Filme und Folgen (41)

Notizen: Dezember 2021

Worlds of Ursula K. Le Guin Arwen Curry USA 2012

Ein Porträt der amerikanischen Autorin, die wesentlich dazu beitrug, dass Science Fiction und Fantasy aus dem genre closet ausbrechen konnten. Ihre Rede anlässlich des National Book Awards 2014 ist einer der Höhepunkte, sie sagte damals den großen Satz „We live in capitalism. It seems inescapable. So did the divine right of kings.“ Ursula K. Le Guin konnte selbst noch mitwirken (sie starb 2018), ebenso ihr Ehemann, ein Historiker. Ihre wachsende Bedeutung nicht zuletzt für den Feminismus hatte einen interessanten Akzent darin, dass sie lange auch Hausfrau war (und bleiben wollte), und „mit einer Hand“ schrieb, also neben den familiären Verpflichtungen, dabei allerdings immer konsequent auch auf ihre Schreibzeit bedacht. Die Form des Porträts ist konventionell, aber ergiebig: Fotografien, Archivmaterial, dazu Interviews mit Neil Gaiman oder Margaret Atwood, und eben Szenen mit Le Guin selbst, mit ihren Kindern, in Oregon und später in Kalifornien, wo es im Napa Valley ein Sommerhaus ihrer Familie gibt, und wo sie sich eine Sozialutopie ausdachte, die dem Amerika vor der weißen Besiedlung (so weit es noch Spuren davon gibt) viel verdankte. (Sooner)

Travolti da un insolito destino nell’azzuro mare in agosto (Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer im August) Lina Wertmüller Italien 1974

Der Klassenkampf (und weitere Gegensätze: Mann/Frau, Süden/Norden), verdichtet auf ein schiffbrüchiges Paar auf einer Insel. Gennarino Carunchio arbeitet auf einer Jacht für ein paar reiche Leute. Besonders laut tut sich darunter Signora Raffaela Pavone Lanzetti hervor, eine christ- oder sozialdemokratische, jedenfalls antikommunistische „Industriehure“, wie sie von Gennarino einmal bezeichnet wird. Ein Ausflug auf einem Schlauchboot endet nach langem Hin und Her und Motorschaden auf einer unbewohnten Insel. Gennarino und Raffaela müssen nun in und von der Natur überleben (natura faccia di merda, sagt sie), die Machtdynamik ist umgedreht, respektive sie wird komplizierter, und der sexuelle Aspekt, auf der Jacht noch beschränkt auf verstohlene Blicke, tritt in den Vordergrund. Gennarino spielt den Boss, er lässt die puttana bionda für ihn putzen und kochen, schließlich soll sie ihre Brüste zeigen: die darauf folgende Vergewaltigung hat ihre Pointe allerdings darin, dass er ihr den Mann dadurch zeigt, dass er in die „parfümierte Muschi“ nicht eindringt, dass er das Begehren, das er in ihr ausgelöst hat, enttäuscht. Bald darauf gibt es dann doch eine Weile Inselidyll mit leicht sadoerotischem Einschlag, bis Raffaela schließlich mit einem für Gennarino unverständlichen Fachbegriff Analverkehr fordert: sodomizza mi. Seine Antwort, in den englischen Untertiteln: you are using long words to make me feel small. Das Drehbuch im Original würde ich gern einmal lesen, denn es enthält so ziemlich jeden erdenklichen Slangausdruck für das jeweils andere Geschlecht in allen despektierlichen Schattierungen, einmal nennt sie ihn brutto Abessino, da geht ihre Südfantasie schon ziemlich mit ihr durch (einmal fantasiert sie auch eine Entführung durch einen Scheich). Das sprachliche Schnellfeuer von Giancarlo Giannini und Mariangela Melato hilft auch über die eine oder andere geschlechterpolitische Unausgewogenheit hinweg, die Unterwerfung der bourgeoisen Frau unter den edlen, ungehobelten Wilden führt für ein Weilchen doch eher in die Klischees einer heterosexuellen Inselromanze (wobei sie da, wenn sie ihn als Burt Lancaster aus The Crimson Pirate sieht, auch ihren Hang zur Übertreibung verrät). Das Ende hebt alles quasi illusionslos auf: Raffaela, die ricaccia, lässt sich mit dem Helikopter ausfliegen, und Gennarooso, so der sizilianische Kosename, bleibt mit der Mutter seiner Kinder zurück. (Datei)

