Gefügiges Vieh
Mimesis in der Kulturtheorie von René Girard
Durch den amerikanischen Tech-Industriellen und -Investor Peter Thiel kommt gelegentlich auch der Namen René Girard wieder ins Gespräch. Ich bin in meinem Leseleben mehrfach auf ihn gestoßen. Während des Theologiestudiums ins Wien las ich Der Sündenbock, weil ich mir davon Aufschluss erhoffte über die christliche Vorstellung, dass der Tod von Jesus am Kreuz erlösende Wirkung gehabt haben soll. Und als ich Ende der nuller Jahre an der FU verspätet mein Germanistik-Studium abschloss, musste ich noch zwei Seminare machen. Eines davon ging über Mimesis, damals habe ich eine Hausarbeit geschrieben, die ich jetzt aus dem Archiv geholt habe.
Einleitung
René Girards Theorie des mimetischen Begehrens entstand aus einer Analyse von Texten, vornehmlich Romanen des 17. bis frühen 20. Jahrhunderts, aus denen er die Unterscheidung zwischen einem spontanen („leidenschaftlichen“, edlen oder adligen, autonomen) Begehren und einem über die Beobachtung und Nachahmung anderer gewonnenen („eitlen“, „triangulären“) Begehren gewann. Im Lauf der Jahre hat Girard diese Theorie sukzessive erweitert, sowohl, was den Status und die (anthropologische) Reichweite betrifft, als auch in Hinsicht auf die Quellen und den historischen Zeitraum, dem diese entstammen. Die griechische Antike ist dabei von entscheidender Bedeutung, findet er doch in den komplexen Übergängen zwischen Ritus, Mythos und Tragödie ein Modell für die Eindämmung der zwischenmenschlichen (mimetischen) Gewalt und schließlich sogar eine Theorie des Religiösen, dem in dieser Deutung ein realer – im Gegensatz zu einem transzendenten – Ursprung zugrundeliegt.
Mimesis im Sinne von (konkurrierender) Nachahmung des Begehrens anderer Menschen ist für Girard ein Schlüssel zu seinem Verständnis von Kultur insgesamt – er bezieht sich dabei wiederum auf Quellen, die ihrerseits eine mimetische Struktur haben, nun aber in dem herkömmlicheren Sinn einer gestalteten Darstellung. Die Forschung ist inzwischen weitgehend davon abgekommen, Mimesis als Nachahmung aufzufassen. (1) Vielmehr wird der Begriff wirkungsästhetisch oder performativ verstanden. Girard hingegen kommt auf beiden Ebenen, auf denen er mit Mimesis operiert, zu einem im weitesten Sinne referentiellen Verständnis davon: die Nachahmung der Wünsche von anderen setzt diese als beobachtbare Individuen voraus, und die „Symbolisierungen“ einer „mimetischen Krise“ in Mythos, Ritus und Tragödie enthalten für ihn ebenfalls immer etwas Reales, wenngleich vielfach als „Verkennung“.
Ich will in dieser Arbeit versuchen, zumindest in Grundzügen eine innere Entwicklung des Gedankengangs von René Girard zu rekonstruieren. Das eine Werk, das seine Theorie des triangulären Begehrens systematisch und kulturtheoretisch zusammenfasst, hat er nicht geschrieben, ebensowenig eine Methodologie. Er hat vielmehr den Bereich seiner Beobachtungen sukzessive erweitert und seine mimetische Theorie verallgemeinert – diese Arbeit will den Übergang von der Literaturinterpretation zur Kulturtheorie genauer in Augenschein nehmen, und konzentriert sich dabei vorwiegend auf die Primärtexte von Girard.
