Erste Sätze
Eine Jahresproduktion: 1993
Am 26. März 1993 erschien in der österreichischen Tageszeitung Der Standard meine erste Filmkritik: ein kurzer Text über BeFreier und Befreite von Helke Sander. Aus einem verkrachten Studenten wurde ein freier Journalist, der bin ich heute noch. Aus Anlass des runden Datums habe ich mir den Spaß gemacht, alle Texte, die ich 1993 für den Standard geschrieben habe, hier abzulegen.
26.3.
Krieg trotz Frieden: "BeFreier und Befreite"
Ein Krieg endet nie. Ist die Schlacht geschlagen, wird geplündert und vergewaltigt. Der Krieg der Geschlechter überdauert Friedensschlüsse der Mächtigen, suggeriert die deutsche Dokumentarfilmemacherin Helke Sander in ihrem dreieinhalbstündigen Versuch, zu Erfahrungen vorzudringen, die nach einer Konspiration des Schweigens sprachlos waren.
BeFreier und Befreite läßt erzählen von den Vergewaltigungen in Berlin 1945. Vor einer niemals zudringlichen Kamera finden Frauen jene Beherrschtheit, die allein ihnen zu ermöglichen scheint, an Traumata zu rühren, die der fast epidemisch anmutende Ausbruch sexueller Gewalt von seiten der Roten Armee zurückgelassen hat.
Diese Momente großer Konzentration bleiben jedoch episodisch in einem Film, der zugleich seine eigene (Problem-)Geschichte erzählt. Die Wahrheit eines erzählenden Gesichts ist persönlich und unmittelbar; historische Wahrheit aber ist vielschichtig. Sander unternimmt beträchtliche Anstrengungen, beide Ebenen zu vermitteln.
Schwierig sei es gewesen, "das Einzigartige an den Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee zu beschreiben, ohne gleichzeitig die sowjetischen Männer als einzige Gewalttäter zu definieren". Wenn Männer beider Kriegsparteien mit verqueren biologistischen Entschuldigungen der Greuel aufwarten, wird ein elementares Gewaltverhältnis sichtbar, das sich über Generationen fortschreibt, aber nicht notwendig ausweglos ist.
Für zwei "Besatzungsschäden" (so der terminus technicus für Kinder aus Vergewaltigungen) findet Sander Bilder, die nicht nur den überwiegend asketischen Stil des Films unterlaufen, sondern wie Beschwörungen einer lichtdurchfluteten Idylle jenseits der Gewalt wirken: nicht zufällig kommen diese Frauen aus der Frauenbewegung. Deren Hoffnungen bringt Hildegard Knef auf den Punkt, wenn sie Kleists Penthesilea zitiert: "Frei sind die Frauen, und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar." Spätestens hier mündet historische Recherche in den Mythos. Im Filmhaus Stöbergasse Wien.2.4.
2.4.
Marlene, skeptisch
Schon die Eröffnungssequenz von Orson Welles' Touch of Evil (1958) ist ein Meisterwerk für sich. Minutenlang folgt die Krankamera einem Auto und einem Liebespaar durch das Gewühl einer Grenzstation, bis der erste Schnitt die Spannung löst: Das Auto explodiert. Zur Lösung dieses "Falls" bedarf es exzellenter Schauspieler. Janet Leigh spielt die grandios selbstbewußte Frau des "guten" mexikanischen Polizisten (Charlton Heston), der seinerseits dem korrupten Polizisten (Welles) auf eine Weise das Handwerk legt, die alles wieder in Frage stellt, was gerade noch plausibel erschien. Inmitten des Getaumels ineinander verstrickter Figuren gibt nur ein Gesicht Halt - Marlene Dietrich als Verkörperung des skeptischen Blicks. Reprise im Stadtkino Wien.
2.4.
Ein Trickbetrüger im Dienste des Herrn
Steve Martin wirkt Wunder als "Der Schein-Heilige"
Today the Circus of Heaven came into town, local folks lined the street in a midwestern town, sangen die Artrock-Veteranen Yes einmal. Ähnlich könnte auch die Kernidee gelautet haben zu einem Film über "Entertainment im Dienste des Herrn", dessen Auswüchse jeden Versuch einer Satire der Lächerlichkeit preisgeben. Wo weiland eine Theatergruppe in einem alten Bus in die Wüste fuhr, um Jesus Christ als Superstar zu inszenieren, ist in Der Schein-Heilige ein ganzer Tourtroß unterwegs durch die Einöde des amerikanischen Westens. Mit einem sehr irdischen Star: Steve Martin spielt den Reverend Jonas Nightengale als smarten Kopf einer geistlichen Betrügerbande, die ihr Festzelt im armseligen Dorf Rustwater aufbaut. Und dort ihren Showdown erlebt.
Während die Truppe die erste Show vorbereitet, etabliert das intelligente Drehbuch von Janus Cercone eine klassische Western-Konstellation. Der Sheriff steht auf gegen den Bösewicht und zieht dessen schöne Gefährtin (Debra Winger) in sein Lager. Richard Pearces Regie folgt diesem Verlauf nur zögernd und zelebriert die Einleitung geradezu mit großem Gospel-Soundtrack und epischer Detailverliebtheit. Erst als Martin nach der Erweckungs-Show, in der er alle Register seiner bereits in Saturday Night Live erprobten male model- Posen gezogen hat, vom Sheriff buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen erwischt wird, geraten die Dinge in Fluß - und für den Reverend außer Kontrolle.
Wenn er sich ganz wie Don Camillo an das Kruzifix wendet, um in einer Art Rede an den toten Christus zum Weltgebäude hinauf den Wunderglauben gerade in dem Moment zu verwerfen, als seine Choreographie billiger Tricks durch eine echte Heilung durchbrochen wird, gewinnt die Figur tragische Facetten, die der ärgerliche deutsche Titel unterschlägt. Hinter dem großen Kommunikator wird der trickreiche Junge aus der Bronx sichtbar, der gelernt hat, Wunder eher zu bewerkstelligen als sie zu erwarten. Seinem intuitiven Blick für das Besondere und Veränderbare (und sei es durch Manipulation) hält die Regie eine scheinbar zeitlose, dörfliche Welt entgegen.
Diese bekommt letztlich, wovon sie träumt: Wunder über Wunder, doch Nightengale ist bereits wieder on the road. Der Leap of Faith (so der Originaltitel), der "Sprung des Glaubens" ist seine Sache nicht. Zurück bleibt eine Stadt, in der nichts mehr so ist wie noch drei Tage zuvor, und ein Publikum, das sich fragt: Scherz, Ironie oder tiefere Bedeutung?
6.4.
Rechtsruck im Land der letzten Dinge: "Stau"
Das Land der letzten Dinge ist keine Zusammenballung von Städten, wie sie wuchtige filmische und literarische Fiktionen beschwören. Für den deutschen Dokumentarfilmemacher Thomas Heise liegt es in der Provinz.
Halle-Neustadt, ein kleiner Ort im wiedervereinten Deutschland: Ein brennendes Auto, bröckelnde Fassaden, die Ausfallstraße ist dicht befahren. Durch eine dreckige Fensterscheibe beobachtet die Kamera zwei Kinder, die zwischen Mülltonnen spielen.
Diese pittoresken Außenaufnahmen wirken am Ende wie ein fortlaufender Erklärungsversuch in einer Annäherung an Protagonisten rechten Gedankenguts, die sich jedes expliziten Kommentars enthält. Und dafür zumindest in Deutschland einige Verurteilungen einheimste, bevor sie überhaupt richtig präsentiert worden war. Politische Korrektheit wird wohl nur bei massiver distanzierender Didaktik bescheinigt.
Heise läßt sich Zeit, bis er an sein Thema rührt. Erst nachdem er in einer Küche ein Refugium von Normalität aufgespürt hat, taucht die Kamera ab. In einem Club versuchen Jugendliche unter Anleitung eines sinistren Cheer-Leaders der "Parole Spaß" durch tapfere "Jetzt geht's los"-Chöre gerecht zu werden.
"Druck von rechts", wie ihn Der Spiegel im Gewaltjahr 1992 geortet hat, hat sicher andere Epizentren als jene lose Runde junger Männer, die Stau porträtiert. Deren Ideologie ist derart vage und unausgegoren, daß damit kein Staat zu machen ist, nicht einmal ordentliche Opposition.
Heise läßt sich jedoch nie dazu verführen, diese Ungereimtheiten vorschnell auszuspielen. Er zeigt sich eher interessiert an dem Unbehagen, das hinter der äußerlichen Selbststilisierung durch Kleidung, Haarschnitt und Vokabular verborgen liegt.
Von einer Gewalt der Verhältnisse
Vergleichbar dem Psychoanalytiker, der durch sein Schweigen zum Reden provoziert, vermeidet er oft über längere Pausen hinweg Schnitte und Zwischenfragen, obwohl dadurch manchmal das Gespräch tatsächlich abbricht. Andererseits arrangiert er Situationen, begleitet die Gruppen auf einer Fahrt in das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald oder versammelt eine Familie um den Wohnzimmertisch.
Zur Sprache kommt dabei weniger eine ausagierte und phantasierte Gewalt, sondern jene Gewalt der Verhältnisse, die den defensiven Gestus, den die Rechten für sich beanspruchen, erst ermöglicht. Die Kameraschwenks über devastierte Betonwüsten im fahlen Licht der untergehenden Sonne wirken dann allerdings wie fatalistische, bestätigende Illustrationen jener Zusammenhänge, über die Heise im Gespräch gerade hinaus will. Dort gibt er sich mit einfachen Schuldzuweisungen nicht zufrieden und beweist, daß Film Reflexion nicht nur anregen, sondern auch abbilden kann. Daß er andere Möglichkeiten hat, als sich einer Endzeit-Ästhetik zu ergeben.
8.4.
Zeitdiagnose, lakonisch
Das Leben ist ein langer ruhiger Fluß, will man in Sachen Gefühlen eine halbwegs ausgeglichene Bilanz ziehen.
Ungeliebte, doch bekannte Umstände überdauern am Ende die Augenblicke des Neuen: Die blaue Stunde (bei Beziehungs-Meister Eric Rohmer noch ein poetischer Moment an der Schwelle zwischen Nacht und Tag, hier recht prosaisch eine Kneipentour durch Berlin mit zärtlichem Ausgang) führt zwei Einsame zusammen.
Lakonisch erzählt der Schweizer Regisseur Marcel Gisler, wie Erwartungen zu früh oder zu spät erfüllt werden, wie sich urbanes Leben in die Bedeutungslosigkeit kurzer Begegnungen, zaghafter Hoffnungen, pragmatischer Verhältnisse verläuft. Kühles Ambiente und spröde Klaviermusik tun ein übriges, eine Aura von Bedeutsamkeit zu erzeugen. Für Zeitdiagnostiker.
29.4.
Pieta und Biochemie
Medizinische Eigeninitiative im Kino: Eine wahre Geschichte als Passionsspiel
Einer muß leiden, um viele zu erlösen. Die Logik eines strengen Gottes behält ihre Gültigkeit auch gegenüber der Natur, die blind und gnadenlos ihre Opfer fordert. Wie den kleinen Lorenzo Odone, bei dem eine heimtückische Stoffwechselkrankheit langsam das Gehirn zerstört. Regisseur George Miller (Mad Max I - III, Die Hexen von Eastwick) kommt in Lorenzos Öl schnell zur Sache. Der Vorspann allein ist der Idylle vorbehalten. Dann geht es Schlag auf Schlag, Schnitt auf Schnitt, das Todesurteil wird verkündet und gleich darauf in einer österlichen Lichtfeier Erlösung verheißen. Die Verheißung wird aber nicht durch Wunder eingelöst, sondern durch Aufklärung. "Sapere aude", hat Kant gemeint: Wage das Wissen.
Die Unmündigkeit der Familie Odone (Nick Nolte gibt einen Hiob der amerikanischen Middleclass, an seiner Seite als Schmerzensmutter: Susan Sarandon) ist nicht selbst verschuldet. Sie ist das Resultat eines schwer entwirrbaren Geflechts aus Interessen und Loyalitäten, in das die moderne Medizin ihre Patienten verstrickt. Zwischen Selbsthilfeorganisationen und Ethikkommissionen wird der eigene Sohn zum "Fall", den nur die Eltern lösen können.
Das Kinopublikum nimmt an den auf eigene Faust unternommenen Recherchen hautnah teil. Geduldig und nicht ohne didaktische Anstrengung wird es über langkettige Fettsäuren und ihre Reaktionsweisen informiert. Das Abenteuer Forschung steht jedem offen, der sich seines Verstandes bedient: Schließlich wird eine verblüffende Medizin gefunden. Mit einem Salatöl triumphiert die biologische Landwirtschaft über die Pharmaindustrie. Drastisch bebildertes Leid bekommt Sinn im Blick auf die künftigen Opfer einer Krankheit, die nicht mehr den Stachel des Todes in sich trägt.
Daß die besten Geschichten das Leben schreibt, ist ein ebenso oft behaupteter wie unbewiesener Satz. Im Abspann läßt Miller Betroffene zu Wort kommen und zeigt mit dieser kurzen Anspielung auf Reality-TV erst deutlich, daß die besseren wahren Geschichten nach wie vor das Kino erzählt. Auch wenn sie gelegentlich in ein Rührstück umkippen.
22.5.
Liebe in Zeiten der Rezession
Österreichs Prominente würden es nie tun - ihre Frau gegen eine Million Dollar für eine Nacht feilbieten wollen.
Die intensive Vorabpropaganda für Adrian Lynes neuen Film Ein unmoralisches Angebot verfehlt eigentlich das Thema, denn Lyne will mehr. Seine Dreiecksgeschichte zwischen dem rezessionsgeschüttelten Liebespaar (Demi Moore und Woody Harrelson) und dem schwerreichen Versucher (Robert Redford) versteht sich als Reflexion über die Frage: Ist wirklich alles käuflich? Sogar die Liebe?
Die Verneinung wäre noch vor wenigen Jahren nicht so selbstverständlich ausgefallen, aber damals waren ja auch die rücksichtslos genußsüchtigen Jahre der Reagan- Administration, und von Liebe sprach kaum jemand. Auch Lyne nicht, als er Kim Basinger den Weg unter Mickey Rourkes Knute mit Dollarnoten vorzeichnete.
Eigenheim-Ambition
9 1/2 Wochen war ein zeitgeistiger Film, wie es auch Indecent Proposal sein will. Sollte damals das fast anonyme Verhältnis in den Schluchten der Großstadt die Phantasien beflügeln, setzt die Traumfabrik jetzt wieder auf dauerhafte College-Beziehungen mit Eigenheim-Ambitionen. Aber der Teufel schläft nicht, die Liebe hat sich zu bewähren.
Robert Redfords mephistophelisches Angebot ereilt das Paar in der Stadt der Sünde, Las Vegas. Das Glücksspiel als Versuch, Liebesidylle und Lebensstandard zu retten, zeichnet die (kurzfristig) abschüssige Bahn vor. Und Lyne findet ausreichend Gelegenheit, seiner Lieblingsbeschäftigung zu frönen: Schauspieler in ein übermächtiges Ambiente zu stellen und sie dann allein zu lassen. Woody Harrelson läuft denn auch mit unentwegt dramatisch geschürzten Lippen einem Geschehen hinterher, das auf stereotype Konfrontationen setzt, wo das Drehbuch durchaus subtile Dialogpsychologie angeboten hätte.
Robert Redford hingegen übt sich in melancholischem Understatement, als wollte er seine Unterforderung demonstrieren. Besser ist er derzeit ohnehin als Regisseur. Sein dritter Film Aus der Mitte entspringt ein Fluß zeigt, wie Mainstream-Kino auch sein kann: eine Geschichte von zeitloser Größe, sorgfältig erzählt, schön photographiert und voller Weisheit. Die Verleihpolitik ermöglicht den unmittelbaren Vergleich.
27.5.
Heitere Polit-Spieler und verbitterte Bürger
"Die Wahlkämpfer", Helmut Grassers Dokumentarfilm über Mitarbeiter und Wähler der FPÖ, schaut ins Land hinein und sieht wenig mehr als bekannte verbitterte Mienen
Die Vorankündigung verrät in ihrer Aggressivität eine Spur Verunsicherung. "In den Kinos, die sich was trauen" läuft am Freitag Helmut Grassers Dokumentarfilm über Klientel und Mitarbeiterstab der FPÖ an - Die Wahlkämpfer. Verunsicherung, so könnte man mutmaßen, ob der leisen Angst vor einem zu frühen Abflauen der medialen Hochkonjunktur Jörg Haiders. Verunsicherung aber auch, weil Risiko etwas trotzig für einen Film reklamiert wird, der in Wahrheit wenig wagt. Vielleicht spekuliert man auf einen bekannten Reflex. Sehr vorhersagbar sind die Reaktionen auf Filme, die Rechten das Wort erteilen.
Vom bedächtigen "Dürfen S' denn das?" bis zu Gegendemonstrationen reichen Antworten, die die gezeigten Inhalte verurteilen, ohne ihre kinematographische Form zu reflektieren. Wenn Autonome in Berlin eine Aufführung von Thomas Heises zwiespältigem Porträt rechtsradikaler Jugendlicher in der ehemaligen DDR (Stau - Jetzt geht's los) verhindern, dokumentieren sie unbewußt Vorstellungen von kultureller Sauberkeit, wie man sie lange auf seiten ihrer Gegner vermutet hätte.
Der Film Die Wahlkämpfer setzt in einem raren dramatischen Moment auf eine ähnliche Konfrontation. Bei einer Kundgebung der FPÖ in Linz führen Proteste gegen "Nazischweine" zu Tumulten, in denen Peter Zeitlingers Kamera gehörig ins Trudeln kommt. Die Polizei verweigert ein Eingreifen, der Kameramann schwankt, fällt: Sendepause. Verwackelte Bilder simulieren einen Krieg. Man kennt das aus dem Fernsehen.
Ansonsten gilt die einfache Devise: ins Land einischaun. Der Bilderbogen als Pandämonium der österreichischen Seele. Die Wahlkämpfer sind ein amorpher Reigen von Gesichtern: die grinsende "Bubenpartie" um den "Freund" Jörg; verbitterte Mienen großteils älterer Menschen, deren Affekte Haiders Antriebsenergie auf der "politischen Hochschaubahn" bilden. Deutlich wird dabei einiges, was nicht ganz neu ist.
Daß Politik zum Spiel verkommt, wenn der Parteichef die persönlichen Referenten aus seinen Tennispartnern auswählt, überrascht nicht. Wenn dann ein Mann aus Haiders engster Umgebung ganz offensichtlich einfach nicht weiß, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, hält man zwar kurz den Atem an. Aber Die Wahlkämpfer wiederholen nur die Lektion ungezählter Fernsehsendungen, in denen wir gelernt haben, uns über nichts mehr zu wundern.
Entsprechend hilflos fällt auch Grassers Versuch aus, den unsäglichen Parolen gegenzusteuern. Als er sich mit einem älteren Herrn auf einen privaten Historikerstreit einläßt, zieht er den Kürzeren. Die Stimme der Vernunft ist leise, gewiß. Dummheit feiert falsche Siege.
Egon Humers Schuld und Gedächtnis hat uns die Augen geöffnet dafür, wie explizit Nationalsozialisten bis heute denken und reden, aller historischen Evidenz der Barbarei zum Trotz. Stau war der Versuch, jugendlichen Rechtsradikalismus als Reaktion auf individuelle Ortlosigkeit ästhetisch zu inszenieren. Die Wahlkämpfer liegen thematisch zwischen diesen beiden Filmen, verzichten aber auf eine filmisch und dramaturgisch schlüssige Umsetzung.
Das Bestreben, den Film fast vollständig in einen Gestus bloßen Zeigens aufgehzen zu lassen, vergibt fast alle Chancen auf eine analytische Stellungnahme, über die eine Diskussion lohnen würde. Der Schnitt von den Marktplätzen in die Wohnzimmer macht wohl Menschen vertrauter (und weckt natürlich auch Verständnis), aber das Private enthüllt nichts. Am Ende ist man nicht klüger; man kennt nur ein paar Gesichter.
5.6.
Kafka, überproduziert
Die "Essenz der beginnenden neunziger Jahre" ortete der Produzent bei der Lektüre von Harold Pinters Drehbuch, in dem (dreißig Jahre nach Orson Welles) dem neuerlich bedauernswertem Josef K. der Prozeß gemacht wird. Bevor er sich auf dem Altar einer grausamen Menschheit förmlich schlachten läßt, dient er allerdings noch einem Filmprojekt als Vehikel, dessen Szenario die ökonomichen Ziele der EG-Filmpolitik (Amerika!) in eine Ästhetik der gehobenen Tourismuswerbung übersetzt. Recht hölzern taumelt Kyle McLachlan durch ein Prag voll barocker Düsternis, bis ihm Anthony Hopkins in der Dom-Szene erklärt, was eigentlich los ist. Sein Vortrag der Parabel "Vor dem Gesetz" weist Pinter immerhin als Kafka-Kenner aus.
7.6.
Der Trost von Zweiflern: Paul Schrader in Graz
Eine Metapher aus dem eigenen Buch könnte Paul Schrader eingefallen sein, als er am Mittwoch der Open-Air-Aufführung zweier seiner Filme beiwohnte. Der Theoretiker der "flachen", "gebügelten" Bilder eines Robert Bresson mußte mitansehen, wie seine eigenen Meisterwerke American Gigolo und Der Trost von Fremden auf eine breite Falten werfende Leinwand projiziert wurden. Ein Detail am Rande des Symposiums Du sollst dir (k)ein Bild machen, dem drei Tage lang der Brückenschlag vom Filmtheoretiker Schrader zum Regisseur nicht recht gelingen wollte. Der beabsichtigte "Dialog von Theologie und Filmwissenschaft" stockte nicht nur aufgrund zeitweiliger Indisposition des Meisters immer wieder.
Sprachenverwirrung
Schrader trug seine - zwanzig Jahre alten - Thesen von einem transzendenten Filmstil reichlich leger vor und irritierte dann die überwiegend aus der Theologie kommenden Diskussionspartner mit dem puristisch anmutenden Beharren auf einem sehr kleinen Kanon von Filmen, die seinen Kriterien genügten. Unwirsch reagierte er auf wiederholte Versuche, Filme von Tarkowskij mit dem Prädikat transzendent zu adeln oder gar die Ökopessimismus-Schnulze Koyaanisquatsi zu einer Offenbarung des Absoluten hochzuloben.