Leap of Faith Richard Pearce USA 1992

Als Filmkritiker kann man sich lächerlich machen, wenn man ein großes Werk nicht als solches erkennt. Fast noch „gefährlicher“ schien mir, damals, als ich anfing, aber der umgekehrte Sachverhalt: sich (naiverweise) für etwas stark zu machen, was die Begeisterung nicht wert ist. An zwei solcher Fälle in den frühen 90er Jahren erinnere ich mich konkret: Ich war damals sehr für A River Runs Through It von Robert Redford, den die meisten Kollegen für sentimental und kitschig hielten, und Leap of Faith habe ich sogar (zur Überraschung mancher) in ein Programm aufgenommen, bei dem das Votivkino in Wien damals die lokalen Kritiker jährlich dazu einlud, etwas für ihr Sommerkino zu nominieren. Nun konnte ich meine damalige jugendliche Begeisterung tatsächlich nicht mehr so richtig nachvollziehen, interessant aber ist der Film allemal. Steve Martin spielt Jonas Nightengale, einen Prediger und Religionsentertainer, der mit großem Betrieb (Busse, Lastwagen, riesiges Festzelt, Gospelchor) durch Amerika tingelt und bei einem old-fashioned revival die Landbevölkerung ausnimmt. Der Zufall zwingt ihn zu einem Stop in Rustwater, Kansas, einer typischen Kleinstadt mit großen wirtschaftlichen Problemen, zudem geplagt von einer langen Trockenheit. This town is deep in the crappers. Der Sheriff Braverman (ein sehr junger Liam Neeson steckt modisch noch tief in den Achtzigern) verfolgt die Miracles and Wonders-Show argwöhnisch, und verliebt sich dabei in Jane (Debra Winger!), die Jonas anfangs noch verteidigt. Sie steckt auch tief mit drin, denn sie sitzt im Übertragungswagen, die Show arbeitet mit allen, auch technischen Tricks, auch mit früher Computertechnik (überdeutlich steht neben den Bildschirmen, vor denen Jane die Show im Zelt steuert, ein Windows-Handbuch). Das Drehbuch von Janus Cercone setzt auf eine kluge Pointe: die fabrizierten Wunder von Jonas werden durch ein „richtiges“ überboten, und dann auch noch durch ein Naturwunder, denn es beginnt zu regnen. Die Hoffnung, dass Amerika in und an den ländlichen Kleinstädten genesen könnte, erfüllt sich in Leap of Faith tatsächlich durch einen affirmativen Übersprung. Das ist dann doch nicht blöd. (Amazon Online Rental)

