Filme und Folgen (40)
Notizen: November 2021
Uprising Steve McQueen & James Rogan United Kingdom 2021
Der Titel weist die Richtung: die Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton (Brixton riot oder, wie es in der euphemistischen Sprache der Regierung später, hieß: disturbances) werden hier als Aufstand begriffen. Und sie werden mit einem Ereignis aus dem Dezember 1980 verknüpft. Damals starben bei einem Brand in einem Haus in Lewisham dreizehn junge Menschen, alle „West Indians“, wie damals die geläufige Bezeichnung für Schwarze Engländer mit Herkunft aus der Karibik war. Die Untersuchung des New Cross house fire ergab keine schlüssige Brandursache, der Verdacht eines rassistisch motivierten Brandanschlags wurde nicht erhärtet, die petrol bomb theory (oder allgemeiner: die Vermutung einer fascist attack) blieb später auch in einer zweiten Untersuchung „inconclusive“. Uprising ergibt ein Zeitbild, das stark mit McQueens fiktionalem Projekt Small Axe verknüpft wird. Die Folge, die von dort am stärksten in Erinnerung bleibt, war eben die mit einer House Party (mit dem Song Silly Games von Janet Kay im Zentrum). Alex Wheatle, dem der vierte Teil von Small Axe gewidmet ist, tritt in Uprising als Zeitzeuge auf, dazu gibt es zahlreiche weitere Überschneidungen, und ich meine an manchen Stellen sogar Material aus Small Axe als Füller gesehen zu haben. In der Darstellung von McQueen führt eine direkte Linie von der Trauer und Wut über den Tod der Jugendlichen über den Black People‘s Day of Action (mit einer „Schlacht“ an der Blackfriars Bridge) zu den Aufständen im Jahr 1981 (in den Wochen, in denen ein Teil von England auf die Hochzeit zwischen Charles und Diana hinfieberte). Im Verlauf der drei Folgen entsteht ein dichtes Bild von institutionellem Rassismus der Polizei (noch in der historischen Rückschau verkörpert durch Jackie Malton, eine hohe Polizeibeamtin, die den herablassenden Ton in ihrem Gerede kaum zu bemerken scheint), von den kulturellen Ressourcen des Widerstands (Bob Marley, Linton Kwesi Johnson), und von der Wut, die sich schließlich nicht nur in Brixton Bahn brach: ein Pub, das dabei angezündet wurde, wurde als Rhodesien bezeichnet, weil es keine Schwarzen Gäste erlaubte. In Brixton antworteten „good fires“, „fires of freedom“ auf das Feuer von der New Cross Road. Das ist sicher eine erzählerische Engführung, die Uprising aber sehr überzeugend vertritt. (Doclisboa online)
Neidentificat Bogdan George Apetri Rumänien 2020
Ein Thriller, der in den Bergen rund um die Stadt Piatra Neamt spielt: Brandanschläge auf Hotels sorgen für Aufsehen, der Polizist Florin ist eigentlich nicht zuständig, reißt aber die Ermittlungen an sich. Er verfolgt gezielt eine Hypothese, einen einfachen Mann namens Banel, einen (in seinen Worten) „tsigan“, manipuliert er sich als Sündenbock zurecht. Die Stärke von Neidentificat liegt darin, dass Bogdan George Apetri den Rassismus schließlich in einer starken Wendung als Ausdruck einer fanatisch kompensierten, individuellen Kränkung erkennbar werden lässt, dann aber mit einem letzten Twist alles noch einmal auf eine allgemeinere Ebene hebt. Da hatte ich kurz gemeint, er hätte das dramaturgisch beste Ende schon verspielt gehabt, seines ist dann aber noch stärker. (FFC Festival of East European Cinema Cottbus online)
