Zu Staub verdichtet

Lektüre: Zwei Bücher von Gwendolyn Leick

Von der Historikerin und Gewichtheberin Gwendolyn Leick erfuhr ich zuerst durch den Dokumentarfilm von Ruth Kaaserer. Später war sie einmal bei mir in Kreuzberg zu Gast, ihre Freundin Sissi Tax hatte sie zu einem FC Movie (Filmclub Movie) mitgebracht. Sissi hat mich auch auf die beiden Bücher aufmerksam gemacht, die Gwendolyn in den letzten beiden Jahren ihres Lebens herausgebracht hat, zwei sehr besondere, literarisch-kulturhistorisch-autobiographische Texte, mit denen sie aus ihrer Berufs- und Zweitlebenssprache (auf Englisch hat sie zahlreiche Standardwerke der Altorientalistik verfasst) in ihre Muttersprache zurückkehrte: Franckstraße 31 und In der Eselgrube gehen jeweils von einer Immobilie aus, im ersten Fall von dem Haus im Grazer Bezirk Geidorf, in das ihre Mutter sich 1960 mit ihren Töchtern einmietete, nachdem der Vater, ein Landarzt, bei einem Verkehrsunfall gestorben war, im zweiten Fall ein Bauernhaus in der Steiermark, das Gwendolyn 1972 kauft, um dort mit den zwei Männern, mit denen sie damals ihr Leben teilt, eine „Einheimische“ zu werden.

Raumprosa lautet der Untertitel des ersten Buches: ein sprödes Wort, das gut den Duktus trifft, mit dem Leick hier vorgeht. Sie nimmt sich das Gebäude tatsächlich Schritt für Schritt und Raum für Raum vor, „das exzentrische Haus mit seinem Abstandnehmen von der Einheit des Verbundes der konservativen Fronten“. Ein beiläufiger Hinweis auf Walter Benjamin (Berliner Kindheit) reicht als Inspiration, der Rest ist genaues, sensorisch reiches Erinnern und Rekonstruieren. Sie wird in diesem Haus erwachsen, und vergegenwärtigt sich diese Erfahrungen, indem sie das Gebäude vom Keller bis zum Dachboden langsam durchgeht. Im Untergeschoss zieht sie sich ganz auf ihre Sinneswahrnehmung zurück: „Der Gegensatz zwischen der harten, nach Erde riechenden Kohle und dem feinen Holzmehl, das nach Wald roch, war es wert, dort im fast ganz Finsteren zu hocken.“ Eine Frau ist im Untergeschoss eingemietet, auch mit ihr verbindet sich ein Geruchseindruck: „Uns Kindern war dieser Gestank von den armseligen Kammern auf dem Land bekannt, in denen altgewordene Mägde ihr Dasein fristeten. Es war der Geruch von ungewaschenen Leibern, vertrocknetem Urin, Mäusedreck, Ruß und Moder.“

Leick beschreibt immer wieder sehr genau Gerüche, man könnte fast von einer aromatischen Autobiographik sprechen. Auch das Vorzimmer oder der Vorraum ist vor allem in diesem Register präsent: „Nachdem dieser (Vorraum) meistens über keine direkte Belüftung verfügte, sammelten sich hier verschiedene Gerüche, die sich je nach Tageszeit und Jahreszeit aus dem gerade gekochten, den Poliermitteln, der Körperpflege, dem Rauchwerk, dem Blumenschmuck zusammensetzten und jeweils für den Haushalt charakteristisch und sofort zu erkennen waren; hier ein Aroma nach Hund, dort nach Gurkensalat oder Apfelkompott oder Zigaretten.“

Im Kabinett begann Leick „mit der mein Leben bestimmenden Tätigkeit des Lesens“, allerdings gibt es dazu auch noch einen anderen Ort: „Dann schenkte mir jemand ein Indianerzelt. Es war gerade groß genug für eine kauernde Person, aber hier konnte man wenigstens ungestört lesen“, sie liest Proust gleich auf Französisch, und dessen Bewusstseinsarbeit ist natürlich auch ein Motiv im Hintergrund von Leicks Schreiben, mit dem sie allerdings bewusst verknappt (tragische Ironie des Kleinverlegens: ausgerechnet hier findet sich ein schmerzender Druckfehler, Cambray statt Combray, ansonsten sind die Bücher aber sorgfältig gemacht).

Das Erwachsenwerden wird lakonisch vermerkt: „Ich kündigte die Mitgliedschaft bei den Sportvereinen und begann mein Sexualleben.“ Es ist dann das sogenannte Herrenzimmer, das eigentlich der Bruder bewohnt, „in dem von mir und meinen zwei Freunden der Übergang von einer konventionellen Zweier- in eine weniger konventionelle Dreierbeziehung auf dem Doppelbett, das sich der Bruder mittlerweile angeschafft hatte, vollzogen wurde“.