Poet Dareshan Omirbajew Kasachstan 2021

Der neue Film eines meiner Lieblingsregisseure wurde von den europäischen Festivals anscheinend eher ignoriert. Weltpremiere war in Tokio, bei der Berlinale soll er nun im Forum gezeigt werden. Omirbajew erzählt von Dinar, einem jungen Dichter in Almaty, der gerade sein zweites Buch herausgebracht hat. Die Poesie hat einen zweifachen Stellenwert: als kulturelles Gut im Vergleich zu den neueren Entwicklungen in der Gesellschaft (Handys und Tablets), und als Trägerin nationaler Identität (Landessprache gegen das imperiale Russsisch). Von einem ehemaligen Mitschüler bekommt Dinar das Angebot vermittelt, die Lebensgeschichte eines Geschäftsmanns aufzuschreiben, für viel Geld: eine festschriftliche Biographie mit Ahnenkunde, der Mann stammt angeblich von Fürsten ab, und trägt eine traditionelle Mütze. Dinar soll seine betonte Anciennität literarisch adeln. Auf einer Lesereise (nach Semei, im Norden, an der Grenze zu Russland) denkt Dinar über diesen Auftrag nach. Dass er versucht ist, ihn anzunehmen, zeigt Omirbajew durch eine Szene, in der Dinar sich einen Cadillac vorführen lässt, und danach, weil der Verkäufer missbilligend auf seine Schuhe geschaut hat, neue Schuhe kauft. Die alten wirft er weg, man sieht ihn später aber noch öfter mit ihnen, das sind dann Traumszenen. Omirbajew macht das sehr gern, dass er immer wieder, nahezu unmerklich, in das „Innere“ seiner Protagonisten schlüpft und sich latent surreale Sachen ausdenkt. Das ist geradezu einer seiner Markenzeichen, wobei sein Stil insgesamt in seiner Lakonik und mit der ganz weit nach hinten geräumten, aber doch präsenten Komik zwischen einem extrem prägnanten und einem dann eben schon leicht fantasmatischen Realismus changiert. Zu den Traumszenen kommen in Poet auch noch Rückblenden, in denen vom Schicksal des Dichters Makhambet erzählt wird, der einen ähnlichen Auftrag wie den für Dinar im 19. Jahrhundert abgelehnt hat, und ermordet wurde. Omirbajew vollzieht mit diesen Rückblenden den Traditionsprozess in Sachen Makhambet nach, der Schritt für Schritt (vom fast vergessenen Grab in der Steppe bis zur Exhumierung seiner Gebeine während der Sowjetunion) bis zu einem Nationaldenkmal in der Gegenwart führt. Dinar können wir uns in einer Sukzession oder dem Verhältnis einer translatio zu Makhambet denken. Dass er schließlich nicht als Corporate Publisher für einen Oligarchen fungieren will, ist konsequent, er würde seine Ideale verraten. Wie sich seine Ideale zu denen Makhambets und den neuen Traditionalismen der kasachischen Elite verhalten, das muss in der Schwebe bleiben. Meisterwerk! (Festivalscope)

Inferno Dario Argento Italien/USA 1980

Die erste halbe Stunde ist fulminant. In New York kauft eine junge Frau namens Rose von einem Antiquar Kazanian ein Buch mit dem Titel The Three Mothers. Darin wird behauptet, dass die Welt von drei Müttern beherrscht wird, einer Mutter des Seufzens (mater suspiriorum), einer Mutter der Tränen (mater lacrymarum), und einer Mutter der Finsternis (mater tenebrarum). Freiburg, Rom und New York sind die Orte, die diesem Triumfeminat zugeordnet sind. Rose lässt sich von einem Hinweis leiten und klettert in einen Keller, in dem sie ein Loch findet, das in einen noch tieferen Raum führt, der vollständig unter Wasser steht. Weil ihr Schlüssel da hineinfällt, muss sie hinterher, in Kleid und transparenter Bluse, in einen unterweltlichen Raum, in dem die ersten Schocks warten. Schnitt nach Rom, wo Roses Bruder Mark Musikwissenschaften studiert. In einer großartigen Szene beschäftigt sich ein ganzer Hörsaal mit dem Gefangenenchor aus Verdis Nabucco – alle hören das Stück über Kopfhörer, nur eine provozierende, schöne Frau, die Mark mit Blicken herausfordert und eine Katze im Schoß hat, hat keinen auf. Kurz darauf läuft in einem Taxi eine irre Disco-Variante der Nabucco-Melodie. In Rom opfert Argento ein paar Nebenfiguren (großartige Bibliotheksszene vorher noch), Mark braucht er in New York, wo das Gebäude steht, auf das es ankommt: ein Haus mit schier endloser Unterkellerung. Mark muss da hinunter, währenddessen muss noch der Antiquar sterben (er wird von Ratten bei lebendigem Leib gefressen und dann noch ein wenig un- und dramaturgisch übermotiviert von einem herbeilaufenden Hotdog-Händler mit einem Kehlenschnitt erledigt), und eine Intrige zweier Hausbediensteter, die sich Hoffnungen auf Profit machen (später Auftritt von Alida Valli), erweist sich als nebensächlich. (Arsenal 35mm schwedische UT)