Konets Fil’ma (The End) Vladimir Kott Russland 2020
Einem russischen Filmemacher namens Mitya reicht es. Er ist eigentlich ganz gut integriert in den Betrieb, läuft aber von einem Außendreh einfach davon, weiß allerdings nicht so recht, wohin. In den Augen seiner Nächsten (Tochter, Ex-Frau, Kollegen) ist er ein Versager, der auf eine Weise prinzipiell sein will, die niemand hilft, ihm selbst auch nicht. Eine Figur namens Mastroianni begleitet ihn als wandelnde Anspielung auf Fellinis Otto e mezzo, dem große Vorbild wird Vladimir Kott durchaus gerecht. Konets Fil’ma ist auf eine verhaltene Weise sehr komisch, und enthält eine schöne, selbstreferentielle Pointe, denn ein Staatsfilmer namens Harlampidis, der die Krise des künstlerischen Personals in Putins Russland besonders pathetisch zum Ausdruck bringt, wird von Vladimir Kott selbst gespielt. (FFC online)
Chicks (Chiki) Eduard Oganesyan Russland 2020
Vier Prostituierte, die an einer Tankstellenkneipe im Nordkaukasus vor allem LKW-Fahrer bedienen, kündigen bei ihrem Zuhälter und tun sich für die Unternehmensgründung eines Fitness-Studios zusammen, bekommen es dabei allerdings mit allerlei Widerständen zu tun, vor allem mit Männern, für die der Begriff toxisch wie eine grobe Untertreibung klingt. Man sieht Chicks in jeder Hinsicht den ursprünglichen Pitch an, der auf allerlei Attraktionen verweisen konnte: vier perfekt aufeinander abgestimmte Frauenfiguren (das alleinerziehende Tomgirl Zhanna, die pummelige Lyuda, die fesche Sveta und die Musterblondine Marina), eine ewig sommerliche Landschaft mit allem, was Russland arkadisch zu bieten hat (Drohnenflüge über sowjetische Heldenstatuen vor dramatischen Sonnenuntergängen), und ausreichend Sozialrealismus, um sich auf den Weltmärkten nicht mit patriotischem Kitsch zu blamieren. Wie sich die Geschichte dann aber über acht Folgen entfaltet, geht weit über formelhaftes Erzählen hinaus, und hält doch in jedem Moment an Erfolgsrezepten fest. Die Frauen bekommen alle erdenklichen Prügel vor die Füße und sonstwohin, es gibt Szenen schockierender Brutalität, alles ist aber immer aufgehoben in etwas, was ich mit einem Arbeitsbegriff nur russische Metaphysik nennen kann: sie kommt aus einer reich differenzierten Gemeinschaft, die in Zhannas Sohn Roman (Romka) ihren größten Grad an Idiosynkrasie erreicht (er zieht gern Kleider an und tanzt einmal vor der ganzen Schule einen Flamenco). Jede Figur ist ein bisschen schräg, aber immer als Facette eines Allgemeinen, für das hier eben vier Frauen – und bald ein paar tolle Männer, die sich ihnen anschließen oder die diskrete Solidarität walten lassen – stehen. Eine meiner größten Entdeckungen in diesem Jahr. (FFC online)
Nuhu Yag Mu Yog Ham: This is Our Land Isael Maxakali, Sueli Maxakali, Carolina Cangucu, Roberto Romero Brasilien 2020