Romaneske Überwindung der romantischen Illusion
In seinen literaturwissenschaftlichen Werk Figuren des Begehrens (Mensonge romantique et verité romanesque, 1961) kommt René Girard beiläufig auf das prinzipielle Problem der Kausalität oder der Motivation im Roman zu sprechen. „Im übrigen gibt es keine ,Ursachen’, weder große noch kleine, es gibt lediglich die unendlich tätige Nichtigkeit des metaphysischen Begehrens.“ (233) Dieser Satz enthält die anthropologische Grundlegung seiner Theorie von einem triangulären Begehren, das alle menschlichen Verhaltensweisen strukturiert. Indem er den Begriff des Begehrens (vergleichbar dem Begriff des Triebs bei Freud oder dem Begriff des Telos bei Aristoteles) zum zentralen Faktum macht, gewinnt er die Möglichkeit, aus einer differenzierenden Analyse dieses Begehrens eine Kulturtheorie von großer Reichweite zu entwickeln.
Das Begehren ist nach Auffassung von Girard insofern triangulär, als das Subjekt nicht einfach aus sich heraus (autonom, individuell) etwas anstrebt (ein Liebesobjekt, eine soziale Stellung, eine politische Parteinahme - um drei konkrete Beispiele zu nennen, die im 19. Jahrhundert auf breiterer gesellschaftlicher Basis entscheidende Bedeutung gewannen), sondern darin dem Begehren eines Anderen folgt. Girard verwendet das Wort „Mittler“. Diesem „Mittler“ („médiateur“) folgt das Subjekt mimetisch. Zwischen Subjekt und Objekt tritt dieser dritte Part. Ein anschauliches Beispiel findet Girard in dem Roman Rot und Schwarz (Rouge et noir, 1830) von Stendhal, in dem der Bürger Monsier de Renal in erster Linie deswegen Julien Sorel als Hauslehrer anstellt, weil er glaubt, dass Monsieur de Valenod die gleiche Absicht habe.
Bei Stendhal und Proust vor allem, entscheidend auch bei Dostojewski, entdeckt Girard in Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts die Anhaltspunkte für seine Theorie des triangulären Begehrens. Er reflektiert dabei nicht weiter methodisch, inwiefern die Verfasser dieser Romane ausdrücklich begriffen haben, was sie beschreiben, sondern unterstellt die mimetische Tätigkeit der Autoren selbst dem Prinzip, das er aufdeckt: „Der Romancier ist zuallererst Träger des intensivsten Begehrens.“ (FB, 235) „Der Romancier, der das trianguläre Begehren freilegt, kann kein Snob sein, aber er muß ein Snob gewesen sein. Es ist unabdingbar, dass er begehrt hat und dass er nicht mehr begehrt.“ (FB, 227) Der Roman wird aus der Perspektive eines überwundenen Begehrens geschrieben, als eine Erinnerung daran.
Folgerichtig liegt die realistische oder mimetische Dimension nicht in einer Abbildung von Welt (mit allen ihren Facetten der Kontingenz), sondern in der Erschließung einer Struktur. In einer ursprünglich der englischen Ausgabe beigefügten Fußnote hat Girard seine Auffassung bekräftigt, „daß die großen Schriftsteller im Vollzug ihrer Werke intuitiv und konkret, wenn nicht formal jenes System wahrnehmen, in dem sie wie ihre Zeitgenossen ursprünglich gefangen waren“ (FB, 323).