Als einziges neueres Exempel für einen "spirituellen Film" - das Symposium ließ durchwegs klarere Begriffe vermissen - fand John Hustons letzter Film The Dead Schraders Zustimmung. Ohne Rücksicht habe sich der "Altmeister von Sex und Gewalt" mit seiner Joyce-Adaption ein Werk voll "Frieden und Macht" erlaubt. Es wäre nahegelegen, Schraders Thesen anhand seiner Filme zu diskutieren, die "einen transzendenten Stil mit den Erfordernissen kommerziellen Kinos versöhnen" möchten. Wie weit diese Quadratur des Kreises etwa in Light Sleeper gelang, wurde jedoch kaum thematisiert.
Den Eindruck einer babylonischen Sprachenverwirrung hinterlassen wissenschaftliche Symposien oft. In Graz fand man keine kongeniale Sprache für einen Mann, dessen Biographie wie eine Illustration zu seinem einzigen Satz wirkt, der ungeteilte Zustimmung fand: "Das Christentum ist eine schwierige Sache für intelligente Leute."
9.6.
Kosmos der Irrlehren
"Jesus Walking On Screen" (reb) Der zweite Tag von Jesu zweiwöchiger Wiener Leinwandreise. Der Weg zur Erlösung - oder zur Erkenntnis - als Wanderschaft: Luis Buñuel läßt zwei Vaganten den Kosmos der christlichen Irrlehren durchschreiten. Die Milchstraße nimmt Theologie so wörtlich, daß sie grimmig verzerrt erscheint. King Vidor inszenierte 1929 ein Gospel-Passionsspiel: Hallelujah, einer der ersten Tonfilme und das erste schwarze Musical, zeigt einen Mann, einen Mord, ein Leben der Sühne. Stadtkino, 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7-8, (0222) 712 62 76. 19.00 und 21.00
14.6.
Von Kafkanien nach Kalkutta
Gestern abend gingen in Wels die "Österreichischen Film Tage 1993" zu Ende
Zur Eröffnung hatten die Redenschreiber tief in die Metaphernkiste gegriffen. Vom lange Zeit siechenden Patienten war die Rede, der nun wieder auf die Beine gekommen sei. Und von "geschützten Werkstätten", in die man das heimische Kino mit der "dirigistischen Knute" eines staatlichen Filminstituts verbannen möchte.
Die Film Tage Wels stolperten bei den ersten Schritten nach dem Krankenlager allerdings gleich ordentlich. Der Eröffnungsfilm, Jürgen Kaiziks Die Zeit danach, ein beabsichtigter Thriller um vertauschte Identitäten und verlorene Gewißheiten, verhedderte sich in einem blaugrün dahindämmernden Kafkanien. Mit Matthieu Carriere als marktwirtschaftlichem Heilsbringer im darniederliegenden Osten ist dieser Kommentar zur Zeitgeschichte so brisant wie ein letztes Interview mit Oskar Werner.
Anekdoten . . .
Das gab es auch zu sehen. Ich durfte am Tisch der Götter sitzen: Matthias Pramls einstündiger Zusammenschnitt letzter Erinnerungen des Schauspielers geht nicht über das Anekdotische hinaus. Ein dritter potentieller Höhepunkt kam kurzfristig zustande. Robert Dornhelms US-Fernsehfilm Maria, Mrs. Lee Harvey Oswald: Solides Handwerk zur Auf- und Erbauung von "God's own country". Amerika ("du Land der Möglichkeiten") bekam auch eine Strophe in Maria Lassnigs Kantate gewidmet. Ihr nebenher gezeigtes Gesamtwerk bewies, daß man einen Amerikaaufenthalt ohne Verlust der künstlerischen Integrität überstehen kann.
Der in Deutschland lebende Regisseur und Schauspieler Peter Kern bekam eine "Hommage"; für den Experimentalfilmer Marc Adrian gab es eine "Werkschau"; zwei Filme in memoriam Karin Brandauer: jede Menge Programm neben der tristen Haupt- und Informationsschiene - für eine insgesamt recht kleine Publikumsgemeinde.
Zumindest die Preise waren so großzügig bemessen wie im Vorjahr. Ulrich Seidls Grenzland-Dokumentation Mit Verlust ist zu rechnen erhielt den mit 150.000 Schilling dotierten Preis für den besten abendfüllenden Kinofilm. Nadja Seelich wurde für ihr Porträt der Schriftstellerin Jana Cerna, Sie saß im Glashaus und warf mit Steinen, mit dem Dokumentarfilm-Preis (50.000 Schilling) bedacht.
Selbst Wichtiges fand vor schütteren Reihen statt. Marc Adrians Pueblo (1. Teil) (1989) hätte den vertretenen Dokumentarfilmern zumindest eine Provokation sein können. Zwischen oft nur gut gemeinten Arbeiten nahm sich Adrians Meditation über den Künstler als Indianer (und umgekehrt) wie die Weisheit eines Schamanen aus, der keine Schüler mehr findet. Sein jüngstes Werk Kiln fand an Intensität allenfalls ein Pendant in Christoph Schlingensiefs deutschem Spektakel Terror 2000. In Wels wurde es wegen Peter Kern gezeigt, der hier einen lechzenden Kriminalbeamten im enthemmten Deutschland gibt. Neben dieser Trash-Orgie konnte nur ein heimischer Spielfilm bestehen. Götz Spielmanns Der Nachbar, ein psychologisch genaues Porträt eines alten Mannes, der unvermutet aus der Guckkastenperspektive ins pralle Leben gerät, besticht durch großartige Schauspielerleistungen.
. . . und Reiseberichte
Reisen geben den Hintergrund für zwei gelungene Kurzfilme ab. Hans Scheugl erfährt Kalkutta buchstäblich mit dem Taxi. Neun Minuten Kamerafahrt ohne Schnitt: GO! Gerda Grossmanns Eine Reise erzählt zu hypnotischen Bildern im Off eine Geschichte von Verrat und Treue, in der das Gute auf vertrackte Weise obsiegt. An homöopathischen Dosen wie diesen könnte der österreichische Film genesen. Wenn es seine vielen Ärzte zulassen.
17.6.
Heilige Kinematographie
Clark Gable und Joan Crawford und eine Gruppe entflohener Häftlinge im Dschungel von Französisch-Guyana auf der Suche nach dem verlorenen Seelenheil: Das ergab im Jahr 1940 unter der Regie von Frank Borzage einen straffen, schnörkellosen Thriller namens Strange Cargo. Ein kubanischer Großgrundbesitzer, der seine Sklaven zu einem perversen letzten Abendmahl versammelt: Das war 1975 der Mittelpunkt von Tomas Gutierrez Aleas Meisterwerk La Ultima Cena. 20 unabhängige deutsche Filmemacher, die 1985 unter der Leitung von Michael Brynntrup auf Super 8 "Leben und Leidenszweck" von Gottes Sohn episodisch und mitunter sehr humorig aufarbeiteten: Jesus - Der Film.
Diese Produktionen versammeln sich mit vielen anderen eine Woche noch zur Filmschau JESUS WALKING ON SCREEN. Enden wird diese, wie könnte es anders sein, mit Martin Scorseses umstrittener Kazantzakis-Verfilmung The Last Temptation Of Christ. Stadtkino, 3., Schwarzenbergplatz 7-8, (0222) 712 62 76. Genauere Daten entnehmen Sie bitte dem täglichen Kinoprogramm. Bis 25.6.
18.6.
Finnen, melancholisch
Die Gebrüder Kaurismäki mausern sich langsam zur gesamteuropäischen Institution, zumindest was die Topographie ihrer Werke betrifft. Der etwas unbedankte Mika fügt in das gemeinsame Koordinatennetz (nach der Berlin-Neapel-Connection) mit Zombie and the Ghosttrain nun eine weitere Metropole ein: Istanbul. Unter der Galata-Brücke, wo Raki die Melancholie einsamer Männer dämpft, geht die Reise des verhinderten Bandleaders Zombie zu Ende: so könnte Blixa Bargeld aussehen, wenn er die Kurve zur Hochkultur nicht geschafft hätte. Ein Finne auf der Flucht findet überall das Gewohnte vor. Der Orient als Fata Morgana verliert sich im grauen Gassengewirr. Zombie torkelt hintendrein. Im Wiener Votiv und Admiral. (reb)
Mohr, eifersüchtig
Sein Traum währte nur kurz. Nach Citizen Kane konnte Orson Welles nie mehr mit derartiger künstlerischer und ökonomischer Freiheit arbeiten und mußte seine Filme den prekären Entstehungsbedingungen förmlich abtrotzen. So brauchte auch Othello - neben Macbeth seine zweite Shakespeare-Adaption - vier Jahre Drehzeit und verschwand trotz Goldener Palme in Cannes bald aus den Kinos. 40 Jahre später erweist man mit einer restaurierten Fassung diesem oft unterschätzten Werk Gerechtigkeit. Welles, ein Meister der Anfänge, inszeniert einen Prolog von so archaischer Fremdheit, daß dann auch Venedig wie eine nie zuvor gesehene Stadt wirkt. Er reduziert die Figuren auf ihre Silhouetten und erzählt das Eifersuchtsdrama in einer Bewegung zwischen mythischem Schattenreich und ausgesetzter marokkanischer Küstenlandschaft.
Des Meeres und der Liebe Wellen: Thou shallst not miss it! OF im Burg Kino Wien. (reb)
21.6.
Männerwitz, müde
Wenn die Frau zur Obsession wird, ist guter Rat teuer. Glücklich, wer dann einen Killer zur Hand hat, der diesen Fall nicht einfach exekutiert, sondern mit branchenüblicher Weisheit dem Glück eine Hintertüre offen hält.
Mit Tango Mortale versucht Patrice Leconte (Der Mann der Friseuse) sich an einem neuen Genre: Herrenwitz mit Happy-End. Sichtlich verliebt in das eigene Drehbuch, inszeniert er einen Episodenreigen, dessen Kalkül so offensichtlich ist, daß das Lachen erstirbt. Bald findet der Zuseher sich in der Rolle des Pointenprognostikers wieder, sofern er nicht über die Funktion der Klassikerzitate (von Hitchcock bis Coppola) grübelt. Lediglich durch zwei Charakterköpfe gewinnt diese Ode auf den männlichen Blick Profil. Philippe Noiret spielt den Mäzen einer mörderischen Spritztour mit kindlichem Sadismus, und Richard Bohringer besteht auch Höhepunkte Leconte'scher Inspiration mit stoischer Bravour. Derzeit im Kino. (reb)
25.6.
Babyspeck in Ekstase: Film-"Twist" in die Fifties
In den fünfziger Jahren wurde getanzt, als wollte sich eine ganze Babyspeck-Generation innerhalb weniger Nächte auf Twiggy-Fasson zurechttrimmen. Im Rhythmus weniger Wochen wechselten einander die Modeschritte ab. Der Popeye, der Mashed Potato, der Sanctifiction und zuvorderst der Twist. Was dem beiläufigen historischen Rückblick wie ein einziger anarchischer Befreiungsakt aus den elterlichen Schrittmustern von Foxtrott und Tango erscheinen könnte, war in Wirklichkeit ein komplexes Regelwerk, transportiert und gesteuert durch das neue Medium Fernsehen mit seinen trendsettenden Moderatoren.
Nicht selten war von den schwarzen Kids abgeschaut, was dann als das neue weiße Ding über den Äther gejagt wurde. Ron Mann versucht mit Twist, in eine Unmenge an zeitgenössischem Material (vor allem aus den Bandstand-Shows, in denen Leute von der Straße im TV-Studio auftanzten) ein Minimum an Struktur zu bringen.
Tanzstunden im Kino
Die Montage mit heutigen Rückblicken wesentlicher Protagonisten aus dem "land of a thousand dances" reiht Verlierer wie Hank Ballard, der den Twist erfunden hat, neben Gewinner wie Chubby Checker, der ihn populär gemacht hat. Menschen, auf die Andy Warhol sein Diktum vom Zwanzig-Minuten-Star gemünzt haben könnte, stellt Mann ein zweites Mal ins Scheinwerferlicht. Das Tempo, das die Tonspur naturgemäß vorlegt, versucht der Schnitt gar nicht erst mitzuhalten. Statt dessen steigt er mit Schwarzblenden und der nicht gerade zündend umgesetzten Idee, den ganzen Film in Tanzschulstunden zu gliedern, ordentlich auf die Bremse. Das Problem, daß Ekstase und Analyse nicht eben siamesische Zwillinge sind, vermag er damit zwar nicht zu lösen. Immerhin ergibt es insgesamt einen passablen Beitrag zum immer wichtiger werdenden Genre Dokutainment.
25.6.
Retorte, anti-ödipal
Wie steht es um den Ödipuskomplex im Zeitalter der Samenbanken? Schlecht. Die Kinder wachsen ohne Vater zu gesunden, hochbegabten jungen Menschen heran und arrangieren dann in der Pubertät ein spätes Liebesglück für die Mutter. Wo Psychiater also wenig zu tun haben, gibt es allemal noch Arbeit für gewitzte Drehbuchautorinnen. Es wäre doch gelacht, wenn es bei der computervermittelten Befruchtung keine Pannen gäbe. Und dadurch komödienträchtige Elternkonstellationen. Hektisch steuert Made in America die Konfrontation zwischen Whoopi Goldberg und ihrem Ex-Samenspender (Ted Danson) an, um das gemischtrassige Doppel dann auf den üblichen Umwegen zum programmierten Happy End zu führen. Ein sehr heutiger Film mit einigen gestrigen Witzen. Ab heute in den österreichischen Kinos. (reb)
Genres, wahllos
Verkehrte Welt. Der Biedermann Phil Collins, vom Typ her (wenn er schon schauspielern will) eher für den Part des Opfers von Objekttücke prädestiniert, muß in Frauds - Ein schräger Vogel als grinsender Quälgeist einen Möchtegern-Thriller zu einem Showdown im Kinderzimmer (bzw. in Tim Burtons Abstellkammer) schleppen, der zum Slapstick hinüberschielt, allein: es fehlt das Tempo. Die Geschichte vom schlaffen Jungehepaar, das durch einen erpresserischen Störenfried auf Touren gebracht wird, verliert sich zwischen unbeholfenen Bemühungen um Psychologie (Am Anfang war das Trauma) und ärgerlich eindimensionaler Metaphorik (das Leben als Würfelspiel - in Zeitlupe!). Wo jede Spannung fehlt, glaubt man auch dem Soundtrack nicht mehr, der sie unentwegt behauptet. Ab heute im gesamten Bundesgebiet. (reb)
1.7.
Ein zweites Leben als Imitation
"Codename: Nina" - ein schamloses US-Filmremake von Luc Bessons "Nikita"
Der Himmel kann warten. So beginnen Geschichten vom zweiten Anlauf, einer zweiten Chance, die besseren Entscheidungen zu treffen, und meist enden sie mit einem desillusionierten Blick auf neue Eingeschränktheiten.
Codename: Nina (Originaltitel: Point of No Return) stülpt die alte moralische Erbauungsfabel um. Der Himmel muß warten, denn eine zum Tode verurteilte junge Frau (Bridget Fonda) wird noch gebraucht. Ihre Aggressivität wird von einer staatlichen Geheimorganisation domestiziert und nutzbar gemacht, sie wird zum ferngesteuerten Geschoß einer anonymen Gewalt, die den Spielraum des zweiten Lebens festlegt.
US-Regisseur John Badham (War Games, Das unsichtbare Auge) erhielt mit diesem Stoff die Chance, eine Geschichte zum zweiten Mal zu erzählen. So als würde man eine Platte des Gun Club einfach von, sagen wir, John Cougar Mellencamp nachspielen lassen (mit Daniel Lanois als Produzent), gibt Luc Bessons Thriller Nikita (mit Anne Parillaud, 1990) anfangs geradezu eine Partitur für Badham, der diese denn auch getreulich nachstellt: Takt für Takt, Einstellung für Einstellung.
Aufgemotzt allerdings mit den kleinen Unsitten, die - weil ohne ersichtliche Funktion - hier wohl das ersetzen sollen, was bei Besson zumindest als erkennbare Absicht vorhanden war: Stil. Axthiebe in Zeitlupe, schiefe Kamerawinkel zeigen nicht mehr als die Handschrift eines Regisseurs als Studio-Söldner. Man sieht förmlich, wie Badham aufatmet, wenn er die düstere erste Hälfte hinter sich gebracht hat. Nachdem sie durch ein unterirdisches Trainingslager gegangen ist, von Anne Bancroft Manieren beigebracht bekommen und eine blutige Prüfung bestanden hat, darf Bridget Fonda ans kalifornische Sonnenlicht: ein all american girl in tödlicher Mission.
Sukzessive gestatten sich Regie und Drehbuch einige Freiheiten. Den alten Soletti-Kuß mit Ravioli nachzustellen, mag witzig finden, wem es in verschwommener Weise darum geht, aus einer kühlen Vorlage das "Menschliche" herauszutauen. Zum Vorschein kommt eine hausbackene Mutterverlustpsychologie (mit Nina Simone als musikalischem Erinnerungsfetisch), von Fonda (die ohnehin nicht gerade nuanciert spielt) ergreifend vorgetragen.
Gegen Ende verzeichnet der Film eine Überraschung. Ein "Cleaner" tritt auf, um die verworrene Lage zu bereinigen. Niemand Geringerer als Seine Omnipräsenz Harvey Keitel exekutiert den Showdown, der allen den ersehnten Ausweg aus diesem Film eröffnet. Codename: Nina ist, wenn überhaupt etwas, ein Lehrstück über die Grenzen der Freiheit - seien sie aus Mangel an Begabung oder auferlegt von einer Produktionsmaschinerie, die in kargen Zeiten ihr Überleben sichert, indem sie die (im weitesten Sinn:) Independent-Kultur plündert. Abzusehen ist: Bald wird ein Cop mit zwei Gestohlenen Kindern eine amerikanische Reise machen. Wetten auf Regie und Rollenbesetzungen werden angenommen.
2.7.
Neues Fleisch und sprechende Körper
" Auf Wiedersehen, erste Person Singular." Was am Ende des Cronenberg-Buches einen videodromatischen Abschied vom Subjekt anzeigt, könnte auch Leitmotiv für die Arbeit einer Wiener Gruppe sein, die unter der Kollektiv-Chiffre PVS-Verleger ambitioniert an einer Infrastruktur für filmtheoretisches Publizieren arbeitet und mit inzwischen schöner Regelmäßigkeit (nicht nur) Mitgliedern ermöglicht, aus der Anonymität der privaten Schreibkammer ins Licht öffentlicher Verfasserschaft zu treten. Das Subjekt kehrt als Autor in den Diskurs zurück, und sei es nur, um "das melancholische Szenario der systematischen Destruktion einer individuellen Integrität zu schreiben".
Ein Jahr und eine Veröffentlichung später, mit dem Buch über John Cassavetes, sieht sich das Lesepublikum um eine weniger trübsinnige Option bereichert: Gerade auch in der Destruktion vermag integer zu bleiben, wer sich zum Ausdruck bringt als Körper. Zugegeben, der Rezensent läuft nach Lektüre der beiden Bücher akut Gefahr, in einem Akt der Regression seine persönliche Ordnung der Dinge wieder zu zerstören, die er mit einiger Anstrengung diesem Malstrom an Wort- und Sachvorstellungen abgewonnen hat. Doch genug des Unbehagens an der Textur.
Der einzige Leisten, über den sich die Beiträge fairerweise schlagen lassen, ist ihr eigener Anspruch. Im Cronenberg-Buch schneiden dabei jene Arbeiten besser ab, die den Mut zur kleinen These haben - vor allem neben einigen ungelenken Gehversuchen, die den schützenden Schatten der verführerischen alten Dame Psychoanalyse genießen. (Sozialwissenschaftler, die psychoanalytisch argumentieren, produzieren oft nur "unreflektierte Autobiographie": Das ätzende Diktum von Georges Devereux sei auch ins Über-Ich der Film theoretiker geschrieben.)
Nicht nur aufgrund der exzellenten äußeren Form (mit zahlreichen Fotos der Cassavetes-Weggefährten Larry und Sam Shaw) ist DirActor ein Fortschritt: Es gibt systematischer ausgewählte Texte und plausiblere Begriffe (die Filmtheorie von Gilles Deleuze wird quasi vorausgesetzt). Das Comeback einer medientheoretisch gelifteten Willensmetaphysik mag in diesem Zusammenhang überraschen, macht aber auch neugierig auf künftige PVS-Expeditionen in die dünne Luft der filmtheoretischen Hochebenen.
Drehli Robnik, Michael Palm (Hg)
Und das Wort ist Fleisch geworden. Texte über Filme von David Cronenberg öS 200,-/192 Seiten PVS Verleger Wien 1992
Andrea Lang und Bernhard Seiter (Hg)
John Cassavetes. DirActor öS 190,-/160 Seiten PVS Verleger
Wien 1993
15.7.
Eine Grammatik der Lüge
Ein Porträt des Sprachwissenschafters als Humanisten: Noam Chomsky, unerbittlicher Kritiker der etablierten US-Medien, wird in einem zweiteiligen Dokumentarfilm selbst zum TV-Star. Ab Montag in den ORF-"Kunst-Stücken".
Noam Chomsky ist ein Störenfried, ein Weltreisender in Sachen Dissidenz, stets zur Stelle, wo die Politik der USA in ein anderes Licht gerückt werden muß. In College-Hörsälen und Talkshows, an der Spitze von Demonstrationen und auf den Kommentarseiten liberaler Zeitungen verkündet er ein "Ceterum censeo": Laßt euch nichts vormachen! Oder, wie es ein anderer zorniger Amerikaner, der kompromißlose
Public-Enemy-Rapper Chuck D., auf den Punkt gebracht hat: "Don't believe the hype."