Das indigene Volk der Tikmu’un lebt an der Grenze der heutigen brasilianischen Bundesstaaten Bahia und Minas Gerais. Sie fühlen sich von den Weißen in der Gegend bedrängt (squeezed), ihre Landansprüche werden ignoriert, und immer wieder werden Tikmu’un ermordet. Der Film beginnt mit historischen Darstellungen der Ankunft der Weißen in Brasilien, dann versammeln sich die Protagonisten in einer Höhle, wo ihre Vorfahren Zuflucht vor der Verfolgung der Kolonisierer fanden. Den Tikmu’un ist unter anderem die Erde heilig (der Lehm, sie sprechen von mother clay), sie leben in einem Universum mit vielen Geistern (Maniok-Geist, Papageiengeist, die Weißen sind Abkömmlinge eines cannibal monster). Sie versammeln sich bevorzugt um Gesangsorte (house of chants). Der Film nimmt dann im wesentlichen den Verlauf eines Lokalaugenscheins, eine Gruppe von Tikmu’un geht an Orte, an denen Menschen aus ihrem Volk getötet wurden, oder durchmessen zu Fuß das Land, das sie als das ihre sehen (ein paar Drohnenaufnahmen zeigen zusätzlich von oben eine prächtige, grüne, hügelige Landschaft). In der Stadt Batinga macht sich einmal ein Weißer wichtig, zwischendurch taucht auch ein argwöhnischer Cowboy auf, ansonsten sind die Tikmu’un unter sich mit dem dokumentarischen Team an ihrer Seite. Sie sind vor allem ständig zu hören: in ihrer eigenen Sprache machen sie ihr Weltverhältnis deutlich, die Wichtigkeit der Gesänge, die Beseeltheit der Bäume (die zunehmend durch Eukalyptus ersetzt werden). (Doclisboa online, beim Sheffield Doc Fest hatte ich nur die Hälfte geschafft)
Köy Serpil Turhan Deutschland 2021
Drei Frauen aus dem türkischen Kurdistan. Sie leben in Berlin, sehnen sich aber zurück in das Dorf. In Berlin gibt es rund um das Kottbusser Tor vielleicht am ehesten so etwas wie ein Dorf, ein Köy. So sieht es jedenfalls Hevin, die in der Gegend lebt, zwischen den Hipstern in Neukölln und den Wohntürmen Richtung Hallesches Tor. Sie macht eine Schauspielausbildung, würde aber gern zur Wahlbeobachtung in die Türkei fahren, auch wenn sie um die Gefahren dort weiß. Das kurdische Rojava (eine radikale Staatsutopie) ist für sie ein konkreter Bezugspunkt. Neno hat elf Kinder unter härtesten Bedingungen bekommen und großgezogen. Nun lebt sie in Berlin, die Kinder bereiten ihr noch einmal eine neue Wohnung, sie betet vor allem darum, nicht pflegebedürftig zu werden. Saniye hat ein Cafe, sie hat zu backen begonnen, als die Eltern sie mit Beginn der Pubertät einzusperren versuchten. Sie hat die Welt gesehen, nun will sie zumindest für ein Jahr zurück in das Köy. Serpil Turhan ist mit diesen Frauen, diesen drei Generationen verwandt. Sie bleibt hinter der Kamera, ist aber mit ihren Fragen präsent. Sie lässt ihre Distanz zu der Türkei deutlich werden, die ein Mann zu beherrschen versucht, dessen Namen sie gar nicht aussprechen will. Eine Türkei der Unfreiheit und der Bedrohung, vor allem für Frauen. Köy ist ein Film über einen Ort, der einem Volk gehören soll (Kurdistan), der hier aber auch so etwas markiert wie ein weiblich durchwirktes Gegenbild zu Krieg und kapitalistischer Moderne insgesamt. (Dokumentarfilmwoche Duisburg online)
Picnic at Hanging Rock Naama Heiman Deutschland 2021
Naama und Biniam teilen eine Wohnung in Köln-Bickendorf. Laut Putzzettel soll es auch noch eine Aurelia geben, im Film taucht sie nicht auf. Naama sucht ein Thema für einen Film, ihr fällt nur Biniam ein, ihr Studienkollege an der KHM, „without him I have nothing to tell“. Biniam will lieber nicht im Film sein. Die verschlossene Tür zu seinem Zimmer ist ein Leitmotiv. Sein nackter Hintern, früher einmal an einem See, festgehalten auf 16mm, ein anderes. Naama ist (oder war) in Biniam verliebt, er erwidert ihre Andeutungen nicht. Im Hintergrund dieses Hochschulfilms schwelt eine