenbei lernen wir dabei auch einen Medienenthusiasten kennen: Brehmer macht nicht einfach Home Movies, er probiert mit Kameras alles Mögliche aus, und ein bezeichnendes Detail sind wohl die beiden Bücher, zu denen er alle Handychats gebunden hat, die er mit Angi geführt hat. Auch das ist Liebe anno späte 2010er Jahre. (Dokfest München)

Skies Above Hebron Esther Hertog / Paul King 2020

Drei palästinensische Jungen aus Hebron in den Jahren 2016 bis 2020. Einmal im Jahr kamen die Filmemacher und blieben eine Zeitlang, um zu sehen, wie sich die Dinge für Amar, Anas und Marwaan entwickeln. Sie sind täglich mit der angespannten Situation konfrontiert, die durch die schwer bewachte Enklave jüdischer Siedler in der Altstadt entstanden ist. Amar und Anas haben Zugang zu einem Dach, das direkt über der Straße liegt, die von der israelischen Besatzung abgeriegelt wurde. Wegen der ständigen Aufregung (einmal kommen die Soldaten sogar in die Wohnung) lässt der Vater sie gern einmal an der Wasserpfeife ziehen, obwohl sie dafür eigentlich noch zu jung sind. Einen Alltag scheint es kaum zu geben, alles steht im Zeichen der palästinensischen Sache, einer erhofften Freiheit, zu der die Steinewerfer gegen die israelischen Checkpoints allerdings nach Meinung der Jungen nichts beitragen. Esther Hertog und Paul King haben davor auch schon einen Film über die israelische Seite gemacht, nun zeigen sie die andere Perspektive in einem Konflikt, aus dem ein Ausweg kaum denkbar erscheint. (Dokfest München)

Gölge Sema Poyraz / Sofoklis Adamidis 1980

Eine türkische Familie in Berlin im Jahr 1980. Das Wohn- und Esszimmer mit dem Fernseher und zwei Couches, die nachts zu Betten der Töchter umgebaut werden, ist der zentrale Set. Eine Tür in die Küche, eine ins Bad, eine ins Schlafzimmer der Eltern. Gölge, die ältere Tochter, träumt davon, Schauspielerin zu werden. Der Vater ist streng und hält das für einen Beruf, der für ein anständiges Mädchen nicht in Frage kommt. In ihrer Klasse ist Gölge die einzige, die aufpasst, wenn der junge Lehrer von Hitlers Machtergreifung spricht. Abends sitzt die Familie vor dem Fernseher, die Mutter sagt: „Die zeigen aber auch alles.“ Zu sehen war wohl ein Kuss. Bei einer Auseinandersetzung in der Wohnung versuchen die Mädchen, den Fernseher zu schützen. Bei Familienbesuchen sitzen Männer und Frauen (die Montage betont das noch) in strikt getrennten Welten. Einmal ist ein deutscher Kollege/Freund allein zu Besuch: „Beim nächsten Mal kommt ihr dann zu mir.“ Über diese Beziehung hätte ich gern mehr erfahren, aber Gölge ist elliptisch erzählt.

Mehrfach ist Gölge in Szenen zu sehen, die wie Tagträume aussehen (sie läuft in einem weißen, transparenten Gewand durch den Wald auf einen Mann zu) oder auch wie Symptome einer psychischen Krankheit, oder aber auch nur wie Erweiterungen heimlicher Rollenspiele, wenn sie daheim unbeobachtet auf Vamp macht. Zeithistorische Umstände werden angedeutet, nach dem Putsch in der Türkei „werden jetzt sicher die Kommunisten im Rundfunk entlassen“. Auf diesen Satz ihres Vaters antwortet Gölge, dass Faschisten gegen den WDR demonstriert haben! Die Symbolbilder von Gölge in einem Labyrinth abstrakt weißer Räume deuten auf ein offenes Ende: Freiheit gibt es für Gölge nur außerhalb der Familie (und deren enger Welt), aber macht es wirklich Sinn, noch vor dem Abi abzuhauen? (Fiktionsbescheinigung Programm des Berlinale Forums)

Killing Eve Season 3

Die brillante Schaumschlägerei dieser Serie wurde in der letzten Folge überdeutlich, als nämlich die ganze Weltverschwörung mit einer angeblichen Zwölfergruppe, die heimlich das allergrößte Ding dreht, dann doch darauf hinausläuft, dass fünf Leute, mit denen man es während der dritten Staffel überwiegend zu tun hatte, in einem Zimmer alles unter sich ausmachen, und es dann immerhin eine Art britischen Standoff gibt. Killing Eve ist dreist in jeder Hinsicht: die Todesarten, die Villanelle sich ausdenkt, wurden dieses Mal durch einen wirklich fiesen Anschlag fast noch übertroffen (nur so viel: Tatwerkzeug Mistgabel); die Dialoge sind phasenweise fast Screwball, die Schauplätze exquisit, die Songauswahl ist super hip (Spiritual von Magma!), und doch ist alles eben nur die Vortäuschung eines „richtigen“ Thrillers. Die drei Frauen im Zentrum halten aber alles so gut in der Schwebe, dass ich mir jederzeit weitere Staffeln anschauen würde. (Starzplay)

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