Weltreich der Mitte

Politische Theorie aus China: "Alles unter dem Himmel" von Zhao Tingyang

Amerika, China, Europa. Vor wenigen Jahren waren das noch drei Größen in einem atemberaubenden Prozess der Globalisierung. Nun aber sieht es so aus, als könnte aus der weltweiten Integration auch eine ganz andere Ordnung entstehen: ein Nebeneinander von Blöcken, eine „entkoppelte“ Welt eines gescheiterten Zusammenwachsens der Welt. In den Vereinigten Staaten spricht man jedenfalls schon unverhohlen von „decoupling“, die Bedingungen einer Trennung von China kann die Supermacht aber nicht mehr einseitig diktieren. Vor diesem allgemeinen Befund eines Zeitungslesers habe ich ein Buch des chinesischen Philosophen Zhao Tingyang gelesen: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung macht zwar einen deutlich größeren Horizont auf als die letzten dreißig Jahre. Aber es ist doch in vielerlei Hinsicht ein Buch der Stunde. Auch wegen der einen Herausforderung, die rivalisierende Supermächte nur um den höchsten Preis ignorieren können: der Klimawandel ist nun einmal ein Prozess von planetarischer Dimension.

Zhao Tingyang hat Großes vor. Er möchte die westliche politische Philosophie auf eine neue, chinesische Grundlage stellen. Er greift dafür auf ein Konzept zurück, von dem er sich eine Lösung der Staatenkonkurrenz verspricht: Tianxia („alles unter dem Himmel“) ist eine politische Entität, also eine Organisationsform, die über den Staaten steht. Der Nationalstaat mit seinem abgegrenzten Territorium und mit seiner durch Rechtstitel definierten Bevölkerung war bisher weitgehend der Weisheit letzter Schluss in der institutionellen Entwicklung des Politischen. Die Europäische Union geht darüber nicht hinaus, weil sie ihren Zusammenschluss ihrerseits wieder nach Mustern der Staatlichkeit schlecht und recht organisiert. Die amerikanische Hegemonie verlängert nur die zwischenstaatlichen Konkurrenzmechanismen.

Wie aber könnte eine „Souveränität der Welt“ aussehen? Eine „Inklusion“, die kein Außen mehr kennt, sondern in der tatsächlich alles „unter einem Himmel“ an einem gemeinsamen Weltinteresse ausgerichtet würde? Das chinesische Konzept von Tianxia könnte laut Zhao Tingyang helfen, eine Einseitigkeit der westlichen Entwicklung zu korrigieren: Tianxia bedeutet Weltpolitik, und zwar schon zu einer Zeit, in der in der griechischen Antike das von der Polis ausgehende Konzept von Staatlichkeit die Richtung in die heutigen Demokratien wies. In der klassischen Tradition begann in Athen das, was wir heute zumeist unter Politik verstehen. Zhao Tingyang macht nun ein Konzept geltend, das diese einseitige Sicht nicht nur differenzieren, sondern sogar überholen könnte. Er stellt die chinesischen Klassiker, vor allem Laozi, Konfuzius und Xunzi, an die Seite von Platon und Aristoteles, und stellt sie dann auch noch Hobbes und Rousseau und der ganzen Moderne an die Seite – und gegenüber.

Denn das Tianxia ist mehr als nur eine Ergänzung. Es ist ein Konzept, das ganz neu ansetzt. Zhao Tingyang hat dabei allerdings ein Vorurteil zu gewärtigen: Denn wenn er eine neue Weltordung skizziert, dann steht im Hintergrund ja auch immer das zunehmend wachsende Selbstbewusstsein der Parteidiktatur in seinem Land, die sich mehr und mehr auch nach außen als normativ versteht, also als ein Modell für die Welt. Die historischen Vorbilder für das Tianxia findet Zhao Tingyang aber alle in früheren Epochen der chinesischen Geschichte, mit einer genaueren Einschätzung der historischen Rolle der gegenwärtigen Volksrepublik hält er sich zurück. Ein größerer Schwachpunkt liegt aber wohl darin, dass eine wirklich fundierte Diskussion mit dem Universalismus der Moderne unterbleibt: die allgemeinen Menschenrechte dienen sicher häufig hegemonialen Ansprüchen, aber es ist immer noch offen, ob sie nicht doch Grundlage einer Weltsouveränität werden könnten. Bezeichnenderweise räumt Zhao Tingyang auch ein, dass das Individuum im Tianxia eigentlich keine Rolle spielt – es entstammt einer Welt, in der die Sippe die kleinste Einheit war.

Man wird dieses Buch wohl eher als eine Skizze lesen, von der zahlreiche wichtige Impulse ausgehen könnten. Zhao Tingyang bringt China auch als eine intellektuelle Großmacht auf die Agenda, und er scheut dabei vor großen Worten nicht zurück: die Moderne geht für ihn zu Ende, die Weltgeschichte hingegen hat noch gar nicht begonnen. Eine Weltsouveränität sieht er gegenwärtig vor der Herausforderung von „netzförmigen globalen neuen Machtentitäten“. Kapital, Technologie und Dienstleistungen bilden inzwischen Strukturen, die Staaten herausfordern und vielfach überfordern, und für die auch das eher abstrakte Tianxia keine Anworten bereit hält. Zhao Tingyang sieht sogar die Möglichkeit einer neuen „Übermenschen“-Klasse, die den alten Rassismus hinter sich lassen würde in Richtung eines „Speziesmus“. Damit würden die Menschenrechte von oben aufgekündigt, von einer Elite, die sich eine eigene Ordnung schafft. In etwaigen Versuchen, diese neuen globalen Superstrukturen zu regulieren, sieht Zhao Tingyang am ehesten Ansätze, wie sich ein Tianxia-System konkret etablieren könnte. Das aber sind Aspekte, die von der politischen Theorie in eine Praxis führen, die derzeit stärker denn je im Zeichen von Konflikten der Moderne steht.

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, Suhrkamp Verlag

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