größere Frage: was hat eine junge Frau heute zu erzählen? Sie erwähnt das Werk von David Perlov, dem israelischen Tagebuchfilmer, auf den sie sich bezieht, dann erwähnt sie aber auch ihre „heimliche Fantasie“, irgendwann einmal Mainstreamfilme zu machen. Picnic at Hanging Rock beginnt im Mai 2020, die Corona-Isolation ist ein Ausgangspunkt, spielt aber für Biniam wie für Naama keine entscheidende Rolle: er geht oft aus, sie reist nach Israel. Am Ende muss der Film fertig werden, und Biniam lässt sich sogar zu einer Antwort an Naama hinreißen. Es ist wohl nicht die, die sie erhofft hat. Vielleicht die das die erste Cringe-Doku. Und über Köln-Bickendorf und dessen „ultimate mediocricy“ (sic) darf auch nur Jugend so abfällig sprechen. (Dokumentarfilmwoche Duisburg online)
Taming the Garden Salomé Jashi Deutschland/Georgien 2021
In Georgien wird ein alter Baum umgepflanzt. Das erfordert eine Riesenoperation, mit massiven Erdbewegungen, und entlang der Strecke, die der Großtransport zurücklegt, müssen zahlreiche kleinere Bäume gefällt werden, damit überhaupt genug Platz ist. Salomé Jashi beobachtet in sorgfältig komponierten Bildern das ganze Manöver, und hält sich im übrigen an die Leute, die davon betroffen sind. Einige haben Geld bekommen, andere sind Zaungäste, manche haben Tränen in den Augen. Ab und zu ist von dem Mann die Rede, der das alles ausgelöst hat: Iwanischwili, ein georgischer Oligarch und Politiker. Das Bild des Baumes, der auf dem Schwarzen Meer seinem Bestimmungsort entgegenschippert, ist besonders einprägsam. Ich dachte zuerst, Taming the Garden wäre ein schlagendes Sinnbild für eine Form (und ein Ausmaß) heutigen Reichtums, der aus dem Reichtum der Natur eine Privatangelegenheit macht. Aber es ist noch ein wenig komplexer: Der Shekvetili Dendrological Park, für den Bidsina Iwanischwili Bäume aus aller Welt nach Georgien bringen ließ, ist eine Mischung aus Privatparadies, Themenpark, Naturreservat und Taj Mahal, ein Versuch eines Individuums, es mit den Pyramiden und mit Stonehenge an Ewigkeitswerten aufzunehmen. (Dokumentarfilmwoche Duisburg online)
Vortex Gaspar Noe Frankreich 2021
In einer sagenhaft vollgeräumten Wohnung mit kleinem Balkon in der Nähe von Stalingrad in Paris leben zwei alte Menschen. Wir hören keine Namen von ihnen, wir kennen aber die Darsteller: Francoise Lebrun hat in Le maman et la putain von Jean Eustache mitgespielt, und Dario Argento ist als Filmemacher eine Legende. Zu Beginn trinken die beiden ein Glas auf dem Balkon, sie sagt noch „a nous“. Dann teilt sich das Bild, der Rest des Films besteht aus zwei Split-Screen-Quadraten, aus denen manchmal eine Hand in das andere greift, aber im wesentlichen bleiben die Welten der Frau und des Mannes von nun an getrennt. Morgens steht sie früher auf, sie weiß nicht mehr, was sie tut, sie tappert durch den Tag. Sie setzt Kaffee auf, vergisst ihn, er dreht später den Herd ab, trinkt den Kaffee, setzt sich an die Schreibmaschine, tippt etwas, dann geht er sie suchen. Der Sohn kommt, er hat eine Drogengeschichte, der kleine Enkel macht ein wenig Lärm beim Spielen und reizt damit den Mann, der stark selbstbezüglich wirkt. Er will noch ein Buch schreiben, über das Kino und das Träumen, Arbeitstitel: Psyche, am Telefon mit jemand skizziert er ein Exposé, klingt eher nach Geschwafel. Die Frau räumt später seinen Schreibtisch auf, die Zettel zu Psyche wandern in den Papierkorb. Und von da an geht Noe konsequent bis an das Ende dieser monumentalen und erschütternden Geschichte über das hohe Alter, über die Grenze zwischen Leben und Tod. Die beiden Quadrate entsprechen schließlich Grabbildern. Ganz großes Werk. (Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg IFFMH)