Würde man zu Parolen neigen, dieses Zitat schwarzer Ghetto-Kultur wäre wie kein anderes geeignet für einen, der das Prinzip "Einmischung" zur Lebensmaxime erkoren hat. Der öffentlichen Person Chomsky widmen die beiden Kanadier Mark Achbar und Peter Wintonick eine 160minütige Dokumentation: Noam Chomsky und die Medien (Manufacturing Consent. Noam Chomsky and the Media) ist ein Film über die Omnipräsenz der Medien. Noch ihre schärfsten Kritiker werden ohne viel Aufhebens in die große Zirkulation eingespeist. Sie ziehen allenfalls - wie in diesem Fall - die faszinierten Blicke zweier Außenseiter auf sich. Fünf Jahre haben die Regisseure Chomsky gefilmt, um schließlich aus 120 Stunden Material das Porträt eines Wissenschafters als Humanisten zu montieren.
Zu Wort kommt ein Intellektueller, dessen Statements in ihrer ruhigen, insistierenden Souveränität mehr Zeit brauchen, als in amerikanischen Nachrichten-Shows zwischen zwei Commercials zur Verfügung steht. Zu Wort kommt aber auch ein Mann, dessen Kritik an der Politik für europäische Begriffe weit weniger radikal erscheint als vor Ort, wo etwa für den Rolling Stone die "genuine Linke eine isolierte Subkultur" ist.
Die Geschichte von Chomskys Engagement entzündete sich am zentralen Topos linker Protestkultur in der Nachkriegsordnung: Vietnam. Das Ende dieses Krieges, der nicht nur in Südostasien geführt wurde, sondern auch in den Wohnzimmern der westlichen Welt, war nicht zum wenigsten ein (später) Sieg einer Bürgerbewegung, die sich anfangs auch gegen die offizielle Lesart der großen US-Medien zu behaupten hatte.
Weltpolizeiberichte
Was damals gelang, blieb ohne Wiederholung. Der launische Weltpolizist USA schreitet zur Tat oder übt sich in demonstrativer Zurückhaltung nach Maßgabe strategischer Interessen, und Zeitungen von Weltrang wie die New York Times und die großen Networks covern, das weist Chomsky eindringlich nach, die Ereignisse ganz konform zu Regierungs-Agenden.
Dieses bittere Szenario wird von Achbar und Wintonick in zwingende Bilder übersetzt bei einem akribischen Vergleich der Berichterstattung über zwei Genozide der siebziger Jahre. Im Vergleich zu den kambodschanischen Greueln der Roten Khmer, die Pol Pot in den inneren Kreis des personifizierten Bösen zu Hitler und Stalin aufrücken ließen, fand der vom opportuneren indonesischen Regime verübte Völkermord in Ost-Timor fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.
Im Streit darüber, wo dabei die Fahrlässigkeit aufhört und Methode zu walten beginnt, machen es sich einige recht leicht wie Tom Wolfe, der Chomsky kabalesüchtige Lust an Verschwörungen unterstellt, oder ein Fernsehredakteur, der den Ursprung dieser Ideen auf dem Neptun ortet (wozu sich die Filmautoren einen ironischen Bildkommentar gestatten).
Größere Argumentationskaliber kommen nicht ins Bild, was man dem Film vorwerfen könnte, wäre er nicht so offensichtlich eine Hommage an eine bewunderte Figur. Einfallsreich, fast verspielt werden diskursive Standardsituationen bebildert. Niemals erlaubt die Regie eine eingehendere, seriöse Würdigung des laut New York Times "wichtigsten lebenden Intellektuellen". Statt dessen löst sie den langen rhetorischen Atem des Meisters auf in eine kurzweilige Montage, was ihr von der amerikanischen Kritik das Prädikat "überraschend unterhaltsam" eintrug.
Kindheitsmuster
Eine Reminiszenz auf einen unterlassenen Akt von Zivilcourage auf dem Schulhof als Schlüsselerlebnis des im jüdisch-intellektuellen Milieu groß gewordenen Jungen illustriert so kurz wie deutlich Chomskys Jugend-Biographie zwischen den Enttäuschungen über den Spanischen Bürgerkrieg und den inspirierenden sozialen Experimenten der Kibbuzim in Palästina.
So wenig zur privaten Persönlichkeit Chomsky. Wenig auch zum epochalen Sprachwissenschafter, der schon allein deswegen Beachtung verdient hätte, weil sich aus seiner revolutionären Idee, Sprache als eine universale Grammatik der Gattung Mensch zu beschreiben, hinreichend Denkwege ergeben: zu einem Menschheits-Pathos, das allen nach Hegemonie strebenden Oligopolen begründete Antipathie entgegenbringt.
Faktenfanatiker
Was soweit führen kann, daß Chomsky sogar um den Preis diffamierender Fehlinterpretationen das Recht auf Redefreiheit dort verteidigt, wo ein französischer Universitätsprofessor die Existenz der Gaskammern bestreitet. Wenn der Prophet zu weit geht, bleiben die Schüler zurück: An dieser Stelle trübt sich auch der wohlwollende Blick seiner dokumentierenden Gefolgsleute.
Chomsky gemahnt an die Enzyklopädisten der Aufklärung, wenn er mit fanatischer Faktenwut an der Beförderung unterlassener Vergleiche und unterschlagener Nachrichten arbeitet. Als Galionsfigur einer ganzen Bewegung alternativer Medien, deren Projekt die Enttarnung einer Grammatik der Lüge ist. Kabale oder Lüge? Manufacturing Consent gibt darüber keine definitiven Aufschlüsse, lädt eher ein zum konstruktiven Dissens, zum Mitdenken mit einem Mann, der das Alleindenken nicht schätzt. In Österreich wird dieser Film zu einem Zeitpunkt gezeigt, da Chomskys politische Bücher aus den großen Verlagsverzeichnissen zu verschwinden beginnen und nur mehr in kleinen Häusern verlegt werden. Zur rechten Zeit also.
15.7.
Anmache, diabolisch
Schlechte Zeiten für Anwälte. Die Klienten übernehmen die Kontrolle, sei es nun im sehr physischen Sinn, wie Madonna mit ihrem Body of Evidence, oder in dramaturgischer Hinsicht, wie in Jenseits der Unschuld (Regie: Sidney Lumet), wo niemand geringerer als The Devil in Don Johnson die Inszenierung einer Konfrontation mit dem unsagbar Bösen zu verantworten hat. Daß Rebecca de Mornay die Hand von der Wiege an die Gurgel ihres diabolischen Gegenspielers führt, folgt einem Drehbuch von B-Picture-Meister Larry Cohen (God Told me To, Ambulance) höchstpersönlich, läßt hier allerdings das Publikum über weite Passagen in Leinwand- Schreckensabgründen dümpeln, deren Tiefe an jene des Neusiedlersees kaum heranreicht. Eine flaue Sache.
16.7.
Spurloser Abgang ins Reich der Zeichen
Spätestens seit Arno Schmidts Untersuchungen zu Karl May ist die Mehrdeutigkeit geologischer Geländeformationen hinreichend nachgewiesen. Wer einen Berg bloß als Erhebung in der Landschaft sieht, hat bald den Ruf einer unentspannten Beziehung zwischen Ich und Es. Die Sinne sind also von vornherein geschärft bei einem Film mit dem Originaltitel Picnic at Hanging Rock, zumal dieser Lustbarkeit eine ganze Klasse junger Mädchen an einem symbolträchtigen Datum obliegt: Valentinstag anno 1900. Der erdgeschichtlich jugendliche Vulkanfelsen als Schatten junger Mädchenblüte - eine Konstellation, aus der einige (auch spekulative) Filme zu machen wären.
Der australische Regisseur Peter Weir (Club der toten Dichter) aber arbeitete 1975 in seiner ersten Internatsgeschichte weder bloß mit dem Netz eines mysteriösen Plots (vier Mädchen verschwinden auf rätselhafte Weise) noch mit dem begehrlichen Zuschauerblick. Er wirkte ein dichtes Gewebe an Referenzen dazwischen, legte seinen Figuren einen fortlaufenden Sentenzenkommentar in den Mund und präsentierte das alles auf einem Tableau in Eastmancolor, daß einem die eben erst angespannten Sinne wieder schwinden könnten ob all der Pracht.
Eine investigative Dramaturgie überhöht sich in virtuosem Wechsel der Perspektiven. Der mythologisch und psychoanalytisch aufgeladene Kommentar zur Versöhnung mit der (eigenen) Natur im Prozeß des Erwachsenwerdens erweitert sich zu einer Parabel auf die Ablösung einer alten Ordnung. Wobei offen bleibt, was kommen wird: Picknick am Valentinstag ist ein Film über das Ende des 19. Jahrhunderts, keiner über den Beginn des neuen.
Aus unerfindlichen Gründen hat der Orkus des Kabelfernsehkanalsystems diese Pretiose noch einmal ausgespien. Spät, aber doch kann sie nun auch im Kino gesehen werden: Im Sommer, einer gefährlichen Zeit für gute Filme. Diesen nicht schon nach einer Woche wieder verschwinden zu lassen, liegt an Ihnen.
21.7.
Malefiz im Mittleren Westen
John Dahls ländlicher Film Noir "Red Rock West"
Eine Straße, einige Häuser, eine Bar. Für den Durchreisenden haben Orte keine Gestalt, nur ein Straßenschild. Red Rock West könnte ebensogut Laa an der Thaya sein, sieht man vom mythischen Potential ab, das der Mittlere Westen Amerikas landschaftsmäßig dem Weinviertel voraus hat. Zumindest im Kino, wo hitzeflirrende Straßengeraden ins Nirgendwo schon immer jenen Geist von Freiheit und "nothing left to lose" beschworen haben, der auch zu Unüberlegtheiten verleitet. Ein falscher Satz ist schnell gesagt, und erst nach eineinhalb Stunden im Kino respektive 48 Stunden in einem Strudel der Verwechslungen und Verfolgungen kann der Fremde wieder den Staub von den Stiefeln schütteln.
Dann hat er eine Geschichte erlebt, die ihm am Tresen der nächsten Imbißstube niemand glauben würde. Sie würde allenfalls als Drehbuch zu einem Film durchgehen, der das Potential einer mittelmäßigen Idee auszuloten trachtet und dabei an vielerlei Grenzen stößt: Red Rock West (Regie: John Dahl) geht es eher darum, eine Situation durchzuexerzieren, als sie plausibel zu begründen. Der Dreck am Stecken der wenigen handelnden Personen ist so glaubwürdig wie der auf dem Friedhof vergrabene Schatz. Dort finden sich die vier Hauptpersonen zum Showdown ein, nachdem sie einander wie in einem Malefizspiel in wechselnden Allianzen Prügel vor die Beine geworfen haben.
Die kleinstädtischen Abgründe, für die David Lynch in Twin Peaks noch eine schier endlose Begründungskette entworfen hatte, hier werden sie nur behauptet, um ein konstruiertes Verwirrspiel in Gang zu setzen, das sich nicht nur auf Lieblingsdarsteller von Lynch verläßt - Nicolas Cage spielt den Fremden, Twin-Peaks-Donna Lara Flynn Boyle die zwielichtige Schönheit und Dennis Hopper einen Killer -, sondern auch im Soundtrack Anleihen nimmt.
Diese Anklänge allein machen einen Film noch nicht zu einem Machwerk. Red Rock West hat seine Qualitäten, wo es gilt, eine Viererkonstellation auf kleinem Raum dramaturgisch auszuspielen und für Situationen eine Atmosphäre zu schaffen, die aussagekräftiger ist als ein im Studio nachgebautes Gräberfeld.
28.7.
Vorstadtposse, ungelenk
Komödien sind meistens so gut wie ihre Hauptdarsteller. Gesellschaft für Mrs. Di Marco (Regie: John Ruane) laboriert dementsprechend vor allem an einer akuten Fehlbesetzung, denn Sam Neill (demnächst auch in Jurassic Park) stolpert durch die Fährnisse dieser australischen Vorstadt-Posse mit einer Gelenkigkeit wie nach drei Tagen Muskelkater. Weil es aber zur Logik derartiger Filme gehört, daß der Geprügelte am Ende die Schöne heimführt, ruft die Regie vor allzu starken Blessuren: Schnitt! (Anstatt dem angedeuteten Slapstick Raum zu geben.) Oder sie zaubert in der schlimmsten Bredouille einen Typ wie aus einem Ken Loach-Film hervor, der dem Bösen mit der Kaurismäki- tauglichen Visage die Harke zeigt. Figuren wie Witze erscheinen so bekannt wie stereotyp. Euro-Kino im Down-Under-Remix. Ab Freitag im Votiv und Atelier. (reb)
31.7.
"Diagonale": Filmvergleich mit Holland
Die aus den vorjährigen Querelen rund um die Welser Film Tage unter Geburtshilfe des Unterrichtsministeriums hervorgegangene Filmschau Diagonale präsentierte ein erstes Rahmenkonzept. Das "neue nationale Festival" soll von 1. bis 8. Dezember eine Vermessung der österreichischen Jahresproduktion vornehmen. Die inhaltliche Gestaltung obliegt dabei einer Programmredaktion, der neben Intendant Peter Tscherkassky fünf Kuratoren für die Bereiche Spielfilm, Dokumentarfilm, Avantgardefilm, Kurzfilm sowie Neue Medien angehören. Haupt- und Nebenprogramm werden ergänzt durch Hommagen und eine breitgefächerte Rahmenschau: Filmland Salzburg zeigt Klassiker des Heimatfilms ebenso wie Agentenfilm-Pretiosen (etwa Die Salzburg-Connection von 1970 mit - erstmals - Klaus Maria Brandauer) und alpen glühende Flesh &bTrash-Entblößungen des Lederhosen-Genres.
Als Spielstätten stehen vier Säle in zwei Kinos zur Verfügung (Das Kino, Central Lichtspiele), und als Ausdruck der Verbundenheit mit den Festspielen verfügt man sich für den Eröffnungsfilm in das Kleine Festspielhaus.
Neben diesem konventionell strukturierten Festivalkonzept finden sich zwei Besonderheiten: Ein Ländervergleich stellt sich diesmal dem Filmland Niederlande, und eine im neuen Jahr geplante "Diagonale-Tournee" in Zusammenarbeit mit den und durch die heimischen Programmkinos versteht sich als integraler Bestandteil des Gesamtereignisses.
2.8.
Kino-Lichtblitz als Augenbad
Salzburgs "Zeitfluß"-Festival huldigt dem ersten Säkulum des Avantgarde-Films
Als die Gebrüder Lumière eine ihrer ersten Kamera-Einstellungen auf ein Fabriktor richteten, aus dem zuerst Fußgänger strömen, bis schließlich die Besitzer selbst im Zweispänner herausfahren, brachten sie gleich das eigene Unternehmen ins Bild. Die Form liegt bei dieser Szene so offen zutage, daß sie kaum wahrgenommen wird: Die präzise Rahmung des Tores, der Bewegungsverlauf von rechts nach links erscheinen so selbstverständlich wie ein morgendlicher Blick aus dem Fenster. Und der wurde denn auch zur erzählerischen Norm für den Großteil der bald 100 Jahre andauernden Kinoproduktion. Ob Dinosaurier oder Raumschiffe, ob reitende Leichen oder sprechende Teddy-Bären, im Kino wundert einen nichts - solange es halbwegs mit den alltäglichen Sehgewohnheiten kompatibel ist.
Sobald aber ein Film sich darauf beschränkt, 23 Minuten lang den kahlen Gang eines Universitätsinstitutes allein durch Veränderung der Brennweiten zum Pulsieren zu bringen, kann auch ein Filmpublizist wie Scott MacDonald aus der Fassung geraten. Kurzfristig. Inzwischen gehört Ernie Gehrs Klassiker Serene Velocity (1970) zum Kanon jenes "Partisanenkinos" (Dietmar Brehm), dem beim Zeitfluß-Festival im Rahmen der Salzburger Festspiele eine umfassende Schau gewidmet ist.
Wenn es überhaupt möglich ist, die kinematographische "Ästhetik des Widerstands" zu bestimmen, von der die Veranstalter sprechen, dann liegt sie wohl in erster Linie im Sichtbarmachen dessen, was sich gewöhnlich hinter Stringenz heuchelnden Abläufen verbirgt. Die Kurzschnitt-Technik von Kurt Kren etwa, der stellenweise einzelne Kader aneinanderreiht oder die Schnittfolge einem formalen (Zahlen-)Kalkül folgen läßt, überführt das Auge der Trägheit, indem sie Film als eine Abfolge von "Stills" bewußt macht. Krens reduzierende Bilderstürme erzielen ähnliche Effekte wie die bisweilen extrem zerdehnten Loops aus gefundenem Material ("found footage"), vorexerziert von Bruce Conner oder Stan Brakhage: der Zuseher findet sich in einer Situation freien Assoziierens wieder. Das Auge, Ort der Empfängnis von Welt, wird zum Produktionsmittel.
Eine monströse Kompilation von Brakhage wird am 8. August das Festival beschließen: The Art of Vision als fast sechsstündiges Exerzitium in der Kunst des Sehens. Bis Sonntag gibt es eine Aneinanderreihung subversiver Höhepunkte, die auf die Erkundung des Gegenwärtigen weitgehend verzichtet, um den Bestand zu sichten.
Standardwerke
Höhepunkte gibt es sonder Zahl: Jean-Luc Godards selten zu sehender Propagandafilm British Sounds (1968), verfertigt als Mitglied eines Kollektivs Groupe Dziga Vertov, treibt die Beziehung zwischen Bild und Ton in Bereiche jenseits einer Dialektik, die einfache Synthesen zuließe. Und Der Mensch mit dem kinematographischen Apparat (1929) des von Godard zur programmatischen Leitfigur erhobenen Dziga Vertov ist überhaupt ein Gipfelpunkt filmischer Selbstreflexion, verdichtet im Bild des Auges, das mit dem einer Kameralinse überblendet wird.
Erkundungen einer Ontologie von Raum und Zeit bilden einen weiteren Schwerpunkt. Bereits am Freitag war Michael Snows La Region Centrale zu sehen, die dreistündige Erforschung einer Felslandschaft mit einem Kameraschwenk um 360 Grad. Andy Warhols statische Epen Sleep und Empire sind überhaupt nur in Exzerpten zu sehen; jeweils eine gute Stunde aus acht respektive sechs wird immer noch genug Sensationen des Gewöhnlichen bewirken.
Es bräuchte gar nicht den sonntagsrednerischen Optimismus der Veranstalter, aus dieser einwöchigen Schule des neuen Sehens würde dem Publikum Raum geschaffen für "neue Utopien und neue Modelle des Handelns": Das Programm dieser Woche kann und soll zuerst verstören, verwirren, belustigen und befremden. Dann kann man weiter sehen.
5.8.
Der Teufel im Weibe
Andrzej Zulawskis Film-Phantasmagorie "Possession"
Die Vernunft hat bekanntlich eine leise Stimme, und schlafend gebiert sie Ungeheuer. In Andrzej Zulawskis Possession (1981) scheinen die Nachtgewächse allerdings einem künstlichen Tiefschlaf zu entstammen. Zulawski hat, dem Anschein nach, zu neugierig an den Blumen des Bösen gerochen und ist dann über Büchern von Joris K. Huysmans oder E. A. Poe eingenickt. Dem Traum des Filmemachers entspringt ein einfacher Gedanke: Weibliche Hysterie und männlicher Protest sind als filmisches Sujet ebenso lohnend, wie sie an die subtilen Höhepunkte einer psychoanalytischen "talking cure" verschwendet sind. Die freischwebende Aufmerksamkeit des Publikums will in Bann geschlagen werden, und dafür eignet sich die Bilderwelt von (vor-)romantischen Theorien des Unbewußten allemal besser als das Anekdotenmaterial einer Psychopathologie des Alltagslebens.
Was anderswo eine Beziehungskiste mit Schreiduellen und Heulkrämpfen wäre, wächst sich unter des Zauberlehrlings Hand aus zu einem Nachtmahr, in dem Besessene und Verlassene durch die damals noch mauergeteilte Stadt Berlin irren. Flehend und fluchend. Die Frau (Isabelle Adjani) empfängt in einem U-Bahn- Gang unter Schmerzen, trägt fortan den Teufel im Leib. Triebanteile spalten sich ab, die Schöne spaltet sich auf, mimt Familienglück und liebt in der Absteige das Ungeheuer. Dem Manne (Sam Neill) schwant Schlimmes, und schlimmer noch kommt es.
Eine gierige Kamera folgt den Figuren durch labyrinthische, in Blautönen gehaltene Wohnungen, hält erst unmittelbar vor den verstörten Gesichtszügen inne. Zulawskis Zeigelust materialisiert schließlich ein Monster aus der Alien-Abstellkammer, dem auch mit Feuer und Flamme nicht der Garaus gemacht werden kann.
Mit den hochreflektierten Entartungs-Szenarien eines David Cronenberg kann es derlei Phantasmagorie nicht aufnehmen. Possession gehört eher in die Gewichtsklasse eines Marco Ferreri, und sogar der hat ihm zumindest einen entschiedeneren Umgang mit Küchengeräten voraus: 1975 drehte er eine Selbstentmannung mit dem Elektromesser.
5.8.
Gletscherzunge ins Film-Europa
Österreichs Nominierungen für den Wettbewerb um den Europäischen Filmpreis 1993 stehen fest. Ins Rennen um den Film-Felix geht nach dem Willen einer fünfköpfigen Nominierungskommission Michael Hanekes zweiter Teil seiner geplanten "Trilogie der emotionalen Vergletscherung": Benny's Video. In der Kategorie Dokumentarfilm wurde Sie saß im Glashaus und warf mit Steinen nominiert, eine Hommage an die Prager Dichterin und Lebenskünstlerin Jana Cerna von Nadja Seelich und Bernd Neuburger.
6.8.
Meister des Grauens als Gäste der Viennale '93
Wenn es die Programmierung der Beginnzeiten zuläßt, wird die Viennale in Hinkunft ein Ereignis für Flaneure werden. Das Apollo-Kino, dessen Umbau für heuer ohnehin nicht rechtzeitig fertig geworden wäre, hat als Veranstaltungsort bis auf weiteres ausgedient, dafür wird (ab 15. Oktober) in vier Innenstadtkinos (Stadtkino, Metro, Künstlerhaus, Urania) sowie im Hilton-Hotel, das als Treffpunkt dient, ein "Festival of Festivals" abgehalten. Soll heißen: Kino aus aller Welt, in allen erdenklichen Spielarten, Hauptsache gut.
