Ausgeklügelte Zauberei
Lektüre: «Aschkenas in der deutsch-jüdischen Akopalypse» von Michael Chighel
Den jüdischen Leser und Denker Michael Chighel habe ich 2020 mit seinem ersten Buch über Heidegger und Hebräischen Humanismus entdeckt – ich habe ihn damals auch für die FAS interviewt. Im September 2021 (an einem Laubhüttenfest) ergab sich einmal eine Gelegenheit zu einer persönlichen Begegnung in Wien, ansonsten folgen wir einander seither auf Facebook und nehmen einander dort wahr. Nun hat er ein zweites Buch geschrieben. Wieder hat Peter Trawny es aus dem Englischen übersetzt und bei Klostermann in der Roten Reihe untergebracht, also bei einem philosophischen Verlag, der auch die Heidegger-Gesamtausgabe macht. Wieder ist es ein Buch, das in meinem Leseleben als ehemaliger Student der Theologie und ehemaliger Katholik einen Meilenstein darstellt.
Chighel legt eine «esoterische Theorie von Aschkenas» vor. Was ist Aschkenas? Im Wesentlichen meint er eine tausendjährige Geschichte, in der die jüdische Religion mit der entstehenden deutschen Kultur und ihrer Sprache eine Verbindung einging. Peter Schäfers Das aschkenasische Judentum wäre das historische, wissenschaftliche Sachbuch, das dieses Thema orthodox abhandelt. Chighel hingegen geht «esoterisch» vor, man könnte auch sagen: spekulativ oder zuspitzend. Er geht von Hermann Cohens Buch über Deutschtum und Judentum aus, und findet in der Gegenüberstellung von Kants Sittengesetz und der jüdischen Tora einen Ausgangspunkt. «Kant ist der Moses ... eines Judentums, das verzweifelt von der Universalität einer brüderlichen Menschheit träumt, die von der Vaterschaft Gottes getrennt ist.» In diesem Satz steckt schon fast alles, denn Chighel will zu der Vaterschaft Gottes zurückführen, und zwar ganz buchstäblich, denn frühkindliche Psychologie wird ein wichtiger Aspekt seiner Argumentation sein. Eine Ambivalenz steckt in dem Satz auch, denn diese Vaterschaft Gottes gilt als Bund ja nur für einen Teil der Menschheit, eben den jüdischen, dem die Tora gegeben wurde.
Ein paar Seiten später skizziert der das Programm: «Aschkenas (ist) der Name eines Prinzips, das die mosaische Tora mit Reformation und Aufklärung und mit der Apokalypse des Abendlandes in seinem Wesen (Lacoue-Labarthe) verbindet», also mit Auschwitz. Luther ist im Prozess der Etablierung dieses Prinzips die entscheidende Figur, weil er einerseits das Deutsche als Sprache maßgeblich geprägt hat, und weil er die wichtigste Entscheidung für Aschkenas traf: er entschied sich gegen die «guten Werke», die im Judentum als Befolgung der Tora das tägliche Brot sind, und für «sola gratia», also für einen Gott, den Chighel zu einem Golem erklärt, also zu einer Art Automatenmonster.
Luther nimmt mit seiner Übersetzung des hebräischen Begriffs chessed als lateinisch gratia eine gravierende Weichenstellung vor, wie er auch den jüdischen Gott Elohim nicht verstanden hat. Chighel interessieren auch bei Luther die frühkindlichen Aspekte, seine «Verzweiflung», die er in einem Kinderlied von seiner Mutter empfängt: «Mir und dir ist niemand hold, das ist unser beider Schuld.» Luther war eine «Seele mit geschrumpter Lebenskraft». Die Gnade (gratia) fand er «als Betäubungsmittel in der Apotheke des Paulus».
Es ist einigermaßen kühn, in seiner «esoterischen» Zusammenschau aber auch sehr erhellend, wie Chighel von hier aus durch Reformation und Aufklärung hindurch bis Auschwitz eine Fundamentalkritik des protestantisch-deutschen Abendlandes entwirft, die im Grunde auf dem kontingenten Faktum ruht, dass ein einziges gebrochenes oder vernichtetes Inidividuum (Luther was allerdings mit seinen Erfahrungen durchaus repräsentativ) sich nach seiner «schicksalhaft unglücklichen Kindheit» keinen Vatergott vorstellen konnte, der mit ihm glücklich sein möchte. «Luther weiß, dass er in den Augen Moses ein Perverser ist» – deswegen bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als Antisemit zu werden.