Matar a la bestia (To Kill the Beast) Agustina San Martín Argentinien/Brasilien 2021
Emilia, eine junge Frau, kommt in ein Dorf an der Grenze Argentiniens zu Brasilien. Sie sucht ihren Bruder Mateo, dessen verlassene Wohnung (angefaultes Obst, ungeöffnete Post) zu Beginn zu sehen ist. Quartier gibt es bei der Tante, die in der Gegend eine Pension betreibt, in der später auch eine Schwarze Frau namens Helena absteigt. In der Gegend herrscht Unruhe, es ist die Rede von einer Bestie, die umgeht, ein Geist, der Tiergestalt annimmt. Ein Büffel, der vor der Pension auftaucht, ist vielleicht die erste dieser Gestalten. Es dauert eine Weile, bis sich aus dem immer nur angedeuteten Geschehen (viele Totalen einer nebligen Dschungellandschaft mit Streusiedlung, verwehte Musik, zum Beispiel mehrfach ein Ave Maria) eine konkretere Geschichte hervorhebt: Zwischen Emilia und Helena gibt es eine sinnliche Attraktion, die Suche nach Mateo dient vor allem dazu, aus seinem Schatten zu treten (Erinnerungen an eine Party in Buenos Aires geben erste queere Signale). Der Büffel als MacGuffin – die Bestie – steht schließlich am ehesten für eine selbstbestimmte Sexualität oder das, was ihr im Wege steht, also eine schwierige Mutterbeziehung, die immer wieder angedeutet wird. Matar a la bestia ist ein lupenreiner heutiger Festivalfilm, an dem mich vor allem die Location fasziniert hat. (IFFMH online)
Il buco Michelangelo Frammartino 2021
Speläologie ist das lateinische Wort für Höhlenforschung. Von einer Abordnung der speleologia italiana erzählt Michelangelo Frammartino in Il buco, einem period picture der besonderen Form, denn es spielt vor zeitloser Landschaft im Nationalpark Pollino in Kalabrien. Die Ausstattungsdetails, die auf das Jahr 1961 verweisen, sind im Grunde Randphänomene einer Natur, von der hier ein Eindruck von Überzeitlichkeit entstehen könnte - de facto wurde in einem Landschaftsreservat gedreht, die Bilder und die Bildkompositionen sind großartig. Zwei Bewegungen werden ineinander verschränkt. Auf einer Almweide gibt es einen Eingang zu einer tiefen Höhle (er sieht aus wie ein weibliches Geschlechtsorgan, so würde es jedenfalls Arno Schmidt sehen, der an den Landschaftsbeschreibungen von Karl May auf erotische Formationen geschult war). Hier schlägt die speläologische Gruppe ihr Quartier auf, und dann geht es nach unten, schließlich bis auf 683 Meter Tiefe. Zur gleichen Zeit sitzt auf einem steilen Hang ein alter Hirte und schaut – so müssen wir wohl die Blickachsen deuten – von schon fast specie aeternitatis zu. Er erkrankt schließlich, liegt noch eine Weile auf seinem kargen Lager, ein Arzt sieht nach ihm, eine Ader in seiner Hand gibt eines der letzten Lebenszeichen. Die Expedition endet bei einem Tümpel in der Tiefe, das Leben des Mannes endet im Tod. Frammartino setzt das deutlich parallel. Il buco kommt ohne Dialoge aus, sieht man von den Bildern in einem Schwarzweißfernseher ab, auf den in dem nahelegenene Dorf abends die Gemeinschaft starrt, die Stühle in einer der engen Gassen vor einer Bar aufgereiht. Eines der Magazine, das die Höhlenforscher dabei haben, und das sie dann anzünden und in die Höhle werfen, um Sauerstoff zu messen, heißt Epoca. Das ist wohl das Leitmotiv des Films: der Hirte gehörte zu einer Epoche, die Forscher (und das Fernsehen) schon zu einer anderen. (IFFMH online)