Diese Gefangenschaft in einem „System“ denkt Girard insofern epochal, als sie einen ursprünglichen Adel der individuellen Autonomie abgelöst hat. Das trianguläre Begehren ist ein Phänomen der Moderne, einer Gesellschaft sich auflösender Hierarchien (die Welten der Verdurins und der Guermantes werden bei Proust zunehmend durchlässig aufeinander), eines Verlusts der „vertikalen Transzendenz“. Der Roman wird in der Erkenntnis dieses Prozesses „romanesk“ – er wird zum Nachvollzug der Überwindung des „metaphysischen Begehrens“, eines Begehrens, das sich in endlosen nachahmenden Vermittlungen erschöpft. Dagegen definiert Girard die „romaneske Inspiration“ so: „Die Abwesenheit von Begehren erlaubt es, die vergangenen Begehren auferstehen zu lassen.“ (FB 305)
Rituelle Überwindung der reziproken Gewalt
In seinem zweiten Hauptwerk Das Heilige und die Gewalt (La violence et le sacré, 1972) sucht Girard das „mimetische Begehren“ an den Anfängen der Kulturgeschichte auf. Er entwickelt eine Theorie der Gewalt, die zugleich eine Theorie der Religion ist. Ritus, Mythos und Tragödie tragen diese Theorie vom „Mechanismus des versöhnenden Opfers als dem Fundament jeder kulturellen Ordnung“ (HG, 314) in unterschiedlicher Weise in sich, zugleich stellen sie jeweils spezifische Weisen der Bewältigung einer ursprünglichen Gewalt dar. Girard rekonstruiert aus ethnographischen Berichten (von „primitiven“ Kulturen) und aus der antiken Tragödie eine Erfahrung früher Gesellschaften, die seiner Hypothese nach immer wieder in kritische Phasen einer „reziproken Gewalt“ verfielen. Die Wechselseitigkeit dieser Gewalt entsteht aus dem mimetischen Begehren – die Nachahmung von Wünschen erfüllt sich nicht in einer Aufteilung der Objekte, sondern in einer chaotischen Rivalität, in der schließlich die Gewalt selbst ihre Nachahmung hervorbringt: „Die Gewalt hat außerordentliche (…) mimetische Wirkungen. Je mehr sich die Menschen bemühen, sie zu bewältigen, desto mehr Nahrung liefern sie ihr; sie verwandelt die Hindernisse, die man ihr entgegenzustellen glaubt, in Hilfsmittel; sie gleicht einem flammenden Feuer, das alles verzehrt, was man darauf schüttet, um es zu ersticken.“ (HG, 50f.)
Dies führt an einen Punkt, an dem die Gewalt so gefährlich für das Bestehen der Gesellschaft wird, dass sie auf den einzigen Ausweg verfällt, der sich ihr in diesem Moment bietet: Sie konzentriert diesen mimetischen Exzess auf eine Figur, die zum Opfer eines gründenden Lynchmords wird. Das Opfer bannt die wechselseitige Gewalt durch Konzentration auf ein Individuum. Und zwar auf ein beliebiges: „Umwandlung der gegenseitigen Gewalt in Gründungsgewalt durch einen Mord, der an irgend jemandem und nicht mehr an einer bestimmten Person verübt wird.“ (HG, 316) „Es ist anzunehmen, dass die Mythen aus der Krise des Opferkults hervorgehen, deren nachträgliche Verklärung sie sind, eine Relektüre aus dem Licht der kulturellen Ordnung, die aus dieser Krise hervorgegangen ist.“ (HG, 99f)
Im Ritual findet dieses ursprüngliche Erleben eine Nachahmung, die allerdings nicht direkt auf das Ereignis verweist: „Kein Ritus wird Punkt für Punkt jenen Vorgang wiederholen, den wir als Hypothese an den Ursprung aller Riten setzen. Die Verkennung ist eine grundlegende Dimension des Religiösen. Und das Fundament dieser Verkennung ist nichts anderes als das versöhnende Opfer, (…) Das rituelle Denken bemüht sich, den Vorgang der gewalttätigen Einmütigkeit empirisch wiederzugeben.“ (HG, 154) Girard spricht an anderer Stelle auch von einer „gewalttätigen Entdifferenzierung, die das eigentlich Verdrängte des Mythos darstellt“ (HG, 174)
Diachrone Aspekte