Der Golem, der an die Stelle des unaussprechlichen Heiligen (Schem Hamephorasch) der jüdischen Bibel tritt, wird zum Über-Ich bei Freud und zur Autonomie bei Kant. «Das ist die überstürzte Geste von Kants Lutheranismus: Seine Autonomie hat ihren Ursprung in der Ängstlichkeit vor Priestern, die ihre Anhänger mit ausbeuterischen Kirchengesetzen indoktrinieren, und endet in einer Ablehnung des göttlichen Lehrers, der die Tora, die Unterweisung angeboten hat.» Und noch einmal anders: «Aufklärung bedeutet, dass die Stimme des göttlichen Lehrers zum Schweigen gebracht werden muss.» Mit diesem göttlichen Lehrer ist Chighel als Leser der heiligen Schriften der Juden in inniger Verbindung. Sein (das) Judentum «basiert auf dem Vertrauen in die Wirksamkeit menschlicher Werke», sein Gott freut sich daran, wenn die Menschen die Schöpfung als mikrokosmisches Ereignis immer wieder nachstellen.
Chighel kommt zu dem Schluss, dass «das Deutsch-Jüdische als ein kolossales, im Übergang von Chessed zu Gratia gründendes Scheitern betrachtet werden kann – aber als apokalyptisches Scheitern von offenbarungshaftem Umfang». Diese Offenbarung gipfelt in Auschwitz. Chighels esoterische Konstruktion bewegt sich hier in schwindelerregenden Bereichen, eine philologisch tragfähige Genealogie schafft er nicht. Er nähert sich Auschwitz einerseits über den Begriff der Arbeit. Bei Luther verdient man sich die Gnade ja durch den Glauben, daraus wird eine «ausgeklügelte Zauberei, mit der Gott als Dämon heraufbeschworen und als Golem konstruiert wird, um den Willen des Menschen zu erfüllen. Gott wird als Über-Arbeiter beschworen und mobilisiert». Chighel neigt auch manchmal zum Bonmot, zum Beispiel hier: „Wenn der Kapitalismus die Ordnung ist, in der die ideale Arbeit die ist, die von jemand anderem, dem Arbeiter, geleistet wird, dann ist der Glaube die Ordnung, in der der Mitarbeiter des Monats (und jeden Monats) Gott ist.»
Und dann die beiden Sätze, in denen die Esoterik an ihre Grenzen stößt. „Luther, der an der Arbeit verzweifelte, träumt von einem Universum unendlicher Entspannung.“ Das führt, durch 500 Jahre Geschichte, zu dem «Ziel der absoluten Entspannung ... das unter dem Namen Auschwitz bekannt ist». In der Schoa zeigt sich die ganze Verirrung einer globalen Leitkultur, der deutschen, die sich konstituierte als Fehlverständnis des Jüdischen: „Die begreifende Beschwörung des Großen Dämons namens Gott oder die magische Konstruktion des Gnaden-Gesetz-Golems aus Chessed und Din, die als Reformation und Aufklärung im innersten Heiligtum von Aschkenas ausgeführt wurde, ist das Geheimnis, das sich in Auschwitz offenbarte.»
In einer Nebenbemerkung deutet Chighel noch eine konketere Spur an, die aus der Reformation nach Auschwitz führt, wenn er davon spricht, man könnte/sollte «in der Rassenkunde einen Avatar von der Lehre von der doppelten Prädestination ... vermuten».
Aschkenas ist ein radikales Buch. Im Grunde wäre die adäquate Reaktion, Bibelhebräisch zu lernen, nicht, um zum Judentum zu konvertieren, aber um noch mehr von dem Leben mit Texten zu verstehen, das Michael Chighels Alltag mit seinem sympathisierenden Gott ausmacht (einem Gott, der von geläufigen Selbstverständnissen wie «Ich bin Atheist» oder »Ich glaube an Gott» in meinen Augen nicht berührt wird). Als ich in jungen Jahren unter anderem Katholische Theologie inskribierte, träumte ich von Büchern wie diesem. Viele Jahre später bin ich keineswegs in der Lage, es auf der Höhe des Autors oder berufener Kritiker zu lesen. Aber ich kann zumindest versuchen, meine Lektüre nachvollziehbar zu machen.
Michael Chighel: Aschkenas in der deutsch-jüdischen Apokalypse, Vittorio Klostermann Rote Reihe 2025
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