Black Bach Artsakh Ayreen Anastas/Rene Gabri Armenien 2021

2007 war Rene Gabri in Bergkarabach unterwegs, einer Gegend im Südkaukasus, die durch einen Nationalitätenkonflikt geprägt ist, in dem der Filmtitel eine Parteinahme ist: die vorwiegend armenische Bevölkerung sieht sich durch „die Türken“ kolonisiert, offiziell gehört Nagorny Karabach (so die russische Bezeichnung) zu heutigen Staat Aserbaidschan, Artsakh (Arzach) ist ein alter armenischer Name für ein unabhängiges Gemeinwesen in der Gegend. 2020 wurde diese Situation einer Kolonisierung mit kriegerischen Mitteln bekräftigt, Aserbaidschan verstärkte mit Drohnenangriffen seinen Zugriff. Gabri filmte 2007 die Menschen, die in Stepanakert und vor allem der Stadt Susa leben, immer noch unter dem Eindruck und mit den Folgen des Krieges von 1992, in dem es mehrere Pogrome gegen Armenier gab. Gabri filmte vor allem die Landschaft, oft aus fahrenden Autos, die Kinder, einfache Leute, elementare Äußerungen. Der Diskurs wurde später hinzugefügt: Kantaten von Bach verleihen den Bildern eine quasi religiöse Würde (vergleichbar der Weise, in der Pasolini mit Bach gearbeitet hat, etwa in Sopralluoghi in Palestina per il vangelo secondo Matteo), dazu kommen aus dem off gesprochene Texte von Gabri und seiner Partnerin Ayreen Anastas, in dem sich der Jargon des Kunstbetriebs mit einer Mystik der Indigenität oder ursprünglicher, ursprünglich legitimer Nationalität/Ethnizität verbindet. Im Abspann folgt eine Liste, die einen entscheidenden Kontext gibt: für Gabri/Anastas ist die Seite der Armenier in diesem Konflikt vergleichbar der von Rojava (dem kurdischen Autonomiegebiet und der gleichnamigen Staatsutopie), von Chiapas, und des besetzten Palästina. Artsakh ist also nicht nur der konkrete Ort, von dem man in dem Film viele starke Eindrücke (allerdings eben sehr impressionistisch) bekommt, sondern auch ein Locus oder Topos in einer Welt, die durch Kolonial- und Hegemonialkonflikte bestimmt ist. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass als Gegenseite nicht der despotisch verfasste Nachfolgestaat der Sowjetunion, Aserbaidschan, genannt wird, sondern „the Turks“. Arzach wird also vor allem auf Erdogans repressive Kurdenpolitik bezogen. (Arsenal Forum Expanded 2021 Nachholvorführung im Dezember)