Am Anfang der menschlichen Kultur steht für René Girard ein realer Mord, die Opferung eines mehr oder weniger zufällig gefundenen Individuums, das erlaubt, die Krise der Gewalt zu bannen. Dieses Ereignis hat einen prekären Status. Es gibt keine direkte Überlieferung davon (2), sondern nur divergente Zeugnisse, zu denen Girard einen vereinheitlichenden Schlüssel gefunden zu haben glaubt. „Es geht hier nicht um die genaue Erinnerung, sondern die Modalitäten des Kollektivmords selbst variieren von Religion zu Religion. Diese kleinen Unterschiede sind besonders aufschlussreich: durch ihren Realismus, der ein wirklich vorhandenes Modell nahelegt, entmutigen sie eine formalistische Interpretation.“ (HG, 290) Stattdessen legen sie eine Interpretation nahe, die auf Faktizität zielt. In seinen späteren Veröffentlichungen bezieht Girard seine Theorie ausdrücklich auf ein evolutionäres Schema. Der Gründungsmord markiert nun die Grenze zwischen Tier und Mensch, die Mimesis – verstanden auch als Zusammenbruch von „animalischen Schutzmechanismen gegen die Gewalt (dominance patterns)“ (SB, 123) – wird zur ersten anthropogenen Tatsache. Sie bildet „den mit der Hominisation untrennbar verbundenen Konflikttypus“ (SB, 118), zu dessen Befriedung zuerst der gründende Mord und in dessen Überlieferung die Rituale dienen. Aus den Ritualen entstehen in einem Prozess der „Säkularisierung“ die Institutionen. (3)
Girard entwickelt diese Kulturtheorie nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Freud, dessen Totem und Tabu (1912/13) er gegen den intellektuellen Mainstream als intuitive und nicht vollständig erreichte Einsicht in einen Sachverhalt liest, der genau der Opfertheorie vom Gründungsmord entspricht. Einzig das zentrale psychoanalytische Modell vom Ödipuskomplex steht zwischen der Erkenntnis, dass es in der Urhorde nicht um einen Vatermord ging, sondern um einen (beliebigen und gerade deswegen einigenden) Mord. „Der Vater erklärt nichts: um alles zu erklären, muß man den Vater beiseite lassen und zeigen, daß der durch den Kollektivmord in der Gemeinschaft hinterlassene ungeheure Eindruck nicht auf der Identität des Opfers beruht, sondern auf der vereinigenden Kraft des Opfers, auf der wiedergefundenen Einmütigkeit, die sich gegen das Opfer richtet und gleichwohl auf es angewiesen bleibt.“ (HG, 310f.)
Girard ruft Freud gegen den Strukturalismus auf, dessen Interpretation der Mythen von einer Rückfrage auf außersprachliche Wirklichkeit absieht. Dieses Reale der Überwindung der Gewalt wird als ein „Wunder“ begriffen und erst allmählich verstanden: „Die Menschen wenden sich dem Wunder zu, um es zu verewigen und zu erneuern; sie müssen es also in gewisser Weise denken. Die Mythen, die Rituale, die Verwandtschaftsbeziehungen bilden das erste Resultat dieses Denkens.“ (HG, 341)
Die griechische Antike und die europäische Neuzeit bilden für Girard die beiden wesentlichen Orte seines Denkens. Es fehlt allerdings eine Reflexion auf die historische Differenz zwischen den beiden Epochen. Nur beiläufig kommt er darauf zu sprechen, wie Gewalt in stärker ausdifferenzierten Gesellschaften zur Geltung kommt: „Das Wesen der Moderne besteht (…) im Vermögen, sich in einer immer schlimmeren Krise des Opferkults einzurichten – zwar nicht sorgenfrei wie in einer friedlichen Behausung, aber doch ohne jemals jene Kontrollherrschaft zu verlieren, die zuallererst den Naturwissenschaften, dann den kulturellen Bedeutungsträgern und schließlich dem gründenden Schiedsspruch selbst unvergleichliche Möglichkeiten der Enthüllung eröffnet.“ (HG, 344) Die Moderne wäre nach diesem Verständnis, mit dem Girard unausdrücklich an Befunde aus seinen Roman-Analysen anknüpft, eine Epoche des auf Dauer gestellten mimetischen Konflikts, einer permanenten Entdifferenzierung und des epochalen Verlusts von Autonomie und sakraler Gewalt. Dabei lässt er die Frage weitgehend offen, welche Form das Opfer und das Ritual in diesem Zusammenhang angenommen haben – möglicherweise sind sie aber auch einfach verschwunden, konsequent zu Ende säkularisiert, funktionslos geworden, weil die mimetischen Konflikte nicht länger tödlich sind oder sich in einem zunehmend reicheren Angebot an begehrenswerten Gegenständen und Phänomenen verlieren. (4)
Diese Erklärung ließe allerdings das enorme Ausmaß der Gewalt zumal im 20. Jahrhundert außerhalb seine theoretischen Zugriffs. (5) Die Gültigkeit der Opfertheorie von René Girard würde, pointiert gefasst, von Adam bis Ludwig XVI reichen, vom ersten Mensch bis zum letzten König.