Frei von irgendwelchen (thematischen oder geographischen) Vorgaben konnten die beiden Direktoren Wolfgang Ainberger und Alexander Horwath aus rund 500 gesichteten Filmen ein etwa 70 Werke umfassendes Hauptprogramm kompilieren, das sich in begründeten Fällen nicht einmal dem Gebot der Aktualität unterwirft. Die beiden einzigen Spielfilme eines verschollenen Meisters wie Terrence Mallick stammen zwar aus den Siebzigern (Badlands, Days of Heaven), rechtfertigen aber jede Offensive, für sie ein neues Publikum zu finden. Ähnliches gilt für Rampage (1986), der in William Friedkins "Director's Cut" einen der Höhepunkte der Nachtreihe Twilight Zone bilden wird (neben einer restaurierten Fassung des King Kong von 1933).
Von den erhofften prominenten Gästen stehen bislang erst zwei fest: Dario Argento, Spezialist für stilisierten Horror, bekommt einen "Tribute" für seine zwölf Regiearbeiten, und James Ellroy, literarischer Chronist urbanen Grauens in Los Angeles, kommt als Star eines heimischen Dokumentarfilms von Reinhard Jud und Wolfgang Lehner. Eingeladen werden auch alle noch lebenden österreichischen Filmemigranten, deren Schaffen bereits ab 1. Oktober Gegenstand einer großen Retrospektive im Filmmuseum sein wird. Zusammen mit einem Symposion und einer Buchpublikation wird hier längst fällige Erinnerungsarbeit geleistet.
7.8.
Ökonauten im Nebel der Mythen
Zwiespältiges Vermächtnis: Yves Montands letzte Filmrolle in "IP5"
Aus grauer Städte Mauern muß aufbrechen, wer den Gral finden will. Oder Atlantis sucht. Oder wie sonst die Chiffre für jenes Andere heißen mag, das dem eigenen Leben mangelt. Statt weiter in unbedanktem Minnedienst die Betonfassaden mit Graffiti-Fresken zu behübschen, sucht ein junger Mann (Olivier Martinez) das Weite - und findet in der Ferne die Nähe zu eben dem Mädchen, das seiner amour fou in Paris nur Hohn gelacht hatte. Seinem kleinen Begleiter (Sekkou Sall) steht der Sinn nach Hochgebirge und Schnee, und auch diese Sehnsucht wird gestillt.
Die Mitte eines Triptychons seltsamer Heiliger, das in IP5 ohne Geld durch Wald und Feld zieht, besetzt ein ganz Großer: Yves Montands Reiseziel, die "Insel der Dickhäuter" (L'Isle aux Pachydermes) gibt Jean-Jacques Beineix' Film nicht nur die Titelvignette, sondern auch die Struktur einer mythischen Fahrt. Zumindest so lange man wähnt, aus den Nebeln dieser diffus dahinwabernden Geschichte werde ein Avalon auftauchen, wo das Lamm beim Löwen liegt und geplagte Seelen Ruhe finden.
Mimen-Alchemie
In die faszinierende mimische Chemie seiner drei Hauptdarsteller vermag Bei neix wenig erzählerische Ordnung zu bringen. Die education sentimentale, in der Montand als über den See wandelnder und den Vögeln lauschender Nachfahre von gleichermaßen Jesus und Franz von Assisi die beiden großstädtischen Street-Kids an den Busen der Natur zurückführt, mündet zwar in der dünnen Luft der Pyrenäen in einen befreienden Urschrei.
Aber darüber hinaus will Beineix offensichtlich mit seiner Hauptfigur Léon Marcel (Anklänge an die religiösen Dichter und Denker Léon Bloy und Gabriel Marcel könnten durchaus beabsichtigt sein) so etwas wie einen zeitgenössisches Heiligen zeichnen, für den er gleich selbst den Advocatus Diaboli macht, indem er dessen Fahrt ein sehr irdisches Motiv gibt: die späte Rache eines einst verschmähten Liebenden.
Montand spielt diese undankbare Rolle mit beeindruckender Präsenz, läßt für Augenblicke so etwas wie Schönheit eines hinfälligen Leibes sichtbar werden, wenn er angesichts dickhäutiger Baumstrünke die eigene Kleidung ablegt und den See betritt. Daß Beineix ihn dabei ganz wie im neutestamentlichen Wunderbericht nicht sinken läßt, ist bezeichnend für eine unausgegorene Naturreligiosität, die der Größe ihres Gegenstands nur mit dem ganz großen Zitat zu begegnen vermag.
12.8.
Antithesen zu Sokrates: Der Broadway im Kino
Wissen ist Macht, jene ebenso oft wie gedankenlos vorgetragene Junktimierung zweier letztendlich im Streite liegender Dinge, sie trifft zumindest dort zu, wo "small talk" und "name dropping" regieren - auf Partys. Deshalb gleich einmal die Ezzes zu Born Yesterday: Die Verfilmung eines Broadway-Hits aus dem Jahre 1946 setzt ganz auf ein famoses Schauspiel-Trio (John Goodman, Melanie Griffiths und Don Johnson) und exklusives Ambiente, mit Pointen wird ein wenig geknausert, dafür die Balance zwischen Witz und Sentiment, Politik und Gefühl gut gehalten.
Wer ins Detail gehen möchte, könnte mit folgender Frage die Diskussion beleben: Ist Don Johnson überhaupt ein Schauspieler oder nicht vielmehr ein grinsendes Nichts, aus dem auch eine Brille keinen Intellektuellen macht? Entrüsteten Blicken könnte man mit dem Hinweis auf Jenseits der Unschuld begegnen, wo er erst neulich einen abgründigen "Serial Killer" mit eben jenem (begrenzten) mimischen Repertoire bestritten hat, das er nun an einen Star-Journalisten und Georgetown- Dozenten verwendet. Man könnte einwenden, daß auch John Goodman und Melanie Griffiths nicht gerade mit forciertem method acting zu gefallen suchen, sondern mit routiniertem Spiel und Spaß an der Sache. Routine wäre dann gleich das Stichwort zu Regisseur Luis Mandoki, der schon mit Frühstück bei ihr (1990) ein schönes Stück Schauspielerkino abgeliefert hat und sich auch diesmal unangebrachter Extravaganzen weitgehend enthält.
Form als Problem?
Spätestens hier wird ein Anwalt politischer Korrektheit mit dem Hinweis, die Form sei gar nicht das Problem, an der Geschichte herumzumäkeln beginnen: Die Erziehung einer unbedarften Magnaten-Mätresse zur heiratsfähigen Verfassungspatriotin durch ihren späteren Gemahl reproduziere ja wohl älteste misogyne Mythen. Und überhaupt sei das hier vertretene Bildungsideal "Best of Reader's Digest" eher entnommen denn der Tradition der Aufklärung. Zu der sich Hollywood wohl seit jeher antithetisch verhalte, mag der Zyniker anmerken, und Born Yesterday sei eben typisch: solide gefertigt, nicht uncharmant, alles andere als radikal.
Manche halten das für ein vernichtendes Urteil.
12.8.
Kontemplative Stasis
"Tokyo Monogatari - Die Reise nach Tokio" Paul Schrader hat ihn in seiner Untersuchung zu einem "transzendenten" Filmstil in eine Reihe mit Bresson und Dreyer gestellt: Yasujiro Ozu ist einer der ganz großen Meister der filmischen Form, und Die Reise nach Tokyo gilt als sein bestes Werk. In die Geschichte eines alten Ehepaars zeichnet Ozu Auflösungserscheinungen des traditionellen Japan ein. Und verweist so auf jene zen- buddhistischen Ordnungen, die zu verschwinden drohen. Schrader findet in der Gartenkunst des Zen ein Vorbild für Ozus Bemühungen, durch Filme einen Zustand kontemplativer "Stasis" zu erreichen. Votiv, 1090 Wien, Währingerstraße 12, (0222) 34 35 71. 19. 8., 19.45
16.8.
Strandgut träger Wellen Im Kino: "Spuren von Rot"
Viel ist nicht mehr zu spüren von den Erschütterungen männlicher "basic instincts", die Sharon Stone im Vorjahr auslöste, indem sie einen kurzen Blick zwischen ihre Beine gewährte. Im Unbehagen, die Vagina könnte Zähne zeigen und der "Fick des Jahrhunderts" in Verstümmelung enden, kam das Genre "Erotik-Thriller" für einen Augenblick zu sich selbst. Die Wellen, die ein derartiger Mega-Hit gewöhnlich macht, spülen auch allerlei Strandgut an: Spuren von Rot, das Regiedebüt von Andy Wolk, verdankt sich wohl jenem schwülen Kalkül, das auch eine noch so hanebüchen konstruierte Mordserie vertretbar findet, solange Blondinen als Täter bevorzugt werden. Daß das für einen "serial killer" unerläßliche traumatische Motiv sich recht platt bei einem Thema bedient, an dem sich inzwischen auch spekulative Betroffenheits-Zeitgeister abarbeiten, nimmt ebenso wenig für diesen verzichtbaren Film ein wie die einfallslose Inszenierung. Genug.
19.8.
Gemetzel
"Braindead" (reb) Man rechnet gewöhnlich nicht damit, daß ein Film wie dieser auf ein breiteres Kinopublikum losgelassen wird: Braindead hat in einschlägigen Publikationen immerhin erstmals den "Gore Score" auf 10 schnellen lassen. Den "Gore Score"? Nun, mit dieser Skala wird das fachmännische Abtrennen von Extremitäten, das Entarten der Leiber, das Sprudeln körpereigener Säfte und derlei mehr Gesplatter unbestechlich bewertet. Regisseur Peter Jackson (Bad Taste!) versteht es, seinem Effektgewitter als Befreiungsschlag eines ödipal verstrickten Jünglings auch zu narrativem Recht zu verhelfen. Wie hieß es bei Aristoteles: zur Katharsis geht's nur über Geschauder und Gelächter. Oder so ähnlich.
19.8.
Triebe, zartsprießend
Ganz gegen die gärtnerischen Gepflogenheiten seiner britischen Landsleute pflastert ein Familienvater alles zu, was sprießen könnte. So einer wird nicht alt. Die verhärmte Frau stirbt hintendrein, und vier Kinder finden sich in allein in Haus und Garten. Die pädagogische Pflanzenmetapher verheißt effektvoll wildwuchernde Triebe. Doch in Andrew Birkins Verfilmung von Ian McEwans Roman Der Zementgarten kommen die Sehnsüchte nur allmählich zu ihrem Recht. Brüderchen und Schwesterchen (Andrew Robertson und Charlotte Gainsbourgh) werden einander Anima und Animus, und man fragt sich: Hatte meine Jugend ähnlich tristen Stil?
20.8.
Abstieg zu den Müttern
Im Kino: "Braindead"
Es war einmal ein reiner Tor, der nicht auszog, um das Fürchten zu lernen, der stattdessen bei der Mutter wohnen blieb, worauf ihn das Grauen eben heimsuchte. Doch nicht in Gestalt monströser Nabelschnur-Nachtmahre, wie es psychodramatisch naheliegen würde, sondern mit jener puren Äußerlichkeit, die vor allem einem Genre eignet: Splatter-Horror.
Braindead, der dritte Film des Neuseeländers Peter Jackson (Bad Taste, Meet the Feebles), erzählt eine Geschichte, die auch als Phantasma einer unerlösten Sohnes-Seele funktionieren würde. Aber Jackson geht es nicht darum, gehirntote Zombies als bloße Kopfgeburten ironisch zu dekonstruieren, vielmehr treibt er effektvollst inszenierte Schauer in Bereiche voran, die deren innewohnende Komik bis zur Kenntlichkeit entstellen. Das Gelächter war schon immer der Nachbar der Furcht, und der Witz und das Unheimliche beziehen ihren Reiz seit jeher (siehe Bergson) aus der Nähe zu uneingestandenen Lüsternheiten.
Was in einschlägigen Zirkeln mit dem "Gore Score" gemessen wird, die Adrenalin-Ergiebigkeit abgetrennter Gliedmaßen, mißratender Leiber und sprudelnder Körpersäfte, all das verdient in Braindead vollauf die bislang unerreichten zehn Punkte (und Richard Taylor, verantwortlich für die special- effects, gebührt hier zumindest Erwähnung). Wenn das bewußt betulich ausgestattete und mit einem wunderbar einfältigen Soundtrack untermalte 50er-Jahre- Setting schließlich zum Schauplatz eines Showdowns mutiert, in dem sich der tumbe Lionel (Timothy Balme) mit einem Rasenmäher-Rotor der Geister entledigt, die er zuvor nur ruhigstellen konnte, beschleicht einen ein mulmiges Gefühl - weniger wegen vordergründiger Scheußlichkeiten. Derlei Gesplatter ist nur mehr durch pure Quantität zu übertreffen, und das Kollegen-Beispiel Sam Raimi zeigt, daß man auch mit einer ganzen Armee der Finsternis nicht ohne weiteres die Evil Dead vergangener Tage heraufbeschwören kann. Peter Jacksons Latte liegt jetzt sehr hoch.
15.8.
Mutter Erde für Marsianer
Eine 70-mm-Flaschenpost als kinematographischer Postertapeten-Ersatz: "Baraka"
Sollte sich die Menschheit in näherer Zukunft wieder einmal dazu entschließen, eine astronomische Flaschenpost ins All zu schicken, um eventuellen Mitbewohnern im Kosmos einen Eindruck zu geben von diesem Planeten und der Spezies, die ihn beherrscht - jetzt gibt es die passende Zelluloid-Beigabe. In einem Mars-Theater würde Baraka wohl starke Wirkung auf die Bewohner des kargen roten Planeten erzielen, vorausgesetzt, es ist technisch für das 70-mm-Breitwandformat ausgerüstet, damit der schieren Wucht der Bilder kein Abbruch geschieht.
Ron Frickes Quasi-Sequel zu Godfrey Reggios Koyaanisquatsi (an dem er schon maßgeblich als Kameramann und Co-Autor beteiligt war), eine Reise zu 69 ausgewählt beeindruckenden Erdenplätzen, gehorcht dem ästhetischen Vorbild der Postertapete: Fast jede Einstellung würde sich auf einer Wohnzimmerwand der 70er Jahre prächtig ausnehmen. Was als eskapistisches Sehnsuchtsmotiv nicht taugt, funktioniert immer noch als Menetekel.
Denn das Panoptikum an Naturwundern ist nicht ungetrübt. "Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst?", hatte einst ein Psalmist seinen Gott gefragt, und weil eine befriedigende Antwort bisher ausgeblieben ist, kann sich Fricke selbst zu geradezu göttlicher Perspektive vermessen. Huldvoll ruht sein Blick auf den mystischen Anstrengungen jeder religiösen Facon; gnadenlos setzt er das profane Treiben in den gottlosen Metropolen dem entlarvenden Kamera-Auge aus. Wo der bloße Augenschein nicht hinreicht, wird bis zur Überdeutlichkeit beschleunigt oder zerdehnt, bis die Ehrfurcht angesichts des gestirnten Himmels in Abscheu über die Mißachtung des moralischen Gesetzes in der Menschenbrust umschlägt. Und retour.
Einer Perspektive, die das "dritte Auge der Götter" simuliert, wird letztlich alles einerlei: Auschwitz und Ayers Rock, Kaaba und Klagemauer werden unterschiedlos ins Treffen geführt, wo es das Menschenherz zu rühren gilt, und auf der Tonspur verdoppelt sich das Gefühlsgemenge: Sphärenklänge und Ethno-Rhythmen legen der Bilder opulenz den Soundteppich aus. Ermattet sieht man zu, wie alle Differenzen in einem vagen Ideal von Ganzheitlichkeit aufgehoben werden.
28.8.
Amor, flüchtig
"Nach der Liebe" Den allenthalben wuchernden Postismen fügt die französische Regisseurin Diane Kuryis nun einen wirklich erschütternden hinzu. Ein Leben nach der Moderne, nach der Geschichte ist zu ertragen, solange in Herzensangelegenheiten Hoffnung besteht. Über den Dächern von Paris hat Amor seinen Dienst quittiert, wodurch sich eine Autorin (Isabelle Huppert) hilflos in einen Rockstar verschaut, den wiederum seine Frau betrügt, während der Teilzeitlebensgefährte der Schriftstellerin sich von einer Architekturstudentin verführen läßt. Quelle Schlamasselle!
30.8.
Kinderzimmer Cop
Gilt es, in irgendwie ramponierten Upper-Class-Familien unangenehme Wahrheiten gelassen auszusprechen, obliegt dies gern der schwarzen Küchenperle. So auch in Mr. Babysitter (Regie: Michael Gottlieb), wo der neue Bodyguard für die zweiköpfige Rasselbande mit den Worten empfangen wird: "Sie sind ja bloß ein Wrestler!" Was im Film aber falsch ist, denn Hulk Hogan legt sich schauspielerisch ziemlich ins Zeug und bringt es zumindest zu facettenreichem Mienen-bei gewohntem Muskelspiel. Der auf Leinwandformat gebrachte Kabelfernsehstar soll wohl jene Generation ins Kino locken, die sämtliche TV-Serien schon in dreifacher Wiederholung gesehen hat und inzwischen filmreif ist.
Kleinkunst, hilfreich
"Benny und Joon" Wo geschwisterliche Liebe ins Helfersyndrom umkippt, braucht es therapeutische Hilfe von außen. Der junge Mann (Aidan Quinn) kümmert sich etwas zu aufopfernd um seine kranke Schwester (Mary Stuart Masterson), bis ein anderer junger Mann ins Haus und in die autistisch gehemmte Psyche schneit.
Johnny Depp als Akrobat Schönling zieht dabei alle Register seiner Kleinkunst (die Sekundärliteratur zu Buster Keaton hält er dazu wie ein Programm in die Kamera). Und Regisseur Jeremiah Chechik tritt in seinem auf kleinem Raum ablaufenden Apercu zu Barry Levinsons breit angelegtem Rain Man in einige Stimmungs-Fettnäpfchen (adäquater musikalischer Hintergrund: Joe Cocker!).
3.9.
Ein Shakespeare-Jux mit Gesäßparade
Kenneth Branaghs "Viel Lärm um Nichts"
Geschlagen ist die Schlacht, die Recken reiten zur Labung. Aufgescheucht wie die Daheimgebliebenen, hält es auch die Kamera nicht mehr, sie fegt durch das zu bereitende Haus, nimmt den Siegreichen im Bade eine Gesäßparade ab und entbietet ihren Gruß von der Warte des pfeilbewehrten Cupido aus. Ein Vorspann von so forcierter filmischer Eloquenz, als wollte Kenneth Branagh die letzten Augenblicke nützen, bevor den übermächtigen Sätzen Shakespeares in Viel Lärm um nichts nicht mehr beizukommen ist mit dem Vokabular der siebenten Kunst. Sobald sie alle am Reden sind in dieser Komödie der zwischengeschlechtlichen Irrungen, streckt der etwas vorschnell hochgelobte Branagh die Regie-Waffen und vergibt damit die Chance, Shakespeare als "Screwball"-Komödianten zu entdecken.
Was der Regisseur versäumt, macht der Hauptdarsteller kaum wett: Mehr noch als in seinem Schlachtengemälde Henry V (1989) gefällt sich Branagh in Großaufnahmen (mit denen er hier auch den Rest des Ensembles großzügig bedenkt), und sein deklamatorischer Ingrimm spricht sowohl den scharfzüngigen Dialogzeilen als auch dem sonnigen genius loci Hohn. Daß er trotzdem die widerspenstige Beatrice (Emma Thompson) wenn nicht zähmen, so doch heimführen kann, dankt er ohnehin der Ranküne seiner Freunde, zu deren Darstellung er einige US-Prominenz nach Italien geladen hat: Denzel Washington, Keanu Reeves und Michael Keaton bilden zusammen mit Branaghs bewährten Leuten eine Toskana-Fraktion, deren Klassiker- Adaption allenfalls als sommerlicher Jux durchgehen mag.
4.9.
Kreuzungen, ungeregelt
Zwei Brüder, des Lesens unkundig, durchmessen das wiedervereinigte Deutschland in östlicher Richtung, um eine Erbschaft anzutreten. Wie für die Bundesregierung, erweist sich diese als Danaergeschenk, doch was Helmut Kohl unmöglich ist, steht Kipp (brillant: Joachim Krol) und Most (nicht minder: Horst Krause) offen: Wir können auch anders. Nämlich: die unvermutete Malaise einfach hinter sich lassen, indem sie willkürliche Abzweigungen und Passagiere an Bord nehmen. Ein Road-Movie mit Western-Einsprengseln, oder: Detlev Bucks Antwort auf Thelma und Louise.
15.9.
Amor über Ätherwellen
Wahre Liebe überwindet alle Hindernisse, auch die eines zu Beginn etwas bemühten Drehbuches. Aber nachdem die Kunst des "Wie kriegen sie sich?" im feinen Austarieren förderlicher (gewöhnlich Zufälle und Freunde) und hinderlicher Faktoren (gewöhnlich Zufälle, Freunde und die beiden Hauptbetroffenen) liegt, gilt für Nora Ephron (Regie und Drehbuch): Ist die Situation erst etabliert, rührt man gänzlich ungeniert. Und gar nicht ohne Witz. Tom Hanks bläst nächtens Trübsal, Schlaflos in Seattle nach dem Tod seiner Frau. Der Sohn vertraut sich der Radio-Tante an, ganz Amerika weiß Bescheid, Meg Ryan reagiert, und sie finden sich - am Dach des Empire State Building, weil es die populäre Mythologie so will. Deren Fortschreibung wird hier betrieben, die größe Liebesgeschichte aller Zeiten will schließlich täglich neu erzählt werden.
16.9.