Die Mutter wird als eine hartnäckige „alte Nazi“ beschrieben, eine Verehrerin der Schriftstellerin Ingeborg Teuffenbach: „Als ich die Mutter fragte, ob sich die in Graz befindlichen Juden auch auf diese Weise (im Lüftungsschacht des Klosetts) versteckt hätten, meinte sie, dass alle Grazer Juden nach Palästina oder sonst wohin ausgewandert wären. Das Schicksal der Grazer Juden interessierte sie nicht genug, um zu erfahren, was mit Grazer Juden, die nicht nach Palästina ausreisen wollten oder konnten, hätte passieren können. Wenn ich an das Klosett in der Franckstraße 31 denke, so verbindet sich mit der Erinnerung an den üblen Geruch und an den zu lauten Wasserschwall die Erinnerung an die Bedrängnis von etwas Unheimlichem, etwas, dass ich hinter dem Rücken, ungesehen, abspielt.“ Die Beziehung zur Mutter hat aber auch andere Facetten, „ich bemerkte in mir eine fast kindliche Zärtlichkeit in ihrer Nähe, die mir dann besonders schmerzlich abging, als ich nach ihrem Tod, allein auf der Eckbank sitzend, traurig und schuldbewusst an unsere Kämpfe dachte, die sich hier abgespielt hatten.“

Auf dem Dachboden fasst Leick in einer Szene, die der bei den Kohlen und beim Holzmehl unten entspricht, noch einmal alles zusammen: „Sich in diesem Dachboden aufzuhalten, war weniger geheimnisvoll als in denen der Altstadthäuser, dazu war das Haus zu neu, aber ich erinnerte mich an die Heuböden auf dem Land am Ende des Winters, wenn das Heu bereits verfüttert war, dann traten die Balken und Traggerüste des Dachs, die dicken Bohlen der Böden in ihrem Wesen als etwas Festes und Beständiges in Erscheinung, als etwas dem Feuchten der Erde Enthobenes, Schweigendes, in dem die Zeit sich zu Staub verdichtet.“

In dem zweiten Buch In der Eselgrube erfahren wir den Namen der Großmutter väterlicherseits, die eine beeindruckende Figur gewesen sein muss: Mabel S. Haynes, Ärztin mit Abschluss der Johns Hopkins University, war eine Weile in einem „love triangle“ mit Gertrude Stein, hat später in Österreich zweimal geheiratet und hinterließ Gwendolyn das Geld, mit dem sie das Bauernhaus kaufte. Ihr damals Verlobter stellte „sich vor, dass man auf dem Land so etwas wie das Rosenhaus in Stifters Nachsommer anstreben könnte“.

Hier geht Leick kulturhistorischer vor, sie arbeitet auch stärker mit Quellen neben den eigenen Eindrücken: „Erst infolge der anlässlich des Tridentinischen Konzils von 1561 beschlossenen Verordnung, alle in einer Pfarrgemeinde vorgenommenen Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen mit ausdrücklicher Nennung der Namen der Parteien in speziell dafür anzulegenden Volumen zu vermerken (in libro eorum nomina describat), tritt die ländliche Bevölkerung in die Geschichte ein.“ Mit diesen Pfarrmatriken beschäftigt sie sich eingehend, auch die Franziszeische Landesaufnahme (ein kartographisches Projekt im frühen 19. Jahrhundert) spielt eine große Rolle.

Das Glück der Hausbesitzerin ist wieder olfaktorisch-geniuslocisch durchwirkt: „Auch der Besuch des Aborts war genussreich, denn ich saß da auf dem bereits weich gesessenen Holzsitz und blickte durch das herzförmig aus der Bretterwand geschnittene Lüftungsloch durch die Zweige der nahe stehenden Mostapfelbäume über den Hang ins Tal und auf mein Haus.“ In dem Haus ist Leick oft allein, nachdem ihre beiden Gefährten wegen einer Cannabis-Plantage ins Gefängnis müssen. Der Simmerlbauer, der Nachbar, ist in dieser Zeit ihre wichtigste Bezugsperson. Von einem der Vorbesitzer, einem Baron, erzählt sie die Geschichte, dass er ein Zimmer hinterließ, in dem sich ein Geheimarchiv mit pornographisch-pädophilen Schriften befand, immer wieder von Hand abgeschrieben, „ein obsessives Schreiben und Abschreiben“, die verschlossene Geschichte einer Leidenschaft, von der nicht weiter deutlich wird, wie weit sie ging: „seine wahre Freude war es, die Bauernbuben zu beobachten, die sich dort mit oder ohne Unterhose tummelten und welche er dabei fotografierte“.

Als ihre Beziehungen zu kompliziert werden, löst sie den Haushalt in dieser Landschaft, „in der man sich maßvoll einrichten kann“, auf, und geht nach London, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. In einer Gegenwart, in der die Heimat immer präsent war: „Tief unter der Erde konnte eine aus dem Augenwinkel wahrgenommene Farbschattierung eines Plakats der Londoner Untergrundbahn durch eine davon ausgelöste unwillkürliche Drehung des inneren Kaleidoskops in einem Moment die moosbewachsenen Furchen eines Eselgruber Riedels vor meinem inneren Auge, den Duft der feuchten Erde in der inneren Nase, den Schrei eines Eichelhähers im inneren Ohr in einem einzigen Akkord aufsteigen lassen.“

Am 19. November 2022 ist Gwendolyn Leick in London gestorben. Ich habe nirgends einen Nachruf gefunden, das hier soll auch keiner sein, stattdessen eine Empfehlung, ihre zwei österreichischen Bücher, die ich für groß halte, zu lesen.

Franckstraße 31. Raumprosa, Edition Korrespondenzen 2021

In der Eselgrube, Edition Korrespondenzen 2022

 

 

 

 

 

 

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