On the Job: The Missing 8 Erik Matti Philippinen 2008
La Paz (Der Frieden) heißt die fiktive Provinz(stadt) auf den Philippinen, in der ein alter Politiker namens Manong Pedring Eusebio ein korruptes Regime führt. Nach Pressekonferenzen wird an die Journalisten snack money verteilt. Die Zeitung LPN versucht, ab und zu dagegenzuhalten, sie kümmert sich um die vielen Verschwundenen (desaparecidos), bei denen die Polizei nicht ermittelt, weil keine Leichen auffindbar sind. Auf den Herausgeber Arnel Pangan wird ein Killerkommando angesetzt, am Abend der Tat sind sieben Menschen in seiner Begleitung, darunter sein kleiner Sohn Glenn. Den Anschlag inszeniert Erik Matti in einer aufwühlenden Doppelmontage: Da das Massaker, dort ein Karaokeabend, bei dem Buddy Sisoy auf einer Party des Bürgermeisters für Stimmung sorgt. Er wird die Hauptfigur der Geschichte: er arbeitet auch bei LPN, und entdeckt nun seine Verantwortung. Bald wird seine Privatwohnung zum Hauptquartier einer Recherche, die Arnels Rolle in dem Machtgeflecht in La Paz zu rekonstruieren versucht. Bernie, der Sohn von Pedring, vermarktet sich als Saubermann und will in die nationale Politik. Zentraler Handlungsort ist auch das Gefängnis, von wo ein Mann namens Roman (mit markant verunstalteter, schlecht verheilter Nase) immer wieder zu Killerkommandos geholt wird, dadurch aber auch zu einem Belastungszeugen wird. Was früher das Tonband war, das jemand heimlich am Leib trug, um zu einem Geständnis zu kommen, ist nun Facebook Live. Schon vorher bindet Erik Matti die digitalen Newswelten immer wieder in Montagesequenzen ein. Der Soundtrack ist handlungstragend, Musik zum Beispiel Mangmang von Khavn (truth is we are helpless) oder Yoyoy Villame, westliche Klassiker (We Gotta Get Out of this Place von den Animals) sind in lokalen Cover-Versionen zu hören. Die Produktion von HBO Asia macht auch deutlich, dass es Unterschiede in den Professionalitätsstandards zwischen Norden und Süden nicht mehr gibt: The Missing 8 könnte auf jedem Sender laufen. Und sollte das auch, als aufschlussreiches Dokument aus Dutertes Philippinen. (IFFMH online)
Passing Rebecca Hall USA 2021
Zwei Frauen begegnen einander zufällig in Midtown New York: Irene Redfield und Clare Bellew. Es ist das Jahr 1929. Beide befinden sich in einer Welt, in die sie nicht gehören: denn sie sind nicht weiß, obwohl sie den Anschein erwecken. Clare hat tatsächlich „die Seite gewechselt“: Passing ist auch der Titel des Romans von Nella Larsen, den Rebecca Hall verfilmt hat, in Schwarzweiß, sodass das ganze Farbschema mit unterschiedlichen Helligkeitsgraden der Haut noch fantasmatischer erscheinen muss. Irene folgt Clare kurz in ihre Welt, sie trifft ihren Mann, einen Rassisten, und verrät sich beinahe. Wichtiger wird dann die umgekehrte Bewegung: Clare folgt Irene (zurück) nach Harlem, sie macht kein Hehl