Afrocentricity
"Africa is the mother of civilization on planet earth": Wissenschaft, Kosmetik, Weisheit und "understanding" nebst anderen zivilisatorischen Errungenschaften verdankt dieser Planet "Mutter Afrika". Grund genug für Rapper wie die "Jungle Brothers", rhyme-gewaltig einer "Afrocentricity" die Wortkaskaden zu reden. Das Kino allerdings wurde bekanntlich nicht in Afrika erfunden, und bis heute ist dieser Kontinent trotz inzwischen beachtlicher eigener Produktionen Kino-Kolonie. Doppelt marginalisiert wird dabei eine Frauenfilmkultur, auf die jetzt eine von der FrauenFilmInitiative gestaltete Schau im Votiv-Kino aufmerksam machen will: afro-dite. Weibliche Identität im afrikanischen Film und im Black Cinema zeigt ein Jahr nach dem sehr erfolgreichen Mörderinnen-Festival 26 Filme schwarzer Frauen.
Vielfälig an Themen, Entstehungskontexten und filmischen Verfahrensweisen präsentiert sich ein Programm mit zahlreichen österreichischen Erstaufführungen und Raritäten. Etwa am Eröffnungsabend: Illusions (1983) von Julie Dash, ein Independent-Klassiker, der den Rassismus des Hollywood-Studiosystems freilegt, und anschließend: Wild Women Don't Have the Blues, rare Bild- und Tondokumente aus der Frühzeit des Blues von Ma Rainey, Bessie Smith, Ethel Waters.
Kleine Fluchten
"Sabine" Das Leben ist ein kurzer, ruhiger Fluß. Gesten werden ebenso lakonisch vollzogen, wie sie später zurückgenommen werden, bis zu einem Zustand, in dem die Dinge irreversibel zu werden beginnen. Agnes nimmt im Philippe Faucons Film Abschied von ihrem Vater, am Ende nimmt sie Jahre später Abschied von ihrem Sohn: Mit dem Aids-Virus im Leib findet sie die Freiheit wieder, die sie zu Beginn beansprucht hatte. Faucon erzählt diese Frauensache so zurückhaltend wie kaum ein Film der letzten Jahre, widersteht der Versuchung, für Aids Metaphern zu finden, und hält mit seinem Menschenleben inne in einem Moment großer Schönheit.
17.9.
Kafka-Kino als Weltmetapher - made in Austria
Der österreichischen erzählenden Literatur sagt man gerne nach, daß sie recht ort- und zeitlos ihren Schilderungen von Befindlichkeiten nachgehe, es lieber mit Kafka halte als mit Kisch. Wer mitansehen muß, wie sich die Umwälzungen in der östlichen Nachbarschaft in der heimischen Filmproduktion niederschlagen, ist geneigt, in dasselbe Horn zu stoßen: Nach Jürgen Kaiziks Wirtschafts-Thriller Die Zeit danach, der zu Recht gar nicht ins Kino gekommen ist, erzählt nun auch Michael Schottenberg eine Geschichte von Averills Ankommen, für die Politik gerade noch als Hintergrundrauschen taugt auf dem Videoschirm, der sonst als erotisches Stimulans und Surrogat zwischen Averill (Andras Jones) und "der Frau" (Maria Bill) dient.
Dafür darf eine Schar nach physiognomischen Kuriositäts-Kriterien ausgesuchter Nebendarsteller dem jungen Mann Bedeutsames zuraunen, während er durch die Stadt irrt. Umgeben von einer Architektur, die verschachtelte Innenwelten und existentialistische Weltmetaphern gleichermaßen spiegelt. Der Kamera Michi Riebls könnte es zuzuschreiben sein, daß Averills Ankommen im Ausland durchaus positives Echo gefunden hat. Die Schlußpointe, so absehbar wie konstruiert, reklamiert schließlich die Kraft der großen mythischen Erzählung für sich. Gesehen hat man nur kleine Aufgeregtheiten
21.9.
Vom Elend der Film-Skribenten
Symposium "Sprache im Film": Dialoge auf und vor der Leinwand
Bezeichnender als die vielen Worte, die am Wochenende im Palais Palffy zur Situation des österreichischen Drehbuchautors in der europäischen Filmlandschaft gespendet wurden, war die Tatsache, daß auf dem dicht besetzten Podium niemand vertreten war, auf den dieser Berufstitel uneingeschränkt zutrifft.
Verworren bis wehleidig klangen dafür die improvisierten Expertisen, bis Bo Christensen, Generaldirektor des European Script Fund, die Dimensionen zurechtrückte, indem er den Mangel an guten Drehbüchern als europäi sches Problem auswies. Guter Rat ist also auch in Ecu teuer.
Wie denn das Buch zum guten (und erfolgreichen) Film auszusehen habe, war im übrigen nur eines der Themen beim Symposium Sprache im Film. In einer vom Drehbuchforum ausgerichteten Tour de force durch Filmtheorie und praxisnahes Geplauder, Genre-Untersuchungen und technische Details blieb der verbindende Gedanke fast auf der Strecke.
Dafür gab es eine Arbeit zu sehen, die als Lösungsexempel für das ohnehin kaum hinreichend definierbare Problem von bedingtem Wert ist: Man to Man, John Mayburys faszinierende Filmversion von Manfred Karges Theatermonolog Jacke wie Hose, überzeugte zwar durch große Schauspielkunst (Tilda Swinton) und Genauigkeit im Einsatz optischer Effekte, ist aber (zumal für das Fernsehen produziert) kaum jene Art Film, mit der man die europäischen Kinosäle wird füllen können.
Das aber war erklärte Absicht aller Beteiligten, die sich ebenso wortreich über eine Produktionskultur beklagten, die von öffentlichen Geldern bestimmt ist, wie sie über deren Vergabe räsonnierten. Auch Christensen, dessen Institution jährlich 2000 europäische Drehbücher beurteilt, wußte außer detaillierten Anmerkungen zu Filmdialogen kein Patentrezept zu nennen, welche Sujets erfolgversprechend seien. Aber er wurde darüber immerhin nicht larmoyant.
23.9.
Armenischer Granatapfel
"Die Farbe des Granatapfels" Einen der Höhepunkte bei der Retrospektive Filmland Armenien (23.-29. September) bildet ein Film, der wie wenig andere die Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Filmverstehens begreifbar macht. Die Farbe des Granatapfels von Sergej Paradschanow erzählt die Lebensgeschichte eines Volkssängers aus dem 18. Jahrhundert, Sajat Nova, in jener Bildersprache, die dem Vernehmen nach seine Gedichte auszeichnete. Dem westeuropäischen Publikum bleibt die biographische Linie im Film weitgehend verborgen, eher vermutet man eine archetypische Vita hinter den traumverlorenen Bilderfolgen. Jenseits der konkreten Bedeutung erschließt sich aber ein Film von so verblüffender kontemplativer Schönheit, daß Verständnisfragen in den Hintergrund treten zugunsten einer voraussetzungsfreien Wahrnehmung der Ikonographie eines Volkes, das Natur und Übernatur viel verwobener wahrnimmt als die westlichere Tradition. Uraufführung der verschollen geglaubten Originalfassung.
24.9.
Casablanca, Marke Babelsberg
Im Kino der melodramatischen Spione: ". . . und der Himmel steht still"
Daß mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges nicht sofort der Beginn einer wunderbaren Völkerfreundschaft markiert wird, war nicht nur für Kulturpessimisten keine Überraschung. Zu tief hatte sich die Teilung der Welt auch in vermeintlich blockfreie Seelen eingeschrieben mit all ihren populär-mythologischen Beigaben wie Spionage-Serien und Trennungs-Melodramen. Wenn John Schlesinger seinen neuen Film . . . und der Himmel steht still mit Kamerafahrten durch das aufgeregte Berlin der ersten Umarmungen zwischen Ossis und Wessis rahmt, im übrigen aber eine 40 Jahre früher handelnde Agenten- und Liebesgeschichte zwischen den Kriegsmächten erzählt, macht er einiges vom Beharrungsvermögen der Mentalitäten deutlich und vom Unwillen, lieb gewordene Sujets und Haltungen aufzugeben.
Schon in der Besetzung der weiblichen Hauptrolle, einer zwielichtigen deutschen Schönheit, mit Isabella Rossellini zeigt Schlesinger deutlich, daß ihn an Ian McEwans Romanvorlage weniger die psychologische Fallstudie oder die historische Episode interessiert, sondern das melodramatische Potential. Je länger der Film dauert und zwischen der Geheimdiensthandlung (Campbell Scott untergräbt im Auftrag von Anthony Hopkins die russische Kommunikation) und einer Dreiecksbeziehung mit fortzuschaffender Leiche (Scott hat unabsichtlich den Ex-Mann seiner Geliebten getötet und schleppt ihn nun in zwei Koffern durch Berlin) ins Schlingern gerät, desto mehr verläßt sich Schlesinger auf Genre-Elemente des klassischen Studio-Kinos.
Die Rosselini wird dabei selbst zum Zitat, indem die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Ingrid Bergman von Dietrich Lohmanns Kamera nachgerade gesucht und unfehlbar gefunden wird. Da überrascht es dann kaum mehr, wenn das brüske Ende einer großen Leidenschaft auf dem ewigen Rollfeld der großen Kino-Abschiede vonstatten geht.
Die Babelsberger Filmstudios feiern eine aufwendige Rückkehr in den Kino-Weltmarkt: Vereinte internationale Produzentenkräfte, Schauspieladel aus einiger Herren Länder und die renommierten Herren McEwan und Schlesinger waren aber vielleicht des gut Gemeinten zuviel.
27.9.
Brust oder Keule
Im sich abzeichnenden Europa der Regionen beginnen, so das EG-freundliche Kalkül auch im Kino, die Differenzen, die alles vielfältig aussehen lassen, erst so richtig zu leuchten vor dem Hintergrund eines vereinheitlichten Unterbaus. Die nationale Küche wird dann jene Identität stiften, die man als Werktätiger in einer Unterhosenfabrik entbehrt. Und der Zusammenhang zwischen den Sensationen der Geschmacksnerven und der Erregbarkeit der Lenden wird das meistbeanspruchte Charakteristikum der Völker sein. Nein? Schauen Sie sich Jamon Jamon von Bigas Luna an und erleben Sie spanische Sinnlichkeit beim Blick über die Pyrenäen.
29.9.
Nackte Emanzipation als Austro-Filmkomödie
"Und irgendwann bleib i dann dort", brachten einst drei steirische Sänger den ewig unausgeführten Vorsatz auf den Punkt, angesichts träger Wellen in griechischen Buchten ein für allemal auf den Rückflug zu pfeifen.
Henriette (Elfi Eschke), um die sich alles dreht in Reinhard Schwabenitzkys neuer Filmkomödie Verlassen Sie bitte Ihren Mann, hat diese Chance zweimal. Am Ende wünscht man ihr von Herzen, sie möge diesmal klüger sein als zu Beginn. Da hat sie nämlich nichts besseres zu tun, als einem zufällig dahergekommenen Mann, der noch dazu als Rächer der gerade ihrer Kleider Beraubten jämmerliche Figur macht, zurück in die Heimat zu folgen.
Als sie des Schadens gewahr wird, den sie sich mit dem neuen (Politiker-)Gatten eingeheimst hat, gießt sie Spott aus über ihn und seine (Partei-)Freunde und verläßt ihn. Es folgen komödiantische Standardsituationen: der große Auftritt mit Dingsymbol-Requisite (thematisch erledigt wird: Hühnerqual, Parteienfinanzierung); die zum falschen Zeitpunkt erhobene Stimme im Restaurant (blamiert: sexistische Arroganz); das richtige Timing beim Griff in die Tasten (der Lächerlichkeit preisgegeben: eine Karikatur moderner Kunst).
Am Ende ist Henriette schon so frei, den Hagestolz nicht heimzuführen, in dessen Klause sie sich mit einer Mischung aus Clochard-Charme (in Salzburg!) und hautnaher Zudringlichkeit untergemietet hat. Helmut Griem hat diesen undankbaren Part eines Künstlers, dessen Misanthropie am Abbild der unbekleideten Frau genesen soll, die offensiv (und selbstverständlich berechtigterweise) ein Schönheitsideal diesseits von Claudia Schiffer vertritt.
Wo Schwabenitzky zeitgenössische Kunstanstrengungen zur Fratze entstellt, auf die er dann seinen satirischen Unflat ausgießen kann, wird eine sehr persönliche Version von Mainstream-Kino deutlich, die verständlich macht, warum sein Film als Politsatire so zahm ausgefallen ist. Ihm schwebt als Publikum wohl jene meistens schweigende Mehrheit vor, deren hausverständiger Geschmack Kunst unfehlbar erkennt - und meidet. Deren Polit-Idole bleiben unangetastet, dafür bekommt sie jene Unterhaltung, die sie vermeintlich erwartet. Aber so nicht verdient.
30.9.
Aids ohne Metaphern
"Sabine" Das Leben - ein kurzer, ruhiger Fluß. Gesten werden lakonisch vollzogen und zurückgenommen, bis zu einem Zustand, in dem die Dinge irreversibel zu werden beginnen. Mit dem Aids-Virus im Leib findet eine Frau die Freiheit wieder, die sie zu Beginn beanspruchte. Und Philippe Faucons Film erzählt so zurückhaltend wie kaum einer der letzten Jahre. Er widersteht der Versuchung, für Aids Metaphern zu finden, und hält mit seinem Menschenleben inne in einem Moment großer Schönheit.
7.10.
Vorbereitende Episoden
Die frühen 60er haben im Vergleich zur zweiten Hälfte dieser aufregenden Dekade wenig historisches Profil, und wenn man heute die vier Beiträge prominenter italienischer Regisseure zu dem Episodenfilm RoGoPaG (1962) sieht, sind sie eher als vorbereitende Übungen zu größeren Projekten oder überhaupt nur als kurzweilige Sidesteps plausibel. Jean-Luc Godards Apercu zu Ängsten vor der atomaren Apokalypse hat neben Pasolinis grandioser Farce La Ricotta noch am ehesten dem Zahn der Historizität standgehalten, während bei Ugo Gregorettis allzu deutlicher Konsumismus-Satire und Roberto Rossellinis verspielter Verhöhnung der Psychoanalyse der Blick abschweift auf Details der Ausstattung
12.10.
Jenseits von Gesetz und Strafe
Sidney Pollacks Bestsellerverfilmung "Die Firma" mit Tom Cruise
Die Roman-Thriller von John Grisham und auch Michael Crichton, deren Verfilmung jeweils so absehbar ist wie das Taschenbuch nach der Hardcover-Ausgabe, haben bei vergleichsweise geringem literarischem Mehrwert der Zelluloidfassung zumeist eines voraus: In Buchform wird der (identifikations- und wißbegierigen) Imagination des Publikums ungleich mehr Milieu- und Faktenmaterial dargeboten, als ein noch so kompakt gestrafftes Drehbuch zu enthalten vermag. Bei einigen Epen von Arthur Hailey wurde gleich die Form der TV-Serie für geeigneter befunden. Wo aber eine Geschichte die Zuspitzung auf zwei Stunden Spannung verlangt, mahnen mißgelaunte Leser das Verlorengegangene ein (etwa die angebliche wissenschaftliche Detailplausibilität von Crichtons Jurassic Park-Buch).
John Grishams Bestseller Die Firma, als Lesefutter mehr als ein Brosamen vom großen Büchertisch, stellt seinen Helden vor ein moralisches Dilemma, das ihn zwischen dem Ethos des juristischen Berufsstandes (der hier der Mafia zuarbeitet) und der vom FBI eingeforderten Loyalität sich abarbeiten läßt - bis zu einem fast anarchischen Aussteiger-Schluß. Schon Sidney Pollacks Entscheidung, die Hauptfigur mit Tom Cruise zu besetzen, läßt diesen Ausgang kaum zu, ist man doch unter karibischen Palmen am falschen Ort, Gott und Country stolz zu dienen.
Schuld und Sühne
Und dafür steht Cruise ein, wenngleich er zu Beginn unter tropischem Sternenhimmel (den Widrigkeiten einer holprigen Inszenierung zum Trotz) den Reizen einer ortsansässigen Schönheit erliegt. Von seiner Frau verlassen, steht er nun endgültig allein gegen die Mafia. Sein in der zweiten Hälfte doch an Spannung zunehmender Balanceakt und Parforceritt ist vor allem der Läuterungsprozeß eines in Sünde gefallenen Ehemannes. Was aus einem werden kann, der es sich jenseits von Law and Order eingerichtet hat, führt Pollack recht drastisch mit Gene Hackman vor Augen. Dessen Leistung als angeekelter Anwalt des organisierten Verbrechens macht vieles gut, was der Film durch die stereotype Gestik von Tom Cruise verliert.
Und Ed Harris als dramaturgisch etwas vernachlässigter FBI-Agent tut ein übriges, jene Atmosphäre moralischer Ambivalenz heraufzubeschwören, vor der sich die Lichtgestalt umso deutlicher ausnehmen läßt, die allein durch das Festhalten an einem Standeseid den vielfältigsten Anfechtungen zu trotzen vermag. Am Donnerstag als geschlossene Viennale-Gala-Preview, ab Freitag bundesweit im Kino.
14.10.
Fragen ist Hebammenkunst
Der Musil-Forscher als amoralischer Talk-Master: Roger Willemsen, intellektueller Star auf deutschen Kabelkanälen und jetzt über VOX auch hierzulande zu empfangen, über beredtes Schweigen und vorbildliche Gesprächskultur
So quer wie der 36jährige Roger Willemsen steigt auch in das schnelle Medium Fernsehen selten jemand ein. Ein Literaturwissenschaftler und Musil-Experte, London-Korrespondent für namhafte Printmedien, ein klassischer homme de lettres also, ließ sich 1991 zu einem Casting überreden und moderiert inzwischen - nach der erfolgreichen, oft provokanten täglichen Talk-Show 0137 auf "Premiere" - wöchentlich eine eigene, einstündige Sendung. Willemsen - ein Abschied von Boulevard-Themen und schrillen Gästen?
Roger Willemsen: Unsere Minimalanforderung ist, Leute einzuladen, die auf ihrem Gebiet einzigartig sind, und natürlich möglichst solche, die man nicht viel im Fernsehen gesehen hat und von denen man mit dieser Ausführlichkeit mehr wissen will. Wenn wir demnächst den Neger-Kalle, einen Kiez-König, einladen, entspringt das aber weniger einer provokanten Absicht, sondern eher meinem fast anthropologischen Interesse für Kriminalität, einem Interesse aus einer amoralischen Position heraus.
Standard: Sie haben ein Buch über Robert Musil geschrieben. Ähnelt ihr Interesse dem seinen an der Romanfigur Moosbrugger im Mann ohne Eigenschaften?
Willemsen: Genau, er ist für mich sehr präsent. Dieser Komplex der Amoral interessiert mich am meisten: graduelle Übergänge vom Legitimen zum Illegitimen.
Standard: Früher hatten Sie für einen Gast 12 Minuten Zeit, jetzt eine Stunde. Was behagt Ihnen mehr?
Willemsen: Bei den 12 Minuten ist man als Interviewer fast überpräsent. Bei einer Stunde hingegen kann man sich auf Gesprächsvaleurs einlassen, die das Fernsehen normalerweise verdrängt: Verlegenheit, Langeweile, Ratlosigkeit, Enttäuschung.
Standard: Erfreut das nicht vor allem die Voyeure?
Willemsen: Durchaus. Aber vor allem wird dieses digitale Sprechen aufgebrochen, bei dem es nur Schlag-Gegenschlag, Argument-Gegenargument, Pointe-Gegenpointe gibt. Da werden Phasen der Indifferenz genauso wichtig, etwa kürzlich bei Marianne Hoppe, wo die Pausen fast interessanter waren, als das, was sie gesagt hat.
Standard: Daß man Sie einmal mit Sokrates verglichen hat, könnte also zumindest im Gestus ihres Fragens eine Berechtigung haben?
Willemsen: Na ja, der Vergleich kommt mir ganz überspannt vor - nicht nur, weil da ein Sphärenunterschied in der gedanklichen Intensität da ist, sondern weil ich auch nicht verleugnen kann, daß ich im Fernsehen ans Populäre denke. Aber es gibt das Stichwort von der Maieutik, von der Hebammenkunst des Fragens, und an die denke ich häufig. Also sokratisches Fragen in der Art, daß ich den Menschen zu ihren eigenen Erlebnissen verhelfe. Das kann im Idealfall so sein.
Standard: Das ist eine durchaus positive Bilanz nach über 1000 Gesprächen.
Willemsen: Manchmal denke ich, vielleicht bleibt von manchen Gesprächen doch so viel, daß die Zuseher den Eindruck haben, einer idealen Konversation beigewohnt zu haben und zumindest dann und wann sagen, es gibt einen Gesprächstypus, der mit einer bestimmten Intensität und Präzision geführt werden kann, der auch, ja, vorbildlich sein kann für die Kommunikation draußen.
Standard: Sie verbergen sich selbst allerdings meist hinter sehr kurzen Fragen.
Willemsen: Ich habe bei einer Reihe von deutschen Moderatoren erlebt, daß sie sich politisch und auf Fragetypen festgelegt haben. Eine idealtypische Funktion Gästen gegenüber ist aber meines Erachtens, daß sie sich in einer Form von moralischem Schwebezustand ihrem Gesprächspartner gegenüber sehen, gleichzeitig aber glauben, daß er sich vollständig assimilieren wird. Aus dieser Position kann man sowohl Positionen der Feindschaft wie der Nähe, des Flirts aufbauen.
Standard: Sie werden auch gelegentlich in Shows von Kollegen eingeladen.
Willemsen: Ich überlege mir inzwischen sehr genau, wohin ich im Fernsehen gehe. Ich würde nie mehr in einer Gottschalk-Sendung auftreten. Das habe ich beim ersten Angebot abgelehnt, weil die anderen Gäste mir lächerlich erschienen. Erst beim zweiten Mal habe ich zugesagt. Das ist eine obszöne Situation für mich gewesen, in der ich mich völlig entfremdet, ja läppisch gefunden habe.
Standard: Wie denken Sie sich Ihr Publikum?
Willemsen: Der ideale Zuseher, den ich mir wünsche, ist wirklich in erster Linie einmal amoralisch. Die Destruktion vorhandener moralischer Denkmuster ist mir sehr viel näher und die Voraussetzung, überhaupt konstruktiv denken zu können.
Standard: Wie reagiert Ihre frühere Leserschaft auf Ihre neue Karriere?
