Zerbrochener Universalismus
Lektüre: "Kreolische Konstellationen” von der jour fixe initiative berlin
Von der jour fixe initiative berlin bekomme ich Hinweise auf Neuigkeiten auf Facebook. Ich habe mich dafür eingetragen, weil ich die Bücher von Bini Adamczak sehr schätze, der ich auch dort folge, und die Mitglied der besagten, siebenköpfigen Gruppe ist. So kam mir der Sammelband Kreolische Konstellationen unter, der dieses Jahr herauskam, und Texte zu Kolonialismus Imperialismus Internationalismus versammelt.
«An der Aufgabe, marxistische und internationalistische Traditionen miteinander zu verbinden, ist die Linke in den Metropolen historisch gescheitert», heißt es im Vorwort. Und pauschal steht am Anfang die Frage: Wo ist der Antiimperialismus geblieben? Oder auch: Was hätte das Scheitern der antikolonialen Befreiung abwenden können? Eindeutige Antworten gibt es dazu nicht, das liegt wiederum in der Natur eines Textkompendiums, das aus verschiedenen («häretischen») Ansätzen und eben «kreolisch» (hier: zugewiesene Denkpositionen verlassend) mit diesen Themen umzugehen versucht.
Paul Dziedzic vermerkt das Fehlen einer «gemeinsamen internationalistischen Sprache» vor dem Hintergrund des Jahres 2019, «als überall auf der Welt Aufstände ausbrachen, aber hierzulande jegliche Verbindung zu ihnen fehlte». Tatsächlich ist es erstaunlich, wie wenig Zusammenhang zwischen den vielen Aufstandsbewegungen der letzten Jahre hergestellt wird: Sudan, Algerien, Chile, aber auch Belarus oder sogar Tschechien. In allen diesen Fällen geht es in erster Linie um etwas, was man als good governance bezeichnen könnte, also darum, sich so regieren zu lassen, dass zwischen Herrschaft und Volk kein eklatanter Widerspruch besteht. Oder mit einem geläufigen Wort: es geht oft zuerst einmal um (weltweit vernetzte, imperiale) Korruption und deren Eindämmung.
Dieses zentrale Phänomen taucht auch in dem Band Kreolische Konstellationen für meine Begriffe zu selten auf, es passt nicht so richtig in die Kategorien, die hier kreolisiert werden sollen, und das sind nun einmal vor allem die aus den sozialistischen Versuchen des 20. Jahrhunderts. Brigitte Studert schreibt darüber, wie die antikolonialen Bewegungen vor allem Afrikas durch die Russische Revolution und die Komintern «in den revolutionären Imaginationsraum des Westens» kamen. Dabei ging es auch darum, ob das «breite desorganisierte Proletariat der Kolonien» als revolutionäres Subjekt durchgehen konnte – also implizit um geschichtstheoretische Fragen, auf die der Marxismus ja oft «wissenschaftliche» Antworten parat zu haben meinte.
Elfriede Müller steuert einen sehr lesenswerten Beitrag über C.L.R. James bei, den Historiker und Theoretiker der Haitianischen Revolution, der nach eigenen Wegen für eine kommende afrikanische Revolution suchte, und dafür in den Räten in Ungarn 1956 ein Vorbild sah (!), während Frantz Fanon auf die Dorfversammlungen der algerischen Revolution 1954-1962 verwies. Maria Paula Meneses schreibt über Mosambik: «Die afrikanischen Formen des Sozialismus kombinierten traditionelle soziokulturelle Merkmale von Gleichheit, Kooperation und Humanismus, die vorkoloniale Gemeinschaften in Afrika kennzeichneten, mit dem Wohlstand und dem Organisationspotential, das moderne Produktionsmethoden und staatliche Institutionen gemeinsam ermöglichen konnten.» Ein eingehenderer Versuch einer Analyse, woran der Versuch der FRELIMO, in Mosambik eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, scheiterte, unterbleibt leider.
Der für mich interessanteste Text stammt von Lutz Fiedler: Jean Améry liest Frantz Fanon. Ein Überlebender von Auschwitz, einer der wichtigsten jüdischen Intellektuellen in Westeuropa nach dem Krieg, liest den Theoretiker des Postkolonialismus – und zwar zuerst einmal begeistert. Fiedler verzeichnet eine «identifikatorische Hinwendung» Amérys zu Fanon und sieht eine mögliche «Brücke zu einer neuen globalen Gedächtniskultur». In Amérys Text Die Geburt des Menschen aus dem Geist der Violenz entsteht die Analogie aus erlittener Gewalt, und Gegengewalt bildet einen gemeinsamen Erwartungshorizont. Améry denkt über die «Möglichkeit einer aufhebenden Gewalt» nach – einmal noch braucht es Gewalt als Geburtshelferin der Geschichte im Befreiungskampf der Kolonien.