aus ihrer Sehnsucht, wieder daheim zu sein. Nämlich bei Menschen, unter denen sie nicht Gefähr läuft, „entdeckt“ zu werden. Beinahe stürzt sie Irenes Ehe mit dem Arzt Brian in eine Krise, denn der ist von der blonden Schönheit durchaus angetan. Hintergrund des Buchs ist die Harlem Renaissance, eine kulturelle Aufbruchsbewegung, die bei Rebecca Hall allerdings in einer klassizistischen Form wie in der Vergangenheit versiegelt wird. Der ganze Film hat etwas von einer Versuchsanordnung, und ist zugleich von einem umgekehrten Verfremdungseffekt geprägt. Bei beiden Hauptdarstellerinnen wirkt das „passing“ (also das als weiß „Durchgehen“) eben nicht so sehr wie ein zufälliger Effekt, dessen sich Clare für ein neues Leben bedient hat, während Irene einfach ab und zu einen Ausflug aus ihrer Identität macht (um sich ihrer dort um so stärker bewusst zu sein). Beide sind für meine Begriffe offensichtlich Schwarz, wodurch Rebecca Hall umso deutlicher macht, dass es Passing nur als ein Übersehen des Offensichtlichen geben kann: der Rassist ist blind für das, was er nicht wahrhaben will (dass es den für ihn entscheidenden Unterschied nicht gibt). Die Filmemacherin wiederum würde vermutlich überall als weiß „durchgehen“, legt aber (auch mit diesem Film) Wert darauf, dass sie Schwarz ist aufgrund ihrer Mutter, der Opernsängerin Maria Ewing, die einen afroeuropäischen Vater hatte. (Netflix)
The Wizard (Seinfeld Season 9 Episode 15)
Elaine geht mit einem Mann namens Darryl Nelson aus, von dem zumindest Jerry den Eindruck hat, er wäre „black“. Nicht, dass das eine Rolle spielen müsste, Elaine will allerdings trotzdem unbedingt Klarheit, und tappt die ganze Folge hindurch von einem uneindeutigen clue zum nächsten, bis sich schließlich das Missverständnis, sie und Darryl wären ein interracial couple, dergestalt auflöst, dass er sie (Elaine Benes!) für hispanic hielt – ein typisches Beispiel dafür, wie unverfroren in Seinfeld wirklich jeder auch noch so unplausible Aspekt einer questionable ethnicity (so eine der vielen nicht ganz gelungenen Umschreibungen in einem langen Reddit zum Thema) aufgespießt wird. Nebenbei ist das auch die Folge, in der Kramer in den Ruhestand geht (from the grind des Nichtstuns in New York), im Rentnerparadies Del Boca Vista in Florida ist er für eine Weile der Star. Der Schauspieler, der damals Darryl spielte, heißt übrigens Samuel Bliss Cooper und ist angeblich of English and Russian descent. (Netflix)
Visit, or Memories and Confessions Manoel de Oliveira Portugal 1982/2015
Im Mittelpunkt steht das Haus, in dem der portugiesische Filmemacher 40 Jahre lebte, seit seiner Heirat mit Maria Isabel im Jahr 1942. Ein Architektenhaus (von José Porto) im Wald in der Nähe von Porto. Zwei Stimmen wandern durch das leere Haus, ein Mann und eine Frau, die Texte stammen von Agustina Bessa-Luis. Dann sitzt plötzlich Manoel de Oliveira am Schreibtisch, vor sich eine alte Schreibmaschine, daneben ein Bild von der Mona Lisa. Er wendet sich an die Kamera, und beginnt zu erzählen, von seinen Passionen (neben dem Kino nennt er noch Agrikultur und Architektur), von seinem „Clan“, von der Heiligkeit und Jungfräulichkeit der Frauen, von seinen Vorstellungen vom Absoluten oder Göttlichen, von seiner „bottomless curiosity“. Er ist jetzt (damals) 73 Jahre alt, und