Willemsen: Es gibt gar nicht so viele Überschneidungen zwischen dem literarischen und dem Fernsehpublikum. Die meisten der leidenschaftlichen Leser haben doch ein wenig den Degout vor dem Fernsehen, den ich früher auch einmal hatte. Wobei ich denke, daß ich gerade durch die Minderheitsform, in der ich arbeite, immer noch jeden Schritt vor meinen Büchern legitimieren kann.
Standard: Wie geht es Ihren literarischen Projekten, etwa dem gelegentlich kolportierten Roman?
Willemsen: Parasiten wird noch eine Weile liegen. Ich schreibe im Moment an einer Art literarischem Essay, der sich mit dem Thema Selbstmord beschäftigt.
Standard: Und keinerlei Gedanken an einen Abschied vom Fernsehen dann, wenn es am schönsten ist?
Willemsen: Solange ich nicht auf diesem Feld ein gewisses Maß an Intensität und Genauigkeit in der Umsetzung erreicht habe, werde ich wohl da noch arbeiten.
"Willemsen" am Dienstag, 19. 10., 22.05 Uhr auf VOX
18.10.
Spießrutenlauf eines Streuners
Kultautor James Ellroy ist mit einem Film von Reinhard Jud Gast bei der "Viennale"
Immer schon gab es Autoren, deren Passionen der Welt- und Texterzeugung ihre Energie aus einer durchlittenen Lebensgeschichte bezogen, die dem Werk die Aura der exemplarischen, wenngleich oft verschlüsselten Autobiographie verlieh. Und immer schon war das nur die halbe Wahrheit zum Buch.
Bei James Ellroy, dem derzeit wohl wichtigsten Autor amerikanischer Crime Fiction, legen sich derlei Zusammenhänge besonders nahe. Der Film James Ellroy. Demon Dog of American Crime Fiction, den Reinhard Jud und Wolfgang Lehner bei der Viennale präsentieren, scheint auf den ersten Blick einen Kurzschluß zwischen Leben und Literatur zu ziehen.
Ellroy, wie er den Schauplatz der Ermordung seiner Mutter aufsucht, oder wie er beiläufig auf ein Villenfenster deutet, in das er früher immer eingestiegen ist, um an Mädchenunterwäsche zu kommen: Hier werden die "Spießruten des Schweigens und des Willens" spürbar, die Ellroy wie seine Romanfigur Marty Plunkett aus Stiller Schrecken zu durchlaufen hatte.
Stadtansichten
Aber der Serial Killer ebenso wie der Romanschriftsteller verwandeln auf diese Weise den "prosaischen Schmerz, aufzuwachsen und Amerikaner zu sein", in mehr, in bizarre, abwegige Inszenierungen, geboren aus einer "vakuumerfüllten Realität". Fast scheint es, als hätte Kameramann Wolfgang Lehner diese Formulierungen aus Ellroys Büchern unbewußt in Bilder übersetzt: Das Porträt eines Mannes, der "in ungewöhnlichem Maße außerhalb der gewöhnlichen Umwelteinflüsse zu existieren vermag", kontrastiert er mit Momentaufnahmen aus Los Angeles, die mit meist großen Brennweiten eine intensive Distanz suggerieren.
Der vielgeschmähte Stadtmoloch dient keineswegs als Illustration, die vielleicht sogar etwas erklären könnte; vielmehr wird er zu einem abstrakten Hintergrund, vor dem Ellroy seine individuelle Topographie entwirft. Wenn er nicht überhaupt wie der Prophet eines nicht mehr erlösbaren Individuums, dräuend wie Bruckners Dritte Symphonie, wortgewaltig wie ein Rapper, breitbeinig hoch über dem Häusermeer steht.
Bei derartig intensiver und gescheit präsentierter Performance von Ellroy erscheint es müßig, über Rhythmusprobleme gegen Ende des Films (Schnitt: Karina Ressler) oder gar - wie das Fachblatt Variety - über die angeblich unverhohlene Fanperspektive zu nörgeln. (James Ellroy ist noch bis Samstag in Östereich, liest zur Filmpremiere im Wiener Filmcasino - am 21. 10. um 20.30 - und am 22.10. im Linzer Moviemento- Kino. Karten sichern!) Ein ausführliches Interview erscheint am Freitag im ALBUM.
22.10.
Die Euro-Produktion auf dem Weg zum Welterfolg
"Das Geisterhaus" als Film: Vom Putsch-Bericht zur Love-Story Bert Rebhandl
"Ich habe ein Buch geschrieben über den Putsch in Chile 1973. Ein politisches Buch, das Hollywood so sicher nicht verfilmt hätte." Isabel Allende findet im Gespräch mit dem Standard eine etwas überraschende Erklärung dafür, daß ihr Bucherfolg Das Geisterhaus erst nach über zehn Jahren und zudem in Europa verfilmt wurde.
So eindeutig haben das wohl wenige ihrer Leser verstanden, und auch Regisseur Bille August, der schließlich ihr Vertrauen gewinnen konnte, und sein Produzent Bernd Eichinger verstehen ihren Film vor allem als eine Liebesgeschichte zwischen Esteban Trueba (Jeremy Irons) und Clara (Meryl Streep). Trotzdem ist sie mit dem Ergebnis sehr zufrieden? "Ja, obwohl ich Wert darauf gelegt habe, daß die ganze Darstellung des Militärcoups in ein namenloses Land verlegt wurde, weil es mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr viel zu tun hat." Aber im Ton der Erzählung findet sie ihre Vorliebe für das europäische (neben dem chinesischen) Kino wieder, und mit den Schauspielern ist sie hochzufrieden.
Daß Jeremy Irons trotz seiner gewalttätigen Rolle eine gewisse Distinguiertheit nicht ablegen konnte, ficht sie nicht an: "Ich habe ihn zwei Stunden lang gehaßt, erst in der letzten Viertelstunde konnte ich Verständnis und Mitleid für ihn aufbringen."
Straffes Epos
Zwei Stunden lang trotzt Esteban Trueba den widrigen Umständen einer so zügig vorangetriebenen Geschichte, daß sich die Frage aufdrängt, ob nicht eine etwas längere Erzählzeit der angestrebten epischen Kraft zuträglich gewesen wäre. Eine Frage, die Regisseur wie Produzent verneinen, während die Autorin zumindest für die negative Hauptfigur, einen von Vincent Gallo gespielten Folterer, einklagt, er bleibe durch das straffe Handlungsgerüst doch zu eindimensional.
Als europäische Antwort auf amerikanische Publikumsfilme mag Bernd Eichinger seine 320 Millionen Schilling teure Produktion nur bedingt sehen: Zu sehr ist ihm daran gelegen, daß der Film jene "amerikanische Weise, einen Film zu erzählen" hat, die allein auf dem dortigen Markt Erfolge verheißt. Und die kann er gut gebrauchen nach einigen mäßigen Jahren. Ob er allerdings seine Anteile an der österreichischen Constantin, deren Verkauf mit der Finanzierung des Geisterhaus-Filmes in Zusammenhang gebracht worden war, wieder zurückkaufen würde, mag er noch nicht sagen.
Um den bereits an zahlreiche Verleihe vorverkauften Welterfolg auch tatsächlich zu landen, ist zumindest bei der Besetzung alles getan: Neben Irons spielen Armin Mueller-Stahl und Vanessa Redgrave; Glenn Close und Winona Ryder komplettieren die US-Starriege, Antonio Banderas und Maria Conchita Alonso klingen dem spanischsprachigen Lesepublikum angenehm im Ohr. Kluges Kalkül? "Nein, bei der Besetzung ist nur wichtig, daß alle eine große Familie ergeben", meint Bille August. Eitel Wonne allerorten?
25.10.
Bilder aus dem beschädigten Leben
Ein einziger "Butterbrotwinter" ist dem Kriegsinvaliden Andreas Pum vergönnt, und schon verkehrt sich "der siegreiche Leichtsinn", mit dem er gerade noch die Witwe Kathi für sich eingenommen hatte, in leichtsinniges Aufbegehren: Die Anwandlung, Götz Kaufmann im Tramwagen als "Fettwanst" zu bezeichnen, ruft die Exekutive auf den Plan, und ruiniert ist ein Leben, dem die Zeitläufte ohnehin recht unfreundlich mitgespielt haben.
Es ist eine der weniger bekannten Geschichten von Joseph Roth, Die Rebellion, die Michael Haneke jetzt für das Fernsehen verfilmt hat, und während Roths Prosa den vertrauten Rhythmus seiner Hauptwerke hat, hält Hanekes Film dem Vergleich mit seinen beklemmenden Kino-Studien zur "emotionalen Vergletscherung" nicht so gut stand. Zu gleichmäßig freundlich bleibt die Erzählerstimme Udo Samels, dem fast allein der Fortgang der trägen Geschichte obliegt.
Branko Samarovski hat als Hauptdarsteller eines Mannes, dessen Langsamkeit ihn geradezu stigmatisiert in der schnellebigen Ersten Republik, wenig Ausdrucksmöglichkeiten, und die Versuche des Regisseurs, dem schwer transparent zu machenden Innenleben eines schwerfälligen Charakters mit Bildern von fragmentierten Körpern und bedeutsamen Großaufnahmen eine filmische Dramatik abzugewinnen, sind respektabel, wenngleich nicht immer schlüssig.
In die ehrwürdige Tradition von Joseph-Roth-Verfilmungen, auf die man hierzulande zurückblicken kann, fügt sich Die Rebellion allzu glatt ein. Für Hanekes Reflexionen aus dem beschädigten Leben war dieser Text vielleicht ein ungenügendes Sujet. ("Die Rebellion" von Michael Haneke, 20.15 ORF 2)
27.10.
Ein Hexenjäger im Wachsfigurenkabinett
In seinem ersten Horrorfilm war er kaum zu sehen: The Invisible Man Returns war 1940 die erste Arbeit von Vincent Price in jenem Genre, mit dem später sein Name so nachdrücklich assoziiert werden sollte. Noch 1982 fragte Michael Jackson bei dem Mann mit der einprägsamen Stimme nach, ob er nicht auf dem Thriller-Album als Geist fungieren wolle. Price willigte ein: Zeitlebens hatte er jede Gelegenheit ergriffen zu arbeiten. So sah er auch 1935 kein Problem darin, seine in Yale begonnenen und in London fortgesetzten Kunststudien für das erste Theaterengagement zu unterbrechen. Der Rückkehr in die Staaten folgten bald erste Hollywood-Arbeiten: Für MGM spielte er den Kardinal Richelieu in The Three Musketeers, bei Fox sah man ihn in Laura des Wieners Otto Preminger, wo er einen steinreichen Schwächling spielte, auffahrend, jungenhaft kleinmütig, nur um der Konvention willen verliebt.
Der Erfolg mit dem 3-D- Schocker House of Wax (1953) und bald darauf die Begegnung mit Roger Corman legten ihn schließlich auf sein Rollenfach fest. Unter Corman spielte er in mehreren Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen. Price, dem immer an der ironischen Brechung seines Images gelegen war, fand aber auch Vergnügen an Persiflage- Elementen (schon in Cormans The Raven, vor allem aber in Jacques Tourneurs mit Price, Peter Lorre, Boris Karloff und Basil Rathbone hervorragend besetzter Comedy of Terrors mit dem schönen deutschen Titel Ruhe sanft Gmbh!).
In einschlägigen Fanzirkeln schätzt man ihn heute vor allem für seine Arbeit mit Regisseuren wie Mario Bava (Vampire gegen Herkules) oder dem früh verstorbenen Michael Reeves (in Der Hexenjäger gab Price 1968 einen seiner düstersten Auftritte). Daß dem Publikum bei über 110 Filmen gelegentlich einiges durcheinander kam und Leute ihm bereitwillig ihren Hals darboten (den Dracula hat er nie gespielt), akzeptierte er schließlich als Preis einer Öffentlichkeit, die er mit Büchern zu seinen Herzensanliegen (Bildende Kunst und gute Küche) selbst suchte. Am Montag starb Vincent Price im Alter von 82 Jahren in Los Angeles.
28.10.
Therapie für Dirty Harry: "In the Line of Fire"
Ein Mann wird älter. In den 70er Jahren hieß er "Dirty Harry" Callahan und definierte in archaischer Weise eigene moralische Codes auf Seiten einer korrupten Legalität. Zwanzig Jahre später präsentiert sich Clint Eastwood als FBI-Agent Frank Horrigan grübelnd, angekränkelt von Selbstzweifeln. 1963 stand er In the Line of Fire, als John F. Kennedy ermordet wurde. Sein Versäumnis wird zur fixen Idee, seine Ehe scheitert. Erst Frank Maguires Drehbuch gibt ihm eine zweite Chance. Ein Psychopath namens Leary (John Malkovich) zwingt Eastwood in eine fast rituelle, therapeutische Auseinandersetzung: FBI gegen CIA, Neurose gegen Psychose, individualistisches Ethos des Bürgers gegen solipsistisches Pathos des Outlaws.
Das zutiefst pessimistische Szenario Don Siegels aus den 70ern, in dem Jäger und Gejagter gefährlich ähnliche Persönlichkeitsprofile aufwiesen, wird im zweiten Amtsjahr Bill Clintons zur heilsamen Konstellation, in der alte Wunden aufgearbeitet werden können. Seltsam mutet es an, ein derart amerikanisches Sujet dem Hollywood-Deutschen Wolfgang Petersen anzuvertrauen, dessen Handschrift den Film vor allem im ehrfürchtigen Blick auf Insignien des US-Gemeinwesens prägt.
Als die eigentlichen Regisseure erscheinen die beiden Hauptdarsteller, die als Vertreter verschiedener Generationen und auch Schauspiel-Konzepte paradigmatisch agieren: Eastwood, die Ikone der maximalen Effizienz bei minimaler Gestik und Mimik; Malkovich, der wandlungsfreudige Method Actor mit Mut zur häßlich ausgesetzten Pose. Beide verwandeln eine an sich durchschnittliche Großproduktion in einen überraschenden Beleg psychographischer und ideologischer Selbstreflexion in der letzten Supermacht
2.11.
Schlafkrankheit zum Tode: River Phoenix
Der hartnäckige Mythos der populären Kultur, daß ihren Besten die Auszeichnung eines frühen Todes zustehe, enthüllt seinen ganzen Zynismus im Moment tatsächlicher Trauer um einen Schauspieler, der mit nur 23 Jahren bereits auf eine Reihe ausgesprochen reifer Leistungen zurückblicken konnte: River Phoenix. Sein plötzlicher Tod nur kurz, nachdem er am Sonntag vor einem Nachtclub in Hollywood zusammengebrochen war, dürfte all jene besonders berühren, die erst vor wenigen Tagen bei der Viennale Gelegenheit hatten, zwei seiner jüngsten Filme zu sehen, kleine Meisterwerke in Schauspiel und sorgfältiger Schauspiel-Regie.
In Nancy Savocas Dogfight spielte er eine Rolle, die deutlich machte, warum er niemals zu einem brat pack gehört hatte, zur naseweis auf trumpfenden Generation junger Hollywood-Schauspieler. Das zögernde aber zielstrebige Ausscheren aus den Ritualen einer Gruppe von G.I.s vor dem Abflug nach Vietnam, die über Jahre gehaltene Treue zum kostbaren Augenblick: Töne, für die großspuriges Kino kein Organ hat.
Seine Regisseure waren ohnehin andere: Peter Bogdanovich, der von ihrer gemeinsamen Arbeit bei A Thing Called Love in den höchsten Tönen schwärmte; Peter Weir, unter dessen Regie er den Sohn von Harrison Ford in Mosquito Coast spielte; für seine Darstellung eines narkoleptischen Homosexuellen in My Own Private Idaho von Gus Van Sant schließlich zeichneten ihn nicht nur die US-Filmkritiker aus, sondern auch die Festival-Jury in Venedig 1991 mit einer "Coppa Volpi".
So introvertiert seine Rollen schienen, war er doch ein Ensemble-Schauspieler, schon in seinem ersten Erfolg: Stand By Me (1986) von Rob Reiner. Aber erst mit so famosen Kollegen wie Lily Taylor, Samantha Mathis oder Keanu Reeves fand sein Talent, ambivalente Gefühle auf die Leinwand zu bringen, das inspirierende Gegenüber. Interessant wäre es gewesen, was er aus dem Zusammenspiel mit dem eindimensionalen Good Guy Tom Cruise gemacht hätte, mit dem er demnächst vor der Kamera gestanden wäre.
3.11.
Wim Wenders' Engelschor - empor ins Reich der Edelmenschen
Nicht alles, was mit einem Bibeltext beginnt, enthält eine Frohbotschaft. Wim Wenders bekennt sich zu Beginn seines nun auch hierzulande zu sehenden neuen Films In weiter Ferne, so nah zur Anthropologie des Matthäus-Evangeliums: Der Mensch ist, was er sieht. In emphatischer Antithese zu Antoine de Saint-Exupérys Stammbuch-Klassiker hält er daran fest, daß das Wesentliche für das Auge sichtbar sei. Bloß das gegenwärtige Geschlecht ist mit Blindheit geschlagen, und der Kulturpessimist und Seher findet sich unversehens auf seiten der Engel wieder: Unbedankt walten sie ihres hilfreichen Amtes, unüberbrückbar erscheint die Distanz zum schutzbefohlenen Menschenwesen.
Motive für eine Menschwerdung des Jenseitigen waren immer zwiespältig. Nur unwesentlich tarnten bei den Griechen (und heuer auch bei Godard: Hélas pour moi) die -Götter ihr Begehren; selbstlos und dienstbar verschreibt sich im christlichen Abendland der Menschensohn der Rettung der Verlorenen. Wenders und Godard: Neben Hélas pour moi, einer Meditation über göttlichen Nachvollzug der conditio humana, bekommt In weiter Ferne, so nah erst sein maßloses Profil, wird sein hybrider Anspruch sichtbar, nicht nur das Kino, sondern gleich auch die Welt zu retten mit einer einzigen großen Erzählung. Einer Erzählung, die alles in einem sein will: episch und lyrisch, konventionell erzählter Thriller und in vielen Perspektiven gebrochene Parabel, innerer Monolog und geglückter Dialog, Sein und Zeit.
Ein jegliches hat seine Stunde: die Weisheit des alttestamentarischen Predigers, die Wenders zum Strukturprinzip seines Films gemacht hat, kehrt sich in wesentlichen Momenten gegen ihn. Michail Gorbatschow, wenn er über Wege aus dem Völkerschlachten brütet, Lou Reed, wenn er einem verlorenen Einfall nachsinnt: Momente von erhabener Leere. Aufputz hätte dieses Ensemble im übrigen nicht nötig. Otto Sander als Engel Cassiel, der sich nach Bruno Ganz in Der Himmel über Berlin ebenfalls auf die Menschenseite schlägt, Horst Buchholz als Waffenschieber und Pornohändler, Willem Dafoe als die Zeit selbst und Heinz Rühmann als deutsche Geschichte aus der Sicht des kleinen Mannes: Schauspieler, denen immer wieder für Augenblicke die Flucht aus dem großen Allegorien-Konzept gelingt und die sich immer wieder zurückfallen lassen aus der Marschordnung des Wim Wenders, empor ins Reich der Edelmenschen. Am Ende, über den Wolken, wartet allerdings nur eine Freiheit à la Reinhard Mey.
10.11.
Gutgemeinte Faustschläge
Völkerverständigung mit Sean Connery: "Die Wiege der Sonne"
Fremde Kulturen zu verstehen, war immer ein schwieriges Unterfangen, das nicht einfacher wird, wenn die Begegnung auf heimatlichem Boden stattfindet. Die Geister, die man rief, man wird sie nicht mehr los: Was dem Österreicher der Hammelbraten im Gastarbeiter-Hinterhof ist, ist dem US-Amerikaner der japanische Manager, der zum Western seine Karaoke-Balladen singt. Star-Model Tatjana Patitz gibt die schöne Leiche, deren Hinscheiden in einem japanischen Bürogebäude in L. A. in der Verfilmung eines Bestsellers von Michael Crichton Gegenstand der Recherche wird.
Aber nur auf amerikanischer Seite sind in Die Wiege der Sonne von Philip Kaufman die Guten und die Bösen eindeutig auszunehmen. Dem korrupten Polizisten (Harvey Keitel) und dem ebenso käuflichen Senator (Ray Wise) steht im Reißbrett-Thriller ein Gespann gegenüber, das in seiner bewährten Meister-Schüler-Konstellation weit in jenes Reich rätselhafter japanischer Konventionen hineinreicht, wo man auch den Mörder wähnt. Sean Connery und Wesley Snipes: Gemeinsam bringen sie Licht ins Dunkel einer Handlung, deren Spannungsqualitäten Kaufman bereitwillig an eine Atmosphäre vermeintlicher Ambivalenz verschenkt. Er läßt diese freilich mehr herbeireden, als daß er sie erzeugt. Faustschläge aus Höflichkeit, das muß einem Cop ebenso erklärt werden wie dem breiten Publikum.
Wo im Gefolge von Crichtons Buch ein rassistischer Film befürchtet wurde, zeigt Kaufman beschwichtigende Völkerverständigung: Zumindest die moralischen Eindeutigkeiten kann man den USA nicht abkaufen.
11.11.
Musik aus Wien
"The Bands" Wiens "Underground"-Musikszene bei der Bühnenarbeit: Egon Humer zeigt in seinem neuen Film die Occidental Blue Harmony Lovers, Bask, Fetish 69, Extended Versions, Pungent Stench und Cold World vorwiegend on stage. Die pure Intensität der Performance, eingefangen von Kameramann Wolfgang Lehner, die knappen Selbstkommentare, die Kommunikationsstrategien zwischen Musikern und Publikum. Aber keine ethnographische Szene-Recherche, keine Milieu-Studie. Täglich im Filmcasino, 1050 Wien, Margaretenstraße 78, 587 90 62. 21.30
15.11.
