Filme und Folgen (77)

Notizen: Januar 2025

Ironie des Schicksals Eldar Rjasanow UdSSR 1975

Das Leben ist individuell, außer im Kommunismus, da war es kollektiv, oder austauschbar. Der Silvesterklassiker beruht auf einem Theaterstück aus dem Jahr 1969, das davon ausging, dass es in Moskau und Leningrad nicht nur identische Wohnungsgrundrisse gab, sondern sogar die Außenbereiche zum Verwechseln ähnlich sind. Und eine 3. Straße der Bauarbeiter 25/12 gibt es da wie dort (ein Cartoon-Vorspann amüsiert sich über die flächendeckende Versorgung des Landes mit gleichförmigen Wohnbauten). In Moskau soll Schenja mit seiner Verlobten Galya allein feiern, sie wünscht sich ein intimes Fest, vorher aber gilt es noch, einer Tradition Genüge zu tun: mit drei Freunden ins Bad, dort ordentlich schwitzen, und trinken! Nach wenigen Stunden ist Schenja so besoffen, dass er nicht mitkriegt, dass am Flughafen Moskau, wohin die Männerrunde den Freund Pawlik eskotiert, ein Irrtum passiert. Er wird nämlich im allgemeinen Chaos als Alkoholleiche an Bord gebracht, verschläft den Flug, und ist, ohne es recht zu begreifen, in Leningrad, wo er folgerichtig in „seine“ Wohnung fährt, in die er mit seinem Schlüssel auch hineinkommt – so bis ins Detail geht hier also die Baugleichheit. Die Wohnung gehört aber Nadja (Nadenka), die mit ihrem älteren Freund Ippolit feiern möchte. Als sie Schenja in ihrem Bett vorfindet, beginnt ein melancholisch gestimmter Slapstick-Parcours (Auftritt und Abtritt, immer neue Überraschungen an der Tür). Es liegt nahe, dass Schenja und Nadja für einander bestimmt sind, aber im Kommunismus gab es eigentlich kein Schicksal (also keinen metaphysisch aufgeladenen Zufall wie bei Kieslowski), das Liebesglück ist hier eine Funktion der architektonischen Gleichmacherei, und zugleich deren ironische Durchkreuzung. Ironie des Schicksals ist lustig, der Grundton aber ist nachdenklich, auch wegen der Präsenz der blonden Sowjet-Schönheit Barbara Brylska, die ein in Ansätzen spätes Mädchen spielt, eine Frau, die sich lange Zeit als Geliebte eines verheirateten Mannes beschied. Lieder zur Gitarre verstärken eine Stimmung von Wehmut, die aber auch immer wieder durch komische Zwischenspiele (die beiden Lehrerinnen aus der Schule von Nadja!) aufgelockert wird. Die junge Galya, die sich Schenjas schon sicher war, verschwindet spurlos aus der Geschichte – auch das ein Aspekt der Zufallslogik und der seriellen Individidualität, die sich in einem klassischen Happyend erfüllt. Auch in Hollywood-Komödien gibt es Legionen ausgeschiedener Partner, die einem Mister Richtig weichen müssen. Glück ist immer hierarchisch, wie das Starsystem.

The Anabasis of May and Fusako Shigenobu, Masao Adachi and 27 Years of without Images Eric Baudelaire 2011

Zwei Stimmen aus dem Off machen diesen Film aus. Originalzeugnisse von May Shigenobu (auf Englisch) und Masao Adachi (auf Japanisch). Dazu Bilder von Eric Baudelaire, die er in Beirut und Tokio gedreht hat, vorwiegend beiläufige Szenen, Landschaften, anonyme Menschen in der Stadt. May Shigenobu ist die Tochter von Fusako Shigenobu, einer linksradikalen Aktivistin, die seit den frühen 70er Jahren in Beirut im Exil war und dort die Verbindungsperson zur PLO. Masao Adachi war ebenfalls lange in Beirut, hatte davor aber in Japan eine Reihe von kommerziellen Filmen gedreht, in denen er seine revolutionären Anliegen verarbeitete (gemeinsam mit Koji Wakamatsu). Diese Filme werden bei Baudelaire auch in Ausschnitten präsentiert: Female Student Guerilla, Sex Jack und, besonders wichtig, Aka Serial Killer (wegen der Funktion der Landschaftsaufnahmen, das japanische Wort «fukeiron» steht für den Versuch, politische Repression durch Bilder von scheinbar nichtssagenden Außenszenen anschaulich zu machen). Masao Adachi wird in Deutschland vor allem als Antisemit rezipiert (siehe den Abschlussbericht zur documenta fifteen), aber seine Haltung zu Israel ist eine Konsequenz seines linken Antimperialismus, hat also keine rassistische, sondern eine politische Begründung. Man könnte auch sagen: Es geht ihm bei seinem unterstellten Antisemitismus nicht um Juden. 1982 war für die Szene in Beirut die große Katastrophe, denn damals bombardierte Israel die Stadt, und Adachi zum Beispiel verlor nach eigenen Aussagen 200 Stunden Filmmaterial (die PLO verlor ihr Archiv, siehe auch A Fidai Film). Fusako Shigeno und Masao Adachi wurden nach Japan überstellt, zwei Aufsehen erregende Figuren. Zweimal blendet Baudelaire eine Email als Insert ein, in der Adachi ihm Anregungen schickt, was er drehen soll: Orte, die für ihn verloren sind, wie die Lager Sabra und Shatila (1982 Orte eines Massakers an Palästinensern durch christliche Phalangisten mit israelischer Rückendeckung), das Bekaa-Tal oder auch einfach „find the ruin of street fighting in the past“. May erzählt von ihrem Aufwachsen als Kind einer Guerilla-Zelle, sie ist schon erwachsen, als sie das erste Mal einen Ausweis beantragt, wirkt insgesamt aber nicht traumatisiert. Die Schlussworte von Adachi verweisen auf einen großen Parallelfilm: Er sieht sich in einer Spannung von „here“ und „there“, oder – mit der unweigerlichen Godard-Assoziation – von „hier und anderswo“. Hier ist Palästina, das Vaterland. Da ist Japan, das Mutterland. Palästina war für eine radikale Linke seit den 60er Jahren das ideale Hier, an dem anderswo ein Kampf geführt werden konnte, der in der eigenen (japanischen) Gesellschaft von Beginn an keine ausreichende Legitimierung hatte.