Systematische Aspekte
Das mimetische Begehren arbeitet Girard ebenfalls dort besonders genau heraus, wo er sich mit Freud beschäftigt. In diesem Fall bildet das Zusammenspiel von Objektwunsch, Identifizierung und Rivalität in der Dynamik des Ödipuskomplexes den entscheidenden Hinweis. Girard entdeckt im Dreieck zwischen Kind, Mutter und Vater einen Widerspruch, den Freud nicht vollständig aufzulösen vermag: einerseits richtet sich der Wunsch des Kindes direkt auf die Mutter, andererseits verläuft die Richtung dieses Wunsches über die Identifizierung mit dem Vater.
Der erste Wunsch ist direkt, der zweite indirekt. Der zweite Wunsch enthält ein mimetisches Moment. Die Mutter ist deswegen begehrenswert, weil sie vom Vater begehrt wird. „Es gibt folglich in Freuds Denken einen latenten Konflikt zwischen dieser mimesis der Vateridentifizierung und dem im Objekt wurzelnden Wunsch, der Autonomie der libidinösen Ausrichtung auf die Mutter.“ (HG, 250) Hier taucht das Gegensatzpaar Autonomie-Mimesis wieder auf, für das Girard schon in seinem ersten Buch eine Geschichte angedeutet hatte, die in der frühen Neuzeit im Niedergang des Adels einen Umschlagpunkt erreicht. (6) Auf der ontogenetischen Ebene tritt dieser Verlust der Autonomie schon sehr früh ein; eine Auffassung, die Girard aus einem Übersetzungsfehler gewinnt: Er liest Freud auf Französisch, wo es an entscheidender Stelle heißt, dass die Vateridentifizierung der Objektwahl vorausgeht. (7) Das Subjekt entwickelt also sein Begehren nicht unmittelbar und direkt, sondern vermittelt – der Vater ist der erste „médiateur“, die Mimesis verliert gewissermaßen ihre Unschuld, sie wird durch Eifersucht verstärkt und macht die Menschen anfällig für soziale Krisen des Begehrens.
Religion und Moderne
„Das Unverständnis, das die Moderne dem Religiösen entgegenbringt, führt dieses weiter und erfüllt in unserer Kultur genau jene Funktion, die dem Religiösen in den Gesellschaften zukommt, die der wesenhaften Gewalt stärker ausgesetzt sind.“ (HG, 384f.) In diesem Zitat wird deutlich, dass Girard zwei Formen des Religiösen unterscheidet – eine bedarf der Aufklärung, eine stellt selber diese Aufklärung dar. Er verkennt nicht den Unterschied zwischen den vormodernen Gesellschaften, die Konflikte noch von Angesicht zu Angesicht austrugen, und den modernen Gesellschaften, die anders dimensioniert und differenzierter organisiert sind, wodurch die Gewalt einen deutlich anderen Stellenwert und Ort bekommt. Er muss aber, um an der diachronen wie an der systematischen Einheit seiner Theorie festzuhalten, einen Weg finden, auch in der Moderne noch die (reziproke, mimetische) Gewalt als entscheidende Bedrohung auszumachen.