Orientalische Metamorphosen
Disneys Animations-Furioso "Aladdin"
Eine Superwaffe - Traum sämtlicher Despoten zwischen Berchtesgaden und Bagdad. Einmal trunken vor Größe eine "neue Weltordnung" verkünden können und den Zweiflern ein selbstgewisses "read my lips" entgegenschleudern: Der Wahnwitz eines orientalischen Tyrannen? Die Maßlosigkeit des amerikanischen Präsidenten? Beides. Aber nicht auf CNN, sondern in einem Leinwand-Disneyland, das sich neuerdings spannender und zeitgenössischer präsentiert denn je: "Kommen Sie näher", lädt ein durch die Wüste fahrender Händler ein. Und bekommt gleich das, was im Animationsfilm die Kamera simuliert, so auf die Nase, daß er außer Gefecht ist für den Rest von Aladdin, dem nunmehr insgesamt 31. abendfüllenden Disney-Märchen.
Ausgerechnet während die westliche Welt den arabischen Raum nur mehr durch die Zieloptik amerikanischer Marschflugkörper wahrnehmen konnte, arbeitete beim US-Animationsgiganten ein 700köpfiger Stab an einer Orient-Fabel, die sich lediglich beiläufig an kindliche Gemüter jeden Alters wendet.
Dafür aber den Märchen-Klassiker ausbaut zu einem hochreflektierten Reich der Zeichen, wo Erzähltempo und rotzig-frecher Witz bei gleichzeitiger Verdichtung aller nur erdenklichen Verweise höchste Konzentration erfordern. Während einem rosarote Elefanten (aus Dumbo) ebenso um die Ohren schwirren wie der Krebs aus Little Mermaid. Doch weit davon entfernt, sich in bloßer Selbstzitation zu ergehen, öffnen die Regisseure John Musker und Ron Clements den Vorhang vor einem imaginären Morgenland, das seiner westlichen Abbildungs-Geschichte ebenso eingedenk ist wie seiner filmischen Vorläufer mit ihren politischen, oft ausdrücklich agitativen Implikationen.
Das Märchenmotiv vom Geist aus der Lampe, der stets das Gute will, auf Wunsch jedoch auch das Böse schaffen muß, wird in Aladdin beschleunigt zu einer Orgie von dienstbaren Metamorphosen: Während der blasse Titelheld dem aseptischen Jungstar Tom Cruise nachempfunden ist, operiert der Geist mit der anarchischen Komik eines Groucho Marx, mimt für Sekundenbruchteile Nicholson, De Niro oder Schwarzenegger und ist mit seiner Stimme den optischen Salti noch fast voraus (kaum synchronisierbar: Robin Williams in der Originalfassung).
Was hier bis in Nebenrollen (ein fliegender Teppich, ganz gentleman-like; ein infantiler Affe; ein lüsterner Flamingo) durchkomponiert ist, ist ein an den Erlebniswerten von frühen Stummfilm-Sensationen ebenso wie an Höhepunkten der Studio-Musicals orientiertes "Kino der Attraktionen" - im allerbesten Sinne.
20.11.
Neue Körperfresser, unheimliche Parasiten: Kino der dritten Art
Ein Kindergarten auf einem US-Army-Stützpunkt. Apathisch recken kleine Hände Zeichnungen in die Höhe, enervierend langsam fährt die Kamera daran entlang. Alle zeigen dasselbe Motiv, ein Lob der Herkunft aus der kosmischen Brut. Ein Schock, zugleich eine dialektische Pointe zu dem ästhetischen Programm, das Regisseur Abel Ferrara auch mit seiner Neuauflage der Geschichte von den außerirdischen Body Snatchers weiterverfolgt: Gerade bei einem Stoff mit derartiger Metaphern-Qualität (für die Kommunistenparanoia in den US-50ern in Don Siegels brillanter erster Fassung, für die psychologisierenden 70er in Philip Kaufmans halbgarem Remake) läßt er das Medium selbst die Botschaft sein.
Gegen alle Beispiele eines gezähmten, optisch verarmten Genrekinos arbeitet er an seinem eigenwillig bildmächtigen Stil, in diesem Fall wieder zusammen mit Kameramann Bojan Bazelli (der etwa auch für Paul Schrader mit Patty ein sehr widerständiges Stück Kino fotografiert hat). Die ölgemäldeprächtigen Stunden nach Sonnenuntergang werden überschattet von dem mächtig in die Breitwand ragenden Gesicht Forrest Whitakers, bevor für eine Handvoll Menschen die schattenreiche, irrlichternde Nacht der Bewährung hereinbricht. Seelenraubende, galaktische Eindringlinge, die nur darauf warten, sich ihre schlafenden Opfer als willenlose Marionetten anzuverwandeln, machen Wachheit zum Gebot der Stunde. Selbstpreisgabe oder Freitod: Ein Drittes gibt es nicht, wenn der Gegner sich anschickt, landesweit die Kontrolle zu übernehmen - gestützt auf die militärische Infrastruktur, in die Ferrara in einem nicht zu unterschätzenden subversiven Akt die Handlung verlegt.
Teenager-Drama, Militarismus-Kritik, gar eine Aids-Parabel wollte man in Body Snatchers sehen: Einem Regisseur, der seinen visuellen Sinn störrisch als "gottgegeben" ausgibt, mag es darum auch gehen, doch niemals zu Lasten einer Vision von Kinobildern, die Abel Ferrara als den derzeit wichtigsten amerikanischen Filmemacher ausweisen.
22.11.
Demnächst in keinem Kino
Ein Workshop beschäftigte sich mit den Möglichkeiten des Kurzfilms in Österreich
Jedem Inhalt gebührt seine entsprechende Form, das wußten schon die Griechen, und, so eine gern übersehene Kino-Wahrheit, nicht jede Idee braucht einen abendfüllenden Film. Im Gegenteil: Ein Road Movie des US-Regisseurs Robert Arnold (Travelogue), zu rasant abfolgenden Postkarten-Ansichten verdichtet, durchquert einen Kontinent in einer Viertelstunde, ohne daß Wesentliches auf der Strecke bliebe.
Die Frage nach dem richtigen kinematographischen Maß war auch Thema bei einem Workshop zum Kurzfilm in Österreich am vergangenen Wochenende. Eine Frage, die weniger die Filmschaffenden als vielmehr jene stellten, die für die Präsentation der Ergebnisse zuständig sind. Während die Kurzfilmproduktion in Österreich durchaus ansehnlich ist (und zumindest im Avantgarde-Bereich seit Jahrzehnten internationales Renommee genießt), waren Vertrieb und Vorführung bislang auf vereinzelte Initiativen angewiesen.
Lobby gesucht
Dem Kurzfilm langfristig so etwas wie eine "Lobby" zu schaffen, war die Idee hinter einem Treffen der heimischen Szene - mit ausländischen Gästen und parallel zu zwei internationalen Kurzfilmprogrammen, die neben Travelogue auch Arbeiten zeigen, die beim Festival in Clermont-Ferrand preisgekrönt wurden: In diesem (von Navigator Film und dem Filmhaus Stöbergasse organisierten) Kontext konnte Larmoyanz gar nicht erst aufkommen. Der Blick nach Frankreich, wo Kinos von einer gut funktionierenden Agentur Kurzfilme quasi abonnieren können, zeigt zwar ein ausgereiftes Modell, bei dem aber die Qualität des Angebotenen nicht immer den hohen Ansprüchen genügt. Gesamteuropäische Bestrebungen, ein ähnliches Büro einzurichten, führen zu reservierten Reaktionen: Diese Institution wäre zu weit entfernt von den Problemen, die kleine Verleiher, Kinobesitzer und Betreiber regionaler Filmclubs hätten.
Diese sollen, so der Idealfall, durch ein nationales "Kurzfilmbüro" bei ihren Versuchen unterstützt werden, für den Kurzfilm ein Publikum zu gewinnen: Nicht nur zwischen Werbung und Trailer, aber auch nicht nur zu nachtschlafender Stunde in Kino-Nebensälen.
24.11.
Anekdotisch getrübter Rückblick auf Moderne Zeiten
Richard Attenborough verfilmte das Leben Charlie Chaplins
Genie und Wahnsinn, sie teilen sich gern die Herrschaft über große Künstlerseelen. Und vollständig werden "Leben und Werk" großer Meister erst, wenn hinter dem Vollbrachten eine Obsession sichtbar wird.
Das mag sich Sir Richard Attenborough gedacht haben, denn gegen Ende der Film-Biographie Chaplin läßt er seinen Stichwortgeber, einen fiktiven Lektor von Chaplins Memoiren (Anthony Hopkins), eine merkwürdige Frage stellen: War am Ende alles die Ausgeburt eines angekränkelten Gehirns? Die berühmten Filme, die Frauengeschichten, die politischen Einmischungen - zurückzuführen auf eine umnachtete Mutter und einen trunksüchtigen Vater?
Derart blanker Naturalismus verbietet sich heute von selbst, aber von jenem ehrwürdigen biographischen Gestus, der das Erbrachte kunstvoll mit dem Erlebten verschränkt, will Attenborough nicht lassen.
Der weltberühmte Filmstar, mit Frau, Hut und Schal das Restaurant verlassend, wird von depressionsgebeutelten Filmfans um ein Autogramm angegangen: Moment der Inspiration zu Modern Times. Ein aufgekratzter Douglas Fairbanks (Kevin Kline) vergleicht ihn im Scherz mit dem Führer des Tausendjährigen Reiches, und schon fällt Chaplin zu Hitler etwas ein: The Great Dictator.
Gründerzeit-Idyll
Wen die Musen so beiläufig küssen, der trifft auch weitreichende Entscheidungen so, daß ein Film, der eher Panorama als Porträt ist, souverän darüber hinwegsehen kann: Chaplins elementares Interesse an künstlerischer Freiheit, gipfelnd in der Gründung der Produktionsfirma United Artists, ist Attenborough kaum mehr als Anekdoten wert. Dem verklärten Blick auf Hollywoods Gründerzeit zu Beginn korrespondiert am Ende die Apotheose vor dem Schiedsgericht der American Academy, die Chaplin mit einem Ehren-Oscar für sein Lebenswerk in den Kino-Olymp erhebt. Wie früher einmal Tarkowskij sein Malerleben Andrej Rubljow in die Schau des Kunstwerks münden ließ, endet Attenborough mit einer Kompilation aus klassischen Chaplin-Szenen.
Und macht damit unwillkürlich deutlich, wo sein Chaplin einzuordnen ist. Gerade die Momente, wo er in filmischen Zitaten die Blickrichtung umkehrt und Höhepunkte der Biographie in der Manier der frühen Stummfilm- Werke nachstellt, lassen Attenboroughs Kino (und Robert Downey jr., seinen Hauptdarsteller) alt aussehen. Viel älter, als Chaplin auf späten Fotos wirkt, hinter denen man kaum mehr den Mann vermuten würde, der als Tramp zum Mythos wurde.
1.12.
Amerikanische Tragödie mit stummem Chor
Irgendwo weit vor Twin Peaks gibt es eine Abzweigung. Wer sie nimmt, verläßt das Land der Seifenopern und kommt - vorbei an den Wiesen Walt Whitmans und den Wäldern Henry David Thoreaus - in eine Kleinstadt irgendwo in Oregon. Auf dem Ortsschild könnte ein Zitat von Ralph Waldo Emerson stehen: Mit jeder Lüge begeht die Seele Selbstmord. Tatsächlich stehen diese Worte am Ende von Jon Josts Film The Bed You Sleep In, und man weiß nicht, wer eigentlich gelogen hat. Aber drei Menschen sind tot: ein Vater, eine (Stief-)Mutter, eine Tochter. Eine (fast) klassische Dreieckskonstellation im Zeichen des Ödipus.
Als Sigmund Freud sich auf den Königsweg zum Unbewußten machte, mußte er sich zuallererst über eine Frage klar werden: Was war zuerst? Die Tat (des sexuellen Mißbrauchs in der Familie) oder die Phantasie (des Opfers)? Bis heute wird er dafür gegeißelt, daß er die Väter freigesprochen und alles den kindlichen Projektionen angelastet habe. Gegeißelt von jenen, die gerne eindeutige Schuldzuweisungen hätten, wo allenfalls ambivalente Gefühlswelten aufeinanderprallen. Eine Reaktion, die derzeit auch Jon Jost widerfährt, weil er verweigert, über eine seiner Figuren den Stab zu brechen.
Im Gegenteil: Wie der Psychoanalytiker in einer potentiell unendlichen Sprech-Kur hinter den Assoziationen die Wahrheit aufspüren will, hält Jost die Kamera auf Alltägliches, scheinbar Zufälliges, vermeintlich Belangloses. Die dazwischen mit tragischer Ausweglosigkeit sich vollziehende Familiengeschichte wird eingebettet in Räume, die dem Publikum unwillkürlich die Rolle eines stummen Chors zuweisen. Während Jost in schweigsamen Totalen Momentaufnahmen sammelt oder in kreisenden Schwenks dem immer Gleichen kaum mehr wahrnehmbare Veränderungen abtrotzt, schwant dem Zuseher langsam eines: An ihm allein liegt es, sich einen Reim auf das Unerhörte zu machen, das hier zu sehen ist.
Arbeit an Mythen ist es, die Jost provoziert: Am mythischen Potential eines Identifikationskinos, das Antworten feilbietet, wo nur mehr Einzelgänger die Rückfrage stellen. An den archaischen Mustern von Gut und Böse, die Filme der Major Studios nur selten aufzubrechen wagen. An der Prämisse, daß Politik im Mainstream-Kino nur als Hintergrundrauschen in Wirtschafts-Thrillern vertretbar sei oder bei der Fabrikation von Präsidenten-Idolen. Bei Jost ist alles gleich wichtig: Die Arbeitsplätze im Sägewerk, die Exportchancen nach Japan, das Ökosystem Wald, die Schilder im Büro, die Kommentare der Nachbarin - nichts davon bevorzugt er so, daß der freischwebenden Aufmerksamkeit des Publikums Gewalt geschähe. Daß The Bed You Sleep In schließlich doch wieder vor allem für seine manifeste Ebene harschen Widerspruch erfahren mußte, sollte einen Regisseur nicht entmutigen, dessen Unbeirrtheit ihm seit Jahrzehnten einen Platz irgendwo am Rande der Filmindustrie festschreibt.
Dieser Film, der Assoziationen mit europäischen Geistes-Höchstleistungen von Sophokles bis Brecht und Freud nicht nur zuläßt, sondern wirklich verdient, sollte ihm jedenfalls mindestens den Erfolg bringen, den er hierzulande mit Frameup gelandet hat (mit dem er sich im Vergleich fast einen Jux gemacht hat). Jost selbst scheint es nicht so recht zu glauben: Am Ende, nachdem er mehrmals und unter Zuhilfenahme von technischen Tricks wie Split-Screens alle Perspektiven auf eine Straßenkreuzung durchlaufen hat, kommt noch immer niemand, sie zu überqueren. Ein skeptisches Ende? Ein exzellenter Film!
4.12.
Rösser und Schlösser
Ein rechtes Herrenleben, das man in der französischen Provinz noch als alte Dame führen kann - sofern man rüstig genug ist und über ein Schloß gebietet. Daß dieses die Japaner kaufen wollen, während diverse Antiquitätenhändler die Napoleon-Sesseln hinterm Rücken wegkaufen, trübt die Laune wenig.
Eine Ungerührtheit, die Regisseur Otar Iosellani auch beim Publikum seines Films Jagd auf Schmetterlinge vorauszusetzen scheint: Sein Ost mit West verbindender Obskuranten-Adel bevölkert die Bilder des exzellent arbeitenden Kameramanns William Lubtschansky mit so penetrant alltäglichen Exzentrizitäten, als wollten sie alle freudig rufen: Leben wie ein Exil- Gott in Frankreich!
9.12.
Filmkarriere in zwei Etappen: Schauspieler Don Ameche ist tot
Things Change hieß einer der letzten Filme von Don Ameche. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Für Ameche, dessen Karriere in Hollywood 1948 nach einem knappen Jahrzehnt für 20th Century Fox schon abgeschlossen schien, wendeten sie sich in den 80er Jahren noch einmal zum besseren. Früher hatte er weder als Verehrer von Claudette Colbert (in Midnight) noch als Erfinder des Telefons (The Story of Alexander Graham Bell) das erreicht, was er 1986 mit einer halbwitzigen Komödie doch noch bekam: einen Oscar als bester Nebendarsteller in Cocoon.
Mit David Mamets Mafia- Farce Things Change dürfte er die Zeiten eher überdauern. Den Schuhputzer Gino, der ebenso frech wie unabsichtlich für zwei Kinostunden zum Paten avanciert, spielt er mit der verschmitzten Heiterkeit eines Mannes, der sich einen Lebensabend in Sizilien so vorstellt: Am Nachmittag ein wenig Fischen, am Abend ein wenig Trinken. Ameche selbst war bis zuletzt aktiv und verstarb am Montag nur wenige Wochen nach dem Abdrehen seiner letzten Rolle (in Corinna Corinna an der Seite Whoopi Goldbergs) an Krebs.
10.12.
Opern-Finale mit kultureller Implantation
Schockierende Variationen zu Puccini: David Cronenbergs neuer Film "M. Butterfly" mit Jeremy Irons
"Omnisexualität": Ein Begriff steht am Beginn der Karriere von David Cronenberg, in dem sich die technische Funktionalität einer Versuchsanordnung widerspiegelt. Mit telepathischen Mitteln sollen unter wissenschaftlicher Leitung die konventionellen Muster von Hetero- und Homosexualität aufgebrochen werden.
Stereo, das einstündige Filmexperiment am Ende der 60er Jahre, nimmt sich heute wie ein frühmodernes Vorspiel zu Cronenbergs neuestem Film M. Butterfly aus: Wo damals in kalten Betonlandschaften kein Herz zum Herzen finden konnte und statt dessen Beziehungen sich irgendwo in den Synapsen verliefen, schwelgen diesmal die Liebenden vor farbenprächtiger chinesischer Landschaft samt Mauer im Picknick-Idyll - und bleiben ebenso in den eigenen, diesmal melodramatisch ausformulierten Phantasmen befangen.
Die Liebenden? Rená Gallimard (Jeremy Irons), französischer Diplomat im Peking der Kulturrevolution, verliert sich in die Passion für eine chinesische Sängerin (John Lone). Eine Passion, der mit Mitteln der Biochemie weder auf den Grund noch beizukommen ist, entstammt sie doch einer älteren Versuchsanordnung menschlicher Selbsterfahrung: der Oper als Probebühne großer Emotionen. Puccinis Madame Butterfly, so alt wie dieses Jahrhundert und (zufällig) fast genauso alt wie Freuds Konzept der Verdrängung, erfährt bei Cronenberg eine schockierende Mutation. Über weite Strecken hält er M. Butterfly in einem freien Schwebezustand der Projektionen: Wie das Gesicht von Jeremy Irons - zur leeren Maske erstarrt - sich der immer deutlicher werdenden Wahrheit verschließt, wie gleichzeitig in einer stark akzentuierenden Beleuchtung Traum und Wirklichkeit der Figur John Lones sich preisgeben und verbergen, das alles bezieht sein Publikum in eine faszinierende Unentschiedenheit mit ein: Was will ich wahrnehmen? Was verweigere ich zu sehen?
Wesensfremd
Daß der Diplomat, je mehr er sich verstrickt in seinen spätromantisch gefärbten Minnedienst, beruflich zum (von Freund und Feind) gern konsultierten Experten für die Landeskultur avanciert, ist eine bittere Pointe: Die Fremde ist trügerisch. Sowenig es Puccini um ein authentisches Japan ging, sowenig liegt Cronenberg daran, das chinesische Wesen zu erkunden. Viel näher liegt sein China der "Interzone" seines vorletzten Films Naked Lunch: Kulissenlandschaften und Attrappenwände eröffnen einen Raum irgendwo zwischen den Geschlechtern und Kulturen, in dem man nicht alles für bare Münze nehmen muß. Politische Demonstrationen und geheime Missionen sind eher Mittel als Zweck, und daß die Verleiher M. Butterfly als Spionage-Thriller unter die Leute bringen wollen, macht soviel Sinn wie James Bond in einem Melodram.
Zu einem großartigen Soundtrack des bewährten Howard Shore holt Cronenberg geduldig zu einem erschütternden Finale aus: Die außerhalb der eigenen Person gähnenden Räume lassen sich nur durchmessen in einer einzigen, todbringenden Inszenierung der Hingabe. Mit M. Butterfly greift Cronenberg aus in Bereiche, die seine früheren Horror-Szenarien radikal vorantreiben: zu Vivisektionen und Implantationen an kulturellen Körpern.
15.12.
Spurloser Abgang ins Reich der Zeichen
Spätestens seit Arno Schmidts Untersuchungen zu Karl May ist die Mehrdeutigkeit geologischer Geländeformationen hinreichend nachgewiesen. Wer einen Berg bloß als Erhebung in der Landschaft sieht, hat bald den Ruf einer unentspannten Beziehung zwischen Ich und Es. Die Sinne sind also von vornherein geschärft bei einem Film mit dem Originaltitel Picnic at Hanging Rock, zumal dieser Lustbarkeit eine ganze Klasse junger Mädchen an einem symbolträchtigen Datum obliegt: Valentinstag anno 1900. Der erdgeschichtlich jugendliche Vulkanfelsen als Schatten junger Mädchenblüte - eine Konstellation, aus der einige (auch spekulative) Filme zu machen wären.
Der australische Regisseur Peter Weir (Club der toten Dichter) aber arbeitete 1975 in seiner ersten Internatsgeschichte weder bloß mit dem Netz eines mysteriösen Plots (vier Mädchen verschwinden auf rätselhafte Weise) noch mit dem begehrlichen Zuschauerblick. Er wirkte ein dichtes Gewebe an Referenzen dazwischen, legte seinen Figuren einen fortlaufenden Sentenzenkommentar in den Mund und präsentierte das alles auf einem Tableau in Eastmancolor, daß einem die eben erst angespannten Sinne wieder schwinden könnten ob all der Pracht.
Eine investigative Dramaturgie überhöht sich in virtuosem Wechsel der Perspektiven. Der mythologisch und psychoanalytisch aufgeladene Kommentar zur Versöhnung mit der (eigenen) Natur im Prozeß des Erwachsenwerdens erweitert sich zu einer Parabel auf die Ablösung einer alten Ordnung. Wobei offen bleibt, was kommen wird: Picknick am Valentinstag ist ein Film über das Ende des 19. Jahrhunderts, keiner über den Beginn des neuen.
