Unspektakuläre Genauigkeiten

"Film und Verhängnis" von Ilse Aichinger

Für alle Besucher der Stadt Wien, die nach einem besonderen Ort suchen, habe ich eine Empfehlung: Die Ecke Hohlweggasse/Hegergasse im 3. Bezirk. Nicht, dass es dort etwas Außergewöhnliches zu sehen gäbe, eher etwas, das fehlt. Früher war dort einmal das Fasankino, und Ilse Aichinger, die in der Hohlweggasse 1 aufwuchs, drängte es dorthin, wo schon die jüngste Schwester ihrer Mutter eine Zuflucht gefunden hatte. Das Fasankino gibt es nicht mehr, es ist auferstanden in eine Datenbank, die sich der Wiener Kino- und Theatertopographie widmet. Man kann ganze Wanderungen auf Grundlage der hier verfügbaren Daten zusammenstellen. Die Verluste der Hohlweggasse aber kann keine Datenbank fassen: zu viele ihrer Bewohner "wurden nicht mit der Art Gräber belästigt, aus denen man aufersteht".

Die Wohnung in der Hohlweggasse wurde arisiert. Ilse Aichinger überlebte in Wien, "eingewiesen" bei einer feindseligen Frau, die ihr und ihrer Mutter 1945 Dachziegel und Schutt nachwarf. Die Jahre dazwischen kann man aus einer Passage erschließen, die sie 2000 in einem Text über Hartmut Bitomskys Die Ufa schrieb: "Es hätte für mich nicht des Schildes «Judenverbot» bedurft, um die Kinosucht, selbst die nach Nazifilmen, extrem zu steigern. Außerdem durften wir Kinos noch betreten, da wir nur halbjüdisch waren. Ich identifizierte mich auch weder mit dem Judentum noch mit dem Christentum, beide erschienen mir gleich fremd, von Angst geprägt und Angst auslösend. Die Erlösung war das Kino."

Diese Erlösung kann ich, wenngleich unter äußerlich ungefährdeten Umständen aufgewachsen, sehr gut nachvollziehen. Film und Verhängnis nannte Ilse Aichinger die Sammlung ihrer Texte, die sie um 2000 für den Standard schrieb, und in denen sie Aufzeichnungen zu Erlebnissen im Kino mit autobiographischen Notizen verband. Wenn es im deutschsprachigen Raum eine Entsprechung zu der französischen Cinephilie gibt, dann ist sie hier zu finden, unter ganz anderen Umständen, aber doch auch mit überraschend vergleichbaren Motiven: Allein mit ihrer Mutter aufwachsend, von der nach England geretteten Zwillingsschwester getrennt, wird Ilse Aichinger umso mehr zu einer lebenslangen cine-fille, als sie die Voraussetzungen ihrer Existenz konsequent nicht akzeptiert.

"Gefragt wird keiner", heißt es bezeichnenderweise in einem Text über Laurel & Hardy. "Vieles lernte ich langsam, aber «ich» sagte ich bald und empfand es ebensobald als daneben." Die "eigene Existenz als Überrumpelung" nimmt sie unter Vorbehalt an, den sie nur im ausgegrenzten Raum des Kinos aufzuheben bereit ist. Denn dessen "innere Signatur" ist es, dass es den "Tagträumen des Jahrhunderts" Ausdruck gibt, und in diesen Tagträumen sind immer "Leichen neben den Lilien auf dem Felde".

Für den "schönsten Film aus 100 Jahren Kino" hält Aichinger Liebelei von Max Ophüls, zu dem ein "unglaublicher Zickzackweg" zurückgelegt werden musste, denn die wesentlichen Beteiligten waren jüdisch, und der Burgtheaterdirektor schrieb schon 1927 (!) an Ophüls, daß man angesichts der antisemitischen Stimmung in Wien von einem Regieauftrag Abstand nehmen müsste.

Das Programm dieser kleinen Texte steckt vielleicht in dieser Formulierung: An einem Sonntag nach Ostern um 16 Uhr 30 ist sie "unspektakulären Genauigkeiten auf der Spur". Sie findet sie in einer sicheren, das heißt nahen Distanz zu dem Zufluchtsort, dem dieses Buch gewidmet ist: "Two thirty", halb Drei, bezeichnet "eine der Tageszeiten, die durch die zeitliche Nähe aller Kinos erträglich wird". "Two thirty", das sind die letzten Worte aus Der dritte Mann, den man sich in Wien an einem Sonntagnachmittag anschauen muss, am besten, nachdem man von einem Spaziergang durch den 3. Bezirk über den Rennweg, den Schwarzenbergplatz, vorbei am Imperial in die Innere Stadt zurückgefunden hat.

Ilse Aichinger, Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben, Fischer Taschenbuch

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