Holy Beasts Israel Cardenas & Laura Amelia Guzman Dominikanische Republik 2020

Geraldine Chaplin spielt Vera V., eine alternde Schauspielerin, die nach Santo Domingo kommt, um einen Film des verstorbenen Jean-Louis Jorge fertigzustellen. Sie wird von einem Produzenten empfangen, steigt in einem schönen Hotel mit großem Garten ab, und beginnt mit den Vorbereitungen. Ein Kameramann trifft ein (gespielt von Luis Ospina, einer Legende des kolumbianischen Kinos), dann auch noch Udo Kier, der eine Hauptrolle spielt, einen karibischen Dracula. Ein riesiger Wassertank steht bereit, dort werden Tanzszenen gedreht, bald gibt es die ersten Toten unter den Tänzerinnen. Eine Party wird gefeiert (a la frivolité!), Filme von Jean-Louis Jorge werden gezeigt, auch solche, von denen die Welt noch nichts weiß. Er war ein Mann, der sich in die „mundo de la noche“ (in die Welt der Nacht) begab. 2000 wurde er getötet, Hintergrund war laut Wikipedia Homophobie. Holy Beasts zeigt die Filmwelt auf Sainte Domingue als eine latent koloniale Enklave, die schöne schwarze Hotelangestellte wird zur Tänzerin befördert, fällt dann aber auch dem Vampir Henry zum Opfer. Androgyne Figuren stehen im Mittelpunkt, das eigentliche Ereignis ist aber Geraldine Chaplin mit ihrem fleckigen Gesicht und ihren spindeldürren Körper. Wer sein Leben in Fülle lebt, wird niemals alt: dieser Satz, der zweimal fällt, wird in Holy Beasts – zugleich Hommage an Jean-Lous Jorge wie Palimpsest über sein Kino – sowohl auf eine unheimliche Weise bestätigt wie demeniert. (MUBI)

Outside Noise Ted Fendt Deutschland/Österreich 2021

„Diese komischen leeren Tage“: Mit irgendwas werden sie dann doch gefüllt, in Outside Noise mit Begebenheiten aus dem Leben von ein paar jungen Frauen in Wien und in Berlin. Das sind auch die Städte, in denen Ted Fendt eine zweite Heimat gefunden hat oder vielleicht eher mit Filmen wie Outside Noise sucht. Man sieht ihn einmal auf einer Akademikerparty, wie er unbeholfen respektive selbstironisch unpassende Touistentips für Wien gibt. Daniela und Mia werden von Daniela Zahlner und Mia Sellman gespielt, beide werden auch als Koautorinnen mit Ted Fendt genannt, Durchlässigkeit zwischen Kino und Leben werden damit zumindest suggeriert. Daniela und Mia leben ein wenig in den Tag hinein, Schlafprobleme wirken in das Wachsein nach, eine Idee von Liminalität (zwischen Tag und Nacht, Offenheit und Festlegung, ...) scheint für die Geschichte leitend zu sein. Studium spielt immer wieder am Rand eine Rolle, zum Beispiel eine Arbeit zu Übergangsritualen, ein weiteres Indiz für das Interesse des Films. Die jungen Frauen sitzen aber auch oft einfach herum, reden über Museumsbesuche, es gibt einen maximal reduzierten Cliffhanger-Plot über 50 ausgeborgte Euro. Sie teilen auch das Bett, wohngemeinschaftlich, aber nicht deutlich queer: „Hast du genug Decke?“ Eine Grundstimmung von Unentschlossenheit sucht in Outside Noise nach einer Form, die Vermeidung von Festlegung auf die fragile Dauer eines Sommers zu bringen. Einen Literaturhinweis aus dem Film habe ich aufgegriffen: Die Schule der Dummen von Sascha Sokolow ist schon auf dem Stapel. (Unknown Pleasures online Preview)