muss das Haus verkaufen. Er hätte sich gewünscht, dass die Stadt Porto daraus einen öffentlichen Ort gemacht hätte, aber es fällt an jemand Privaten. Die finanziellen Schwierigkeiten rühren noch aus der Revolution von 1974 her: Die väterliche Fabrik wurde besetzt, Manoel de Oliveira stand also damals auf der Seite der Begüterten, vergleiche das Landgut in Torre Bela, von dessen Vergesellschaftung wir durch Thomas Harlans Film wissen. Eine der Konsequenzen aus diesen Erfahrungen ist das Drehbuch zu dem Film Non oder Der vergängliche Ruhm der Herrschaft, seine Auseinandersetzung mit dem 25. April, die er damals niederzuschreiben beginnt. Visit hat eine spannende Zeitlichkeit: gedreht 1982, blickt er (auch mit Home Movies und vielen Fotografien) bis an die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück, zeigt aber auch einmal Maria Isabel beim Blumenschneiden (und einer durchaus ungeschönt nüchternen Bestandsaufnahme ihrer Ehe), und eben den Regisseur selbst beim Abschied aus seinem Haus. 1993 ist (nach 1982) das zweite Produktionsjahr des Films, der allerdings (bis auf eine Ausnahme) zu Lebzeiten von Manoel de Oliveira nicht gezeigt werden sollte. Er wurde bekanntlich sehr alt, sodass die Öffentlichkeit Visit erst 2015 sehen konnte. Dass er sich als „infinitesimal presence“ in der Geschichte sah, also als flüchtige Erscheinung, hat er selbst mit diesem Dokument (und seiner Filmkunst natürlich) behauptet und zugleich dementiert. (MUBI)
Les amants du Pont-Neuf Leos Carax Frankreich 1991
Mit ein bisschen Vorwitz könnte man sagen, dass James Cameron sich bei Leos Carax für Titanic inspirieren ließ: jedenfalls deutet darauf das Schlussbild, Denis Lavant und Juliette Binoche als Bugfiguren himmelwärts und meerwärts gestreckt, unterwegs gen Le Havre, in eine von Jean Vigo inspirierte Kinoidee, dazu schmettern Les Rita Mitsouko Les amants. Dazu kommen die Produktionsumstände, die in beiden Fällen ins Gigantische tendierten. Bis auf ein paar auftrumpfende Szenen ist Les amants du Pont-Neuf aber ein intimer Film, anfangs auch dezidiert leise: drei Obdachlose auf der abgesperrten Brücke, die für Renovierungsarbeiten geschlossen ist. Ons (Hans), gespielt von Klaus-Michael Grüber, ist der Mann mit den Ampullen und dem Titanengesicht. Denis Lavant ist Alex, ein Obdachloser, über den zu Beginn ein Auto einfach drüber fährt, er trägt dann eine Weile Gips. Zu ihnen gesellt sich Michèle, eine Malerin, die allmählich erblindet. Im Hintergrund das Kaufhaus Samaritaine, und vor allem der Louvre. Die Liebesgeschichte kreist um einen großen, pathetischen Verrat, von dem Carax offen lässt, ob Michèle ihn überhaupt begreift: Alex zündet die Plakate an, auf denen die Vermisste zur Rückkehr aufgerufen wird, für ihre Augen gibt es eine Rettung, während Alex sie blind an seiner Seite haben möchte. Carax wuchtet sich über Figurenmotivation und Liebespsychologie einfach drüber, so wie Alex Michèle einfach ins Wasser schmeißt, als sie ihm ein zweites Mal ins Bürgerliche zu entgleiten droht. Das poetisch-realistische Ende wirkt trotzdem drangehängt, im Grunde ist die Geschichte zu Ende, als er ins Gefängnis muss. Ob ich damals verzaubert war, weiß ich nicht mehr; dieses Mal war ich es jedenfalls eher nicht. (Arsenal 35mm)
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