1969 schreibt er einen Text über das Ghetto: Im Warteraum des Todes. Hier denkt Améry seine (die jüdische) Opfererfahrung anders: er sieht eine «totale Einsamkeit», eine Erlösung in der Revolte erscheint ihm nun undenkbar. «Der Nazi» wollte die Juden zum Anti-Volk machen und habe sie dadurch «in einem ganz bestimmten Sinn für immer erhöht». Das ist, in anderen Worten, eine Bekräftigung der Singularität der Shoah. Und dann ein schwieriger Satz: «Es wird die Welt sich diesem Druck, der alles andere ist als gemeine Nötigung, noch auf lange Zeit hin fügen müssen.» Woher hier das Wort Druck kommt, erschließt sich aus dem Zitat-Kontext (ich habe nachgeschlagen, im Band 7 der Werkausgabe): «Es nützt den Neo-Nazis nichts, wenn sie sagen, die Juden wollten mit ihren Millionen Geopferter die Welt erpressen! Es wird die Welt sich diesem Druck, der alles andere ist als gemeine Nötigung, noch auf lange Zeit hin fügen müssen.»
Améry trifft hier den neuralgischen Punkt, der vielleicht besser verständlich macht, warum so viele Linke zuletzt nicht nur Schwierigkeiten hatten, den Terror der Hamas angemessen zu verurteilen, sondern vielfach sogar das Existenzrecht des Staates Israel in einen blinden Fleck rückten, wo es im Grunde durch Beschweigen bestritten wird. Améry sagt deutlich: «die Welt» muss nun unter Druck mit den Folgen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik umgehen, sie muss sich der Tatsache fügen, dass das jüdische Existenzrecht nun «erhöht» ist (und auch in einem Staat im Nahen Osten realisiert). Deutschland macht, so könnte man sagen, nicht erst seit dem 7. Oktober, aber seither noch einmal ausgeprägter eine Politik dieser «Erhöhung». Das stößt auf Widerstand bei Menschen, die andere historische Gewichtungen suchen, die – Amérys Worte sind wirklich instruktiv – einen anderen «Druck» aufbauen wollen. Bei Améry jedenfalls setzte sich statt der menschheitlichen Hoffnung auf allgemeine Befreiung aus dem Kolonialismus «eine Schicksalstreue aus der historischen Erfahrung eines zerbrochenen Universalismus» durch, so Fiedler. Und ein Bekenntnis zum Staat Israel.
Mit Überlegungen von Nora Sternfeld über einen «situierten Universalismus» schließt der Band. Sie nimmt Bezug auf politische (Hegemonie-)Theorie von Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Oliver Marchart, Jacques Rancière (Das Unvernehmen) und schließlich vor allem Norman Ajari. Und schlägt vor, nicht von Universalismus, sondern von Universalisierung zu sprechen, im Sinn eines «radikaldemokratischen Moments der Ausweitung dessen, was wir unter «alle» verstehen». Aufklärung, die sich dem Anspruch nach auf «alle» bezog, aus der also die Idee des Universalismus stammt, wird bei Sternfeld mit dem Begriff «Vernichtungspotential» assoziiert, was in dieser Beiläufigkeit riesige Resonanzräume öffnet. Der Begriff «alle» soll «nicht totalitär geschlossen, sondern offen und umkämpft» bleiben.
Ich frage mich dabei: Gibt es für das Subjekt «alle Menschen», das in den Menschenrechtserklärungen gesetzt wird, und das gewiss in den konkreten Geopolitiken immer wieder gewaltsam durchkreuzt wird, nicht doch einen theoretischen und auch praktischen Ort, von dem aus sich der Kampf um entscheidende Berechtigungen und Ermächtigungen (Sudan, Algerien, Chile) besser konzeptualisieren lässt als in den vielen partikularen Emanzipationen (Black Lives Matter, die Indigenen in Chile, Uiguren in der VR China, ...), die alle natürlich unumgänglich sind? Sogar Israel/Gaza wird auf diese Weise zu einem Widerspruch, von dem auf vielen Demonstrationen der Eindruck entsteht, es gehe um ein Entweder/Oder. Also: Ist nicht Universalismus die eine Situierung, auf die jede Universalisierung zulaufen muss?
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