Das Ding

Lektüre: Henry James

The Beast in the Jungle (1903, Erzählung)

Die Erzählung The Beast in the Jungle (1903) von Henry James wurde jüngst gleich zweimal verfilmt, einmal von Patric Chiha und einmal von Bertrand Bonello. Es hätte dieser Anlässe nicht bedurft, sie zu lesen, sie ist auch so schon berühmt genug. Ein Mann und eine Frau treffen bei einem gesellschaftlichen Anlass aufeinander: John Marcher und May Bartram. Er erinnert sich vage. Es gibt da etwas, was ihn mit May verbindet. Ihr Gesicht «affected him as the sequel of something of which he had lost the beginning». Sie weiß sehr wohl noch, worauf ihre Bekanntschaft beruht («the young woman herself had not lost the thread»). Zehn Jahre zuvor hatte es eine Begegnung in Neapel gegeben, und damals hatte er sie in etwas eingeweiht, was er eigentlich für sein Geheimnis hält (und für den Grund dafür, dass er so «abominably alone» ist): er sieht sich aufgespart für etwas, das ihm bevorsteht, für etwas, das sein Leben grundlegend verändern würde. Es ist May, die am ausführlichsten in Worte bringt, was dieses merkwürdigen Gefühl von Erwählung genau ist: «the sense of being kept for something rare and strange, possibly prodigious and terrible, that was sooner or later to happen to you, that you had in your bones the foreboding and the conviction of, and that would perhaps overwhelm you».

Sie ist, schon seit damals, die Eingeweihte, sie wird nun auch durch die Wiederbegegnung wie von selbst Marchers Begleiterin im Warten auf «the great affair». James belegt die strukturelle Leerstelle seiner Erzählung mit zahlreichen Umschreibungen, sehr treffend auch mit «the thing (will of itself appear natural)», es wäre also zumindest ein Ereignis im kategorialen Rahmen unserer Welterfahrung (nichts Übernatürliches, nichts, was die Geschichte beenden würde). «I’ll watch with you.» Mit diesem einfachen Satz von May sind die beiden auf eine Weise füreinander bestimmt, die auch ein Liebesverhältnis werden könnte, aber zugleich ist es die Natur seiner Hervorhebung als «a haunted man», die das ausschließt (und damit ist auch «marrying out of the question», dabei wäre das für sie durchaus von Interesse, denn zu Beginn wird erwähnt: «she was there on harder terms than anyone», sie wäre also durchaus auf Versorgung durch Heirat angewiesen). Denn «his conviction, his apprehension, his obsession, in short, was not a condition he could invite a woman to share; and that consequence of it was precisely what was the matter with him».

Marcher ist auf einer Tigerjagd, die konkret aber keineswegs so abenteuerlich ist, denn das Warten benennt James als eine «vigil» (darauf, dass eine Bestie aus dem Dschungel hervorspringt, so die Metapher, die der Titel der Erzählung aufgreift). Diese «Nachtwache» wird vorwiegend schweigend («in silence») zugebracht. May bestärkt Marcher dabei fortwährend, sie bringt ihn allmählich sogar dazu, sich zu fragen «if she hadn’t even a larger conception of singularity for him than he had for himself». Diese Singularität ist aber gar nicht so singulär, sie ist erkennbar als ein Geschlechterprivileg: nur ein Mann würde (oder könnte) «such a feature in one’s outlook» so wichtig nehmen. Könnte sich so wichtig nehmen.

James schafft einen großartigen Suspense: «the great accident», «the appearance» stehen immer weiter noch bevor, zugleich wird aber immer klarer, dass nur May wirklich daran glaubt: «the consummation depended, for him, clearly, more and more on his companion» (großartig mehrdeutige Formulierung, für die Verhältnisse von Henry James fast eine Sexszene, natürlich eine mit der Sprache). Marcher geht irgendwann so weit, dass er sich selbst als «donkey» bezeichnet, in der Meinung, May könnte (müsste!) ihn eigentlich so sehen. Die beiden werden alt miteinander, «the thing that we began in our youth to watch for» tritt ein, ist längst eingetreten, wird nie eintreten, denn es wurde versäumt in einer «superstition of the Beast», die natürlich auch auf die unausweichliche Zirkularität unseres Lebens mit der Sprache verweist (das Beast hat auch Aspekte eines Dings an sich und eines Erhabenen).