Aus unerfindlichen Gründen hat der Orkus des Kabelfernsehkanalsystems diese Pretiose noch einmal ausgespien. Spät, aber doch kann sie nun auch im Kino gesehen werden: Im Sommer, einer gefährlichen Zeit für gute Filme. Diesen nicht schon nach einer Woche wieder verschwinden zu lassen, liegt an Ihnen.
16.12.
Zwischen Orient und Ehehafen
Myrna Loy, Hollywood-Star seit Stummfilm-Tagen, starb in New York
Sie wurde von niemandem wirklich entdeckt, betonte Myrna Loy in ihrer Autobiographie den Aufstieg zum Hollywood-Star. Am Anfang steht trotzdem ein berühmter Name. Rudolfo Valentino wurde auf die 1905 in Montana geborene Tänzerin aufmerksam, als sie - mit Graumans Ägyptischem Theater - für den Prolog zu Cecil B. DeMilles monumentaler Stummfilmversion der Zehn Gebote (1923) verpflichtet wurde. Ihre Rolle als zweite Statistin, die zur Rechten des Pharao kniet, war bescheiden, aber Publicity-Fotos von ihr stachen Valentino ins Auge und bescherten ihr den ersten Screen-Test.
Es brauchte dann aber einige Jahre der "orientalischen Phase" mit Rollen in Filmen wie Der Dieb von Bagdad, bevor sie bei Metro-Goldwyn-Mayer an jene Rolle geriet, mit der sie zum Idol einer ganzen Nation wurde: An der Seite von William Powell spielte sie zwischen 1934 (Mordsache Dünner Mann) und 1947 in sechs Filmen die Ehefrau eines Gentleman-Detektivs.
Sie wurden eines der b rühmtesten glücklichen Paare der Filmgeschichte. "Myrna gab dem Ganzen den Witz. Powell war es, der mit allem eine Spur übertrieb, und Myrna unterspielte es, schuf damit eine funkelnde Chemie", schwärmte der Regisseur George Cukor von ihnen. Die Vielseitigkeit, die Kollegen an Loy bewunderten, war aber in den Blütezeiten des Type-Casting nicht nur ein Vorteil. Ihre rastlose Produktivität ließ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs langsam nach: The Best Years of Our Lives, William Wylers episches Kriegsheimkehrer-Drama (1946), brachte zwar ihrem Filmpartner Fredric March einen Oscar ein, selbst ging sie jedoch leer aus. 1991 bedachte man sie doch noch mit einem Ehren-Oscar.
Zunehmend verwendete sie ihre Zeit auf politisches Engagement: für liberale Präsidentschaftskandidaten, von Anbeginn an für die Vereinten Nationen. Franklin D. Roosevelt soll beinahe verspätet beim Jalta-Gipfel eingetroffen sein, weil er eine Begegnung mit Myrna Loy einplanen wollte. In ihren späteren Jahren gelang der einstigen Filmpartnerin von Clark Gable, Spencer Tracy und Tyrone Power noch der Sprung an den Broadway. Am Dienstag ist eine "Queen of Hollywood" 88jährig in New York gestorben.
23.12.
Opernhafte Liebe
"M. Butterfly" Der kanadische Regisseur David Cronenberg irritiert nach Naked Lunch Kritiker wie Fans mit einer melodramatischen Liebesgeschichte zwischen einem Diplomaten im Peking der Kulturrevolution (Jeremy Irons) und einer chinesischen Sängerin (zerstören wir ein Rätsel: John Lone). Ins Vexierspiel der Täuschungen zwischen Geschlechtern und Kulturen schreibt Cronenberg überdeutliche Hinweise ein, und macht doch die Perspektive des haltsuchenden Mannes im Orient so plausibel, daß von dem erschütternden Finale jeder bewegt wird, der für operngroße Emotionen noch empfänglich ist. Weihnachtliche Freudenpflicht! Die unbedingt vorzuziehende OF jetzt im Großen Saal des Burg, 1010 Wien, Opernring 19, 587 84 06.
27.12.
"Ladykillers"- Regisseur gestorben
Aus einer deftigen Idee eine ironische Komödie zu machen, deren Witz ebenso makaber wie elegant ist: Der britische Filmregisseur Alexander Mackendrick exerzierte dies in einigen wenigen Filmen vor. Ein Whisky-Schiff, das auf Grund läuft (1949), oder die fulminante Bande in Ladykillers (1955) fallen noch heute jedem anspruchsvollen TV- Programmierer ein. Aber auch in unbekannteren Filme wie Der Mann im weißen Anzug (1952) bewies Mackendrick seine sichere Hand. 1966 zog er sich - inzwischen in Hollywood - zurück auf sein "wahres Metier": Lehrer an einer von ihm begründeten Film-Akademie. Dort unterrichtete er bis zu seinem (erst jetzt bekannt gewordenen) Tod in der Vorwoche: Der 81jährige starb an Lungenentzündung.
29.12.
Spiel mir das Lied vom Butterbrot
"Texas", ein Western mit Muttersöhnchen Helge "Doc Snyder"
Natürlich wurde CinemaScope nicht für Helge Schneider erfunden. Sondern, wie man weiß, um dem Fernsehen eins auszuwischen. Es gab aber noch einen Grund, über den man kaum spricht: Hutkrempen. Die Hüte der Westmänner mit ihren immer verwegeneren Ausmaßen verlangten ein neues Format, wollte sich der Western nicht auf Totalen beschränken. Diese Entwicklung darf nun als auf ihrem Höhepunkt angelangt betrachtet werden: Helge Schneider, der Mann mit dem Sombrero, betritt seinen Western Texas - Doc Snyder hält die Welt in Atem mit dem gönnerischen Gestus dessen, der einem ausgetrockneten Genre wieder die Butter aufs Brot schmieren will.
Daß er selbst sich die Butter bei seiner stets unwirschen Mutter holt (wofür er von seiten richtiger Westmänner, die niemals eine Mutter in Reichweite haben, ein verächtliches "Memme" kassieren würde), daß er auf dem Weg zu ihr seinen Wäschesack einbüßt, kompensiert er mit bravourösen Standard-Situationen: Banküberfall und Duell verlaufen nach Plan, wenn auch nicht nach Vorschrift. Doch Vorsicht: Wer sich etwa dem Kino nähert, um dort ein hochkonzentriertes Witz-Destillat in gierigen Zügen zu sich zu nehmen, wird enttäuscht den Staub von seinen Füßen schütteln müssen. Eher schon wird hier das Lieblingsgericht von Dr. Snyders Mutter gereicht: "Bohnensuppe aus selbstgepflückten Bohnen" - nahrhaft, mit gesunden Zutaten, aber zähflüssig und zu einem Verdauungsschläfchen einladend.
Und Kritiker, die auf seltsame Ausgeburten eines hundertmal totgesagten Genres gern begriffliche Hüftschüsse wie "Anti-Western" abfeuern, werden bei Texas vergeblich in den Halfter mit den wiederverwendbaren Schlagwörtern greifen: Hier wird für eine Handvoll Deutsch-Mark eine Provinz-Posse vor Kulissenwänden inszeniert, die sich mit ihren verschrobenen Miniaturen ausnimmt, als hätte der Dichter Jean Paul ein Western- Drehbuch verfaßt. Ein Feuilleton-Vergleich mit beschränkter Haftung, der sich nicht als Beitrag zu einer gern versuchten und stets mißlungenen Definition des Schneider-Humors versteht, sondern als Kompliment an einen verwegen zum Showdown schreitenden Film.
30.12.
Filme "off" und "inside" Hollywood: Richard Linklater
Driften zwischen Datenfluten
Wenn Richard Link later über seinen neuen Film Dazed & Confused spricht, nennt er ihn ironisch einen "sozial verantwortungslosen" Film. Dem Football-Trainer begegnen die College-Kids so respektlos, wie sie selbstverständlich (weiche) Drogen nehmen. Daß derartiges von einem Major-Studio produziert wurde (und bei Kritik wie Publikum Erfolg haben konnte), war den Vorschußlorbeeren nach Slacker (1991) zu verdanken: Realisiert um einen Pappenstiel mit Freunden aus der Nachbarschaft in Austin (Texas), schien der Film einen Nerv zu treffen.
Standard: Slacker wirkt wie ein Film über eine extrem zersplitterte Kultur?
Linklater: Ja, das ist das Ergebnis. Slacker wollte zeigen, wie viele verschiedene Leute verschiedenartigste Informationen zum Funktionieren bringen.
Standard: Auch mit so seltsamen Ergebnissen wie Mutmaßungen über geheime Mars-Expeditionen?
Linklater: Es schaut gefährlich oder zumindest sinnlos aus, aber ich mag das. Die Dialoge von Slacker hört man so normalerweise nicht in Konversationen, sie sind wie innere Monologe. Das war mein Konstruktionsprinzip für den Film: Manchmal fast unbewußte Gedanken in den Vordergrund zu stellen.
Standard: Aber es ist kein pessimistischer Kommentar zur Illusion, sich vernünftige Meinungen bilden zu können?
Linklater: Nein. Ich glaube allerdings, daß das, was wirklich vor sich geht, mehr auf den Straßen kommuniziert wird als über Medien. Auch wenn es gelegentlich schizophrene, paranoide Ausmaße annimmt.
Standard: Paranoia also als Preis für Informations-Demokratie? Oder sogar als eine Art Luxus?
Linklater: Nun, in diesem Fall ist es ja ein Porträt einer Post-College-Generation, die sich noch eher mit Theorien herumschlägt als mit Arbeitsbedingungen. Wenn man einmal arbeitet, wird man oft sehr pragmatisch, bis hinein in die Wahlzelle.
Standard: In Slacker, auch in Dazed & Confused finden sich auffallend viele Bezugnahmen auf US-Präsidenten.
Linklater: Wenn du bemerkst, daß du im politischen Spektrum nicht repräsentiert bist (was in den späten 80ern auf 90 Prozent der Bevölkerung zutraf), denkst du natürlich darüber nach, wer regiert und ob du überhaupt wählen sollst.
Standard: Spürt man seit Clinton einen frischen, bis nach Texas wehenden Wind?
Linklater: Man sieht keine Unterschiede, man spürt vielleicht welche. Clinton brachte jedenfalls das neue Gefühl, daß die USA ihre Probleme in Angriff nehmen könnten.
Standard: Dazed & Confused, in dem die College-Kids offensichtlich Spaß an (weichen) Drogen haben, wäre in den 80er Jahren noch nicht so leicht möglich gewesen.
Linklater: Ich denke, nein. Damals vertrat man ja eher eine unreflektierte "just say no"-Haltung.
Standard: Und diesmal haben die Studio-Produzenten keinerlei Veto eingelegt?
Linklater: Es ist leicht, das US-Kino als Industrie zu kritisieren. Aber ich kann als Regisseur darin arbeiten. Sie mögen mich nicht sehr, weil ich mich zum Beispiel weigere, alte Bands mit neuen Liedern einzubauen, damit sie auch ein Musik-Video lancieren können. Aber ich habe mich immer durchgesetzt.
Standard: Ihre beiden Filme haben eine zumindest atmosphärisch autobiographische Note. Findet man Sie wieder unter den Jackson-Pollock-Fans in Dazed & Confused?
Linklater: Nicht direkt. In der High School, mit 15 oder 18, war mein einziges Interesse, cool zu sein. Aber ich habe immer sehr viel gelesen.
Standard: Und wann kam das Interesse an Filmen, zumal europäischen?
Linklater: In meinen frühen Zwanzigern. Ich bin in einer kleinen Stadt in Texas aufgewachsen und mußte immer nach Houston fahren, wo ich dann in Revival-Kinos drei oder vier alte Filme am Tag gesehen habe. Als ich nach Austin gezogen bin, habe ich dann eine eigene Film-Society gegründet und Retrospektiven gemacht zu Faßbinder, Godard oder Tarkowskij.
Standard: Haben Sie auch Verbindungen zur dortigen Musik-Szene?
Linklater: Natürlich. Austin hat 600 oder 800 Bands, war aber kommerziell nie so groß wie Seattle. Unsere Version von Nirvana waren die Butthole Surfers.
Standard: . . . die zum Slacker-Abspann eine ungewöhnlich ruhige Nummer beigesteuert haben.
Linklater: Strangers Die Every Day. Die Butthole Surfers sind gute Freunde.
Standard: Das Ende von Slacker sieht aus wie eine Befreiungsutopie, zuletzt sogar von der Kamera selbst.
Linklater: Der Film beginnt mit einer ruhigen Einstellung im Bus und endet 24 Stunden später in einem dieser ausgelassenen, frohen Momente, in dem man über die Unterscheidung zwischen rationalem und irrationalem Verhalten hinausgelangt. Das ist wohl der Durchbruch, den viele der Figuren suchen. Und es ist auch ein formaler Bruch: Bis dahin hat Slacker eine sehr überlegte Struktur mit langen Einstellungen.
Standard: Läßt dieses dionysische Finale auf einen Lieblingsphilosophen schließen?
Linklater: Nun, Nietzsche ist für mich sicher die wichtigste philosophische Lektüre. Aber ich lese mich so von einem Buch zum nächsten. Jetzt kommt Döblin dran. Berlin Alexanderplatz von Faßbinder habe ich dreimal gesehen. Alle 15einhalb Stunden.
30.12.
Happy End
"Minnie and Moskowitz" Wenn Gena Rowlands singt "I love you truely", obwohl ihr Geliebter (John Cassavetes, Nebendarsteller und Regisseur dieses 1971 entstandenen Films) sie eben noch geschlagen hat, dann ahnt das Publikum schon etwas von einer ebenso unsentimentalen wie unverzagten Sehnsucht nach Liebe, die sich schließlich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen wird: Gegen die aggressiv zärtliche, unbeholfene Zuneigung von Seymour Cassel, gegen skeptische Schwiegermütter, gegen eine ruppige Montage, die niemals vorschnell den Weg zum Happy-End einebnet.
Tex' Tornados
"The Best of Tex Avery" Nur wenige Minuten dauern jeweils die Animations-Knallpakete von Tex Avery, die er in den 40er Jahren für MGM verantwortet hat, und doch können sich Generationen von Kritikern daran abarbeiten: Fast (und doch immer gerade nicht) zuviel bekommt das träge Auge hier vorgesetzt, wenn Gags auf Sekundenbruchteile komprimiert werden und zugleich die Räume dazwischen eng gemacht werden.
Dafür darf in diesen Welten über jedes Ziel hinausgeschossen werden (es sei denn, man ist ein Blitz-Wolf in der Manier Adolf Hitlers, der kommt in die Hölle); man kann sich selbst wieder zurückschießen (weil es auf dem Mond noch ärger ist, wie der Kater feststellen muß, der "Leute" haßt) oder man muß sich gar nirgends hinschießen (der Hund Droopy ist immer schon dort, wo der Ausbrecher keuchend innehält). Ungebärdiges Kino der allerbesten Art auf jeden Fall.
31.12.
Sensible Protokolle menschlichen Fühlens
"Ich sehe mich nicht so sehr als durchgebrochen an", antwortete Axel Corti 1987 leicht dissonant einer Journalistin, die ihn auf die Angebote nach seiner überaus erfolgreichen Film-Trilogie Wohin und zurück angesprochen hatte. Daß ein künstlerischer wie kommerzieller Durchbruch auf dünnes Eis führt, war einem Mann, der immer vorzog, von "Entwicklung" statt von "Karriere" zu sprechen und trotzdem nicht zu (falschen) Bescheidenheiten neigte, mehr als eine rhetorische Floskel. Nach dem großen Echo, das sein nach der Lebensgeschichte des Autors Georg Stephan Troller gedrehter Fernseh-Dreiteiler in französischen und US-Kinos erfuhr, standen ihm zahlreiche Türen offen. Hollywood wurde es dann aber doch nicht, dafür bot ihm der Produzent Maurice Bernart einen historischen Kostüm-Stoff an: Die Hure des Königs (mit Valeria Golino und Timothy Dalton) sollte ein passendes Sujet sein für einen Regisseur, dem an der detailgetreuen, oft fast naturalistischen Rekonstruktion eines Ambiente genau so gelegen war wie daran, aus dem 17. Jahrhundert die Gefühls konstellationen der Gegenwart herauszufiltern.
Corti, der verschiedentlich Wert auf die Tatsache gelegt hat, daß er noch keinen Film mit österreichischen Filmförderungsmitteln realisiert hat, schaffte damit den Sprung auf den europäischen Produktionsmarkt. Und mußte zugleich der Tatsache Tribut zollen, daß Fernsehen und Kinoleinwand unterschiedliche Anforderungen stellen, denen sein in dieser Frage sehr pragmatischer Zugang nicht immer gerecht zu werden vermochte.
Willkommen im Tirolerland
Schon 1962, als er für den ORF sein erstes Fernsehspiel drehte, brachte er es anschließend auch in die Kinos: Bei Kaiser Joseph und die Bahnwärterstochter (nach Herzmanovsky-Orlando) lag dies wohl auch wegen Hans Moser nahe, der darin eine seiner letzten Rollen spielte. Dem ORF war Corti seit 1956 verbunden: Der 1933 in Paris geborene Sohn eines österreichisch-italienischen Kaufmannes und einer aus Polen stammenden Berlinerin hatte nach langen, kriegsbedingten Wanderjahren mit der Familie schließlich in Innsbruck Fuß gefaßt und konnte schon als 23jähriger die Abteilung Literatur und Hörspiel im dortigen Landesstudio übernehmen.
Arbeiten für das Theater, die er seit 1958 ebenfalls übernahm und die ihn 1960 als Regie-Assistenten ans Burgtheater und 1967 als Oberspielleiter nach Ulm brachten, hinderten ihn nicht, zur ORF-Reform Ende der sechziger Jahre sein Scherflein beizusteuern: 1968 wird der Schalldämpfer erfunden.
Diese untrennbar an Cortis eindringlich pädagogische Stimme gebundenen Hörfunkglossen trugen nicht wenig dazu bei, daß er sich kontinuierlich die Aura einer Integrationsfigur des "guten Österreich" erwerben konnte, die später auch als Gastgeber in zahlreichen Club-2-Sendungen bedächtiges Räsonnement über heikle Themen zu vermitteln pflegte.
Daß er zudem als Film-Regisseur 1972 einen Mann der breiteren Öffentlichkeit nahebrachte, der mit den Nazis auch um den Preis des eigenen Lebens keinen "ungerechten Krieg" führen wollte, tat ein übriges: Der Fall Jägerstätter - Die Verweigerung war der Entwurf für eine Symbolfigur des Widerstands, der allein die katholische Kirche bisher den offiziellen Heiligenschein verweigert. Und Corti selbst sorgte erst jüngst mit einem ZiB-Kommentar für neu entflammte Kontroversen.
Abschied vom Silberwald
In den siebziger Jahren fand er sich in seinem Bemühen um einen kritischen Realismus durchaus im Einklang mit wesentlichen Strömungen der damaligen Literatur, und mit der Verfilmung von Büchern eines Michael Scharang (Totstellen, 1975), Peter Turrini und Wilhelm Pevny (Der Bauer und der Millionär, 1977) oder Gernot Wolfgruber (Herrenjahre, 1984) fand sich Corti ganz auf der Höhe der Kunst eines neuen österreichischen Film-Schaffens, das statt in Silberwald-Idyllen in die Fabriken und Angestellten-Seelen schaute.
Streitbar auch in zahlreichen Diskussionen (seit 1972 hatte er auch einen Lehrstuhl für Regie an der Wiener Filmakademie inne), trug Corti damals wesentlich dazu bei, österreichische Filme als Kunstform überhaupt erst ins Gespräch zu bringen (das Filmförderungsgesetz 1981 erwuchs nicht zuletzt aus diesem - durchaus kontroversen - Klima).
Daß er daneben die Tradition des gepflegten österreichischen Fernsehspiels in Manier eines Michael Kehlmann und meist nach einem Dichterwerk aus k.u. k. Tagen fortsetzen konnte, wurde ihm dabei natürlich unterschiedlich ausgelegt. Das Jahr 1984 sieht ihn bei der Verfilmung einer Erzählung von Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift, gewissermaßen ein Intermezzo vor der Emigranten-Trilogie, und doch eine Hinwendung zu Themen, die seinem im Grunde ahistorischen Interesse an Gefühlskonstanten Rechnung trugen: "Es ist halt zufällig ein Film, in dem die Leute solche Kleider anhaben und mit solchen Verkehrsmitteln fahren", äußerte er sich einmal gegenüber dem Standard über einen seiner Filme. "Was mich eigentlich interessiert: Was geschieht zwischen Menschen? Was erleben sie in Extremsituationen?"
Diesen Erfahrungen versuchte er in Opern-Inszenierungen ebenso auf die Spur zu kommmen, wie er sie in einem Roman von Vicki Baum auszunehmen vermochte: Jahrelang trug er sich mit der Verfilmung von Hotel Shanghai. Das Projekt mußte aber zurückstehen angesichts eines der größten TV-Unternehmen, zu dem sich der ORF in einer umfangreichen Koproduktion anschickte: Joseph Roths Radetzkymarsch, für den man ein Großaufgebot an europäischen Stars verpflichtet hatte, kam zuletzt ins Gerede, weil der Regisseur angeblich mit Leuten wie Max von Sydow, Charlotte Rampling oder Gert Voss eine alles andere als zimperliche Sprache gefunden hatte.
Geschliffene Kommentare
Was ebenso von seinem Selbstbewußtsein gegenüber großen Namen zeugt wie auch davon, daß seiner widersprüchlichen Persönlichkeit cholerische Ausbrüche genausowenig fremd waren wie wohlüberlegte, geschliffene Kommentare zu fast allem, wozu er gefragt wurde. Daß er die Arbeit an Radetzkymarsch als Anlauf zu seinem Opus magnum betrachtete, in dem er an einem literarischen Schlüsselwerk der österreichischen (nicht nur kulturellen) Identität seinen filmischen Kommentar zur Befindlichkeit einer Nation festmachen wollte, war aus vielen seiner Äußerungen der letzten Zeit herauszuhören.
Er konnte dieses Vorhaben nicht vollenden. Am Mittwoch starb Axel Corti an einer plötzlich akut gewordenen Leukämie in Oberndorf bei Salzburg.
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