Er verzichtet dabei auf eine kulturkritische, gegenwartsdiagnostische Beschreibung von Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, allenfalls der Kalte Krieg und das atomare Wettrüsten werden gelegentlich am Rande erwähnt. Stattdessen Girard überbietet die neuzeitliche Religionskritik, indem er deren prinzipielle Gedankenfigur (die Auflösung von Transzendenz in Immanenz) übernimmt, dies aber pointiert so wendet, dass die Religion nun gerade nicht als imaginärer Überbau (als Selbsttäuschung) erscheint, sondern als Gedächtnisform an ein reales (immanentes) Gründungsereignis, das auch für die Moderne noch gültig ist. „Ist der Gott nichts anderes als die ein erstes Mal wuchtig verstoßene Gewalt, dann bringt ihm das rituelle Opfer stets ein wenig von seiner eigenen Substanz, von seiner eigenen Gewalt zurück. (…) Der Gott selbst ,verdaut’ die böse Immanenz, um sie in gute Transzendenz, d.h. in seine eigene Substanz umzuwandeln.“ (HG, 390)
Der Gott oder das Heilige wird in einem durchaus an Feuerbach anschließbaren Gedanken anthropologisiert. Die (christliche) Theologie errichtet Girard darauf neu, indem er den Glauben an die Auferstehung Jesu aus den Phänomenen „lügnerischer Religiosität“ herauslöst, die seiner Meinung nach berechtigter Kritik unterliegen. Jesus stirbt zwar einen Opfertod nach einer mimetischen Krise, seine Auferstehung ist nun aber nicht die immer noch von der Gemeinschaft vollzogene Divinisierung, in der sich das Opferritual vervollständigt (der „Schuldige“ wird vergöttlicht, weil er gebüßt hat und der Gemeinschaft die Stabilität zurückgegeben hat). Jesu Auferstehung ist für Girard tatsächliche Transzendenz.
Die Schriften der christlichen Bibel bringen bringen dazu ein literarhistorisches Differenzkriterium. Sie sind, wie schon die Psalmen der jüdischen Bibel, aus der Perspektive des Opfers (oder der Identifikation mit ihm) geschrieben. Das macht den ganzen Unterschied zum Mythos aus. Die Mythen sind „das Werk überreizter Massen“ (SB, 143); diese Massen glauben an die Schuld des Opfers, das sie töten; die Mythen geben sich über die Willkür, die diesen Gewalttaten eignet, keine Rechenschaft, sie haben vielmehr „Anklage- und Vergeltungscharakter“ (SB, 146). Das Christentum unterbricht diesen mimetischen Zyklus, indem es die Schuldlosigkeit des Opfers vor Augen führt. Darin liegt seine entmythologisierende Potenz, die von der Moderne nach Meinung von Girard jedoch konsequent verkannt wurde.
Offene Fragen
Der wichtigste offene Punkt in René Girards Theorie ist meines Erachtens die Frage nach einer mimetischen Krise in modernen, ausdifferenzierten (Medien-)Gesellschaften. Zwar gibt es prinzipiell kein Hindernis, das trianguläre Begehren auch unter Einbeziehung von „Mittlern“ zu denken, zu denen kein persönlicher Bezug existiert, sondern zum Beispiel ein über Medien hergestellter – es fehlt jedoch an einer Theorie des Rituals, die darüber Auskunft geben könnte, welche gemeinschaftlichen Formen in modernen Gesellschaften die Erinnerung an die gründende Gewalt aufrechterhalten. Am Ende seines Buches Das Heilige und die Gewalt leitet Girard die Souveränität (in ihrer monarchischen Form, und zwar durchaus bis an den Punkt der „Opferung“ des letzten Vertreters des Ancien Régimes) noch aus der Erinnerung an den Zyklus der Gewalt her. Die demokratischen Prozesse bezieht er aber nicht mehr ein. (8) Die Reflexion auf das Verhältnis von Krieg und Gewalt beschäftigt die Girard-Schule intensiv (9), und es gibt eine höchst interessante Theorie des Ökonomischen (10).
Girard selbst hingegen neigt in seinen späteren Schriften gelegentlich zu einer Hypostasierung der Mimesis, so schreibt er, „daß der wahre Manipulator des Prozesses, das Subjekt der Struktur des mimetischen Zyklus nicht der Mensch ist, der den Zirkel, in dem er sich befindet, nicht erkennt, sondern die Mimetik selbst. Außer ihr gibt es kein wahres Subjekt, …“ (SB, 93) Die Mimetik macht aus den Menschen „gefügiges Vieh“ (SB, 143), erst die christliche Botschaft bricht diese gefährliche Einmütigkeit auf. Dass die Erfahrungen der modernen Massengesellschaft ein wichtiges Motiv für Girards Theorie bilden, wird vor allen an den zahlreichen Stellen deutlich, an denen er den mimetischen Rivalitäten eine „entdifferenzierende Wirkung“ (zum Beispiel SB, 28) beschreibt. Der Verlust an Autonomie (Adel) ausgerechnet in der Freiheitsgeschichte der europäischen Aufklärung ist im Hintergrund immer wieder auszunehmen – insofern wäre die mimetische Theorie als Sonderfall einer Dialektik der Aufklärung lesbar.