Es ist dann fast ein wenig zu konventionell, dass James die Sache schließlich doch noch deutlich klar macht: es war demnach (was man sich beim Lesen wohl die ganze Zeit dachte) die Liebe, die Marcher verfehlte, weil er sich für etwas Besonderes hielt, weil er meinte, es gäbe noch etwas jenseits der Liebe, etwas nur ihm Zugedachtes, etwas, das ihn nicht singulär, sondern solitär machte. «Her dying, her death, his consequent solitude – that was what he had figured as the beast in the jungle, that was what had been in the lap of the gods.” Eine jugendliche, männliche Größenphantasie endet in der Einsamkeit einer Lebensverfehlung.

John Delavoy (1898, Erzählung)

Bei einer Theaterpremiere erblickt der Erzähler eine Frau, die er eigentlich nicht in Gesellschaft vermuten würde. Denn sie ist die Tochter, später stellt sich heraus: die Schwester, eines bedeutenden, sehr zurückgezogenen Schriftstellers: John Delavoy, «immense novelist», ist kürzlich verstorben, eigentlich ist die Trauerzeit noch nicht um. Die Frau ist schön, und zwar «almost occultly so». Sie ist ist in Begleitung eines Lords, so heißt es zuerst, aber das erweist sich als Irrtum. Der ebenfalls sehr gut aussehenden Mann ist aus der Branche: Mr. Beston, «the mighty editor» (einer Zeitschrift namens Cynosure mit beträchtlicher «circulation»). Der Erzähler hat ihm eben erst schriftlich etwas vorgeschlagen, und wartet noch auf Antwort. Nun sieht er ihn leibhaftig.

Es ergibt sich eine Dreiecksbeziehung (plus den abwesenden John Delavoy). Der Erzähler schlägt Beston einen Text über den Schriftsteller vor, der sagt zu, der Text wird geschrieben, Quelle sind Delavoys Werke, und das, was Miss Delavoy (es fällt, meine ich, kein Vorname) von ihm weiß und erzählt. Ein «kritischer» Text, eine Studie («study»), nach allem, was man schließen kann, ein Referenztext auf Grundlage von Werkkenntnis. Zu den Eigenheiten von John Delavoy gehört auch, dass es kein Bild von ihm gibt. Bis sich herausstellt, dass seine Schwester in einmal gezeichnet hat – «in pencil». Diese Darstellung bildet den Umschlagpunkt. Denn überraschend erweist sich, dass Beston den Text des Erzählers (der er als «neat» bezeichnet, in dem es aber auch zu sehr um «the relation of the sexes» geht, im Werk von John Delavoy, muss man dazudenken) noch gar nicht gelesen hat. Erst bein Blick in die Fahnen wurde ihm klar, dass er ihn nicht bringen möchte. Stattdessen bestellt er bei Miss Delavoy einen anderen Text, den der Erzähler so charakterisiert: «anecdotes, glimpses, gossip, chat». Also etwas rund um das Porträt. Cynosure mit seiner offensichtlich reizbaren Menge an Abonnenten (Beston rechnet mit tausend, dann fünftausend, schließlich zehntausend Kündigungen, sollte der Text des Erzählers erscheinen) ist die Instanz.

Interessant, dass James diese hoch verdichtete kleine Geschichte über den literarischen und literaturkritischen Markt seiner Zeit nach dem abwesenden Dichter benannt hat. John Delavoy kommt ja im Grunde nicht vor, nur in der Spiegelungen seiner Schwester und Sachwalterin (sie will ihn als Autor geschätzt wissen und verteidigt die «Studie», hat aber mit der Zeichnung ihren Einsatz zu früh aus der Hand gegeben), seines Verehrers, und des Verlegers. Man könnte auch zuspitzen: John Delavoy gibt es gar nicht, es gibt nur den Betrieb um ihn.

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