Modell Olimpia Frédéric Hambalek 2020

Starker erster Satz: „Ich bin sehr traurig, dass ich tot bin.“ Ein junger Mann sagt ihn, er lebt mit seiner Mutter in einer durchschnittlichen Wohnung in einer nicht allzu urbanen Umgebung irgendwo in Deutschland. Die beiden haben ein Projekt: „wir kriegen’s hin“, sagt die Mutter. Es deutet einiges darauf hin, dass der Sohn ein Triebtäter ist, der von ihr deprogrammiert werden soll. Hambalek vermeidet Eindeutigkeiten. Manche Szenen sind drastisch, zum Beispiel wenn die Mutter den Sohn in Plastik einwickelt und ihn eine Stunde lang in diesem Bondage liegen lässt. „Wir dürfen nicht locker lassen. Der Körper macht keine Pausen.“ Eine Nachbarin aus der Etage darunter wird zu einer Bezugsfigur für den Sohn. Die Mutter führt ihm eine Escort-Studentin zu, später gibt es ein brutales Rollenspiel mit einer Art Schauspielerin für ein „reel“. Die beiden Wörter im Filmtitel sind auch Überschriften über die zwei Hälften (Kapitel) des Films. Die Mutter bringt eine Schaufensterpuppe nach Hause, damit radikalisiert sich einerseits der Umgang des Sohns mit den Frauen (er kehrt zu seiner tödlichen Obession zurück?), andererseits wird der erste Satz noch einmal anders lesbar: Wer ist hier tot, auf welcher Ebene wird hier „gespielt“?

Jonathan Hans W. Geißendörfer 1970

Der spätere Showrunner der Lindenstraße debütierte 1970 mit einem Vampirfilm, in dem er versucht, die Mythologie von einem blutsaugenden Grafen und seinem „roten“ Hof (eher ein Ashram) in eine vage frühneuzeitliche, revolutionäre Konstellation zu stellen (von Bauernkrieg bis Vormärz). Jonathan wird als Kundschafter ausgeschickt, um für eine Truppe aus der Stadt die Möglichkeiten auszukundschaften, das Schloss anzugreifen. Geißendörfer und Kameramann Robby Müller arbeiten viel mit schwebenden, frei flottierenden Perspektiven in Massenszenen, so zum Beispiel einmal ein Ritual in der gepeinigten Dorfgemeinschaft, bei dem das Geisterabwehrende mit einem rituellen, öffentlichen Geschlechtsakt zusammenfällt. Jonathan wird schließlich gefangen genommen und in einem Keller gefoltert, von Schergen, die Ratten essen. Der Graf und seine Gefolgschaft (auch hier verbindet Geißendörfer Symbolismus mit Erotizismus, man sieht ein „Nymphen“-Ballett durch die Natur tanzen) werden schließlich ins Wasser getrieben – eine der Möglichkeiten, sie zu vernichten. Ein klar als antisemitische Karikatur erkennbarer „Gnom“ wird in einer kaum entwickelten Neben- aber auch Zentralhandlung als der Beweger des vampirischen Feudalismus angedeutet. Untergründige politische Bezüge zur Palästina-Frage (nach dem Sechs-Tage-Krieg und der Erstarkung Israels zur Besatzungmacht) sehe ich nicht. Geißendörfer versucht meines Erachtens, den Vampirmythos von links einzudeutschen und popkulturell für die 68er aufzubereiten. Ästhetische Effekte sind ihm wichtiger als strenge politische Allegorie. Der Gnom, in der Erzählung isoliert, steht für ein fehlgeleitetes Interesse an Schockmomenten und Grusel. Musik und Tonspur, Locations, generell Atmosphäre immer wieder toll – ein bisschen Tarkowski, ein bisschen britisches Heidenkino, in Andeutungen auch schon Krautrock und Werner Herzog. Ein interessanter, spekulativer Wurf.

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