1 Siehe Jürgen H. Petersen: Mimesis – imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München: Wilhelm Fink Verlag 2000 (UTB 8191), S. 19-52.
2 An einer Stelle verwendet Girard eher zufällig einen berühmten Begriff der Erkenntnistheorie: „Daß die Krise des Opferkultes hinter dem Mythos steht, war bisher für uns nur eine Hypothese. Hinter dem Bezeichnenden der Verstümmelung ist unbedingt das real Bezeichnete zu postulieren.“ (HG, 364)
3 Diese Entwicklungshypothese „ist wahrscheinlicher als sämtliche modernen Thesen über den Ursprung der Gesellschaften, die sich alle auf die eine oder andere Ausprägung derselben unausrottbaren Absurdität zurückführen lassen: den ,Gesellschaftsvertrag’.“ (SB, 122f.)
4 „Im begrenzten Bereich der Konsumgüter (…) dämpft die vom technischen Fortschritt ermöglichte maßlose Ausweitung des Angebots gewisse mimetische Rivalitäten.“ (SH, 226)
5 Die Genozide des 20. Jahrhunderts, vor allem die „Vernichtung des jüdischen Volkes durch den deutschen Nationalsozialismus“, sind für Girard durchweg auch mimetische Krisen. „Das ,geistige’ Ziel des Hitlertums lag meiner Auffassung nach darin, zuerst Deutschland und danach ganz Europa der ihm aus der religiösen Tradition heraus zugewachsenen Berufung, nämlich der Sorge um die Opfer, zu entreißen.“ (SB, 213f.)
6 Siehe FB, 123-141, wo Girard den mimetischen Prozess der Moderne beinahe wie ein Heraustreten aus der Naturgeschichte beschreibt: „Der relative Gleichklang von sozialer Organisation und naturgegebener Hierarchie der Menschen kann nicht von Dauer sein. Damit diese Übereinstimmung sich aufzulösen beginnt, genügt es, in einem gewissen Sinn, daß der Adelige sich ihrer bewußt wird.“ (FB, 124)
7 Freud schreibt: „Gleichzeitig mit dieser Identifizierung mit dem Vater, vielleicht sogar vorher, hat der Knabe begonnen, eine richtige Objektbesetzung der Mutter nach dem Anlehnungstypus vorzunehmen.“ Die französische Übersetzung, auf die Girard sich bezieht, verkehrt den Sinn dieses Satzes in sein Gegenteil: „Simultanement avec cette identification avec le père, ou un peu plus tard, le petit garçon a commencé …“ Siehe HG, 251.
8 Das 2008 erschienene Buch Achever Clausewitz, eine Relektüre der deutsch-französischen Geschichte in Hinblick auf die europäische Versöhnung, konnte für diese Arbeit noch nicht berücksichtigt werden.
9 Siehe zum Beispiel Michele Nicoletti: Die politische Theologie Carl Schmitts und die mimetische Theorie René Girards, in: Bernhard Dieckmann (Hg.), Das Opfer – aktuelle Kontroversen, LIT Verlag: Münster 2001, 141-156.
10 Paul Dumouchel/Jean P. Dupuay, Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie, LIT Verlag: Münster 1999
Literatur
Primärtexte
Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster: LIT Verlag 1999 (im Text zitiert als: FB)
Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1992 (HG)
Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, München: Hanser 2002 (SB)
Sekundärliteratur
Gebauer Gunter/Wulf Christoph, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek: Rowohl Taschenbuch Verlag 1992 (rowohlts enzyklopädie)
Petersen Jürgen H., Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München: Wilhelm Fink Verlag 2000 (UTB 8191)
Wulf Christoph, Zur Genese des Sozialen: Mimesis, Performativität, Ritual, Bielefeld: transcript Verlag 2005
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