Foundation David S. Goyer Josh Friedman USA 2021 10 Folgen

Viele interessante Themen tauchen auf: die genetische Dynastie, die sich durch seelenlos identische Reproduktion von motherless atrocities in einer imperishable permanence erhalten möchte, die dann aber trotzdem in eine Krise der Indidividualität stolpert. Die Rolle der Mathematik (ordinal analysis): math is undeniable, außer es hat eine junge Frau eine Intuition, das ist dann höhere Mathematik, nämlich erzählerische Freiheit. Vorlage ist das Riesenwerk von Isaac Asimov, das allerdings nicht nur auf (vorerst einmal) zehn Folgen einer Staffel gebracht werden muss, sondern das auch in alle Richtungen die Fühler ausgestreckt hat: zu Star Wars wie zu Game of Thrones, also zu galaktischem, antiimperialistischem Anything Goes wie zu Kulturgründungsfantasy. Der ganze Kampf gegen das Empire ist komplett austauschbar oder intertextuell transportabel: eine indigene Bogenschützin, die als Great Huntress ein Rebellenschiff sucht (eine Invictus), dagegen die „Beschützerin“ (Warden) Salvor Hardin als Waffenschamanin auf der guten Seite, könnten in jeder anderen SF-Großserie genauso vorkommen. Dass acht Folgen lang ein Vault (ähnlich wie die Stele in 2001) herumsteht, aus dem dann in einem wichtigen Moment der große Prophet, der Psychohistoriker Hari Seldon tritt, war fast lächerlich in seiner Enttäuschung der Hoffnung auf interessante SF-Metaphysik. Spannend fand ich die Figur der Demerzel, die den mittleren Empire (Brother Day) zuerst brutal auf sich selbst verweist (auf seine Leere, die er beim Ausbleiben einer Vision nach seinem auch ein wenig lächerlichen Wüstenpilgerweg in einer matriarchalen Maiden-Welt begreifen musste), und die dann der identischen Reproduktion des Empire einen starken Gegenentwurf zeigt: ihren schwarzen Roboterkopf, von dem sie sich die Haut reißt. (Apple TV)

This Rain Will Never Stop Alina Gorlova Ukraine 2021

Andriy Suleyman ist der Sohn einer ukrainischen Mutter und eines kurdischen Vaters, er landet deswegen nach der Flucht aus Syrien in der Gegend von Luhansk, einer Stadt, die 2014 in die Hände der russischen Aggression in der Ost-Ukraine fiel. Alina Gorlova hat Andriy über längere Zeit begleitet, seine Tätigkeit für das Internationale Rote Kreuz verhalf ihr offensichtlich zu einem embedment, sie hatte Zugang zu Konfliktorten, zum Beispiel in einer Szene an der heutigen Konfliktlinie zwischen der Ukraine und den Separatistenregionen. Ästhetik ist Gorlova wichtiger als Informationen, man kriegt nicht immer leicht mit, wo sich der Film mit Andriy gerade befindet. Teile seiner Familie kamen nach Deutschland, wo es einmal eine Hochzeitsszene gibt, eines der zehn Kapitel. Syrien und der Irak sind weitere Schauplätze, und die Ukraine. Andriys Vater stirbt und wird in der Heimat begraben. Die Beziehung zu einer jungen Ukrainerin geht zu Ende. Andriy bleibt inmitten der Szenen weitgehend verschlossen, er ist das stille Zentrum der Erzählung. Zu Beginn und am Ende zeigt Gorlova queere Paraden in Deutschland, als Zeichen für einen Individualismus in Sicherheit und Freiheit, von dem Andriy und seine Angehörigen weit entfernt sind, durch Kriegserfahrungen, aber auch durch kulturelle Prägungen. Die Stilisierungen (viele Szenen sehen aus wie Science-Fiction von einem unwirtlichen Planeten) fand ich nicht immer einleuchtend, insgesamt entsteht dadurch aber ein Film mit einer ganz eigenen Form: Distanzierungsgesten vom planen Reportageformat verselbstständigen sich hier zu einem ambivalenten Dokumentarkunstwerk. (Festivalscope)

Down with the King Diego Ongaro USA 2021

Ein Rapper namens Money Merc (bürgerlich: Mercury Maxwell) zieht sich in ein Haus in the middle of the woods zurück, um an neuem Material zu arbeiten. Er hat offensichtlich eine Schaffenskrise, vielleicht sogar eine Depression. Es fehlt ihm der flow: right now it ain’t in me. In das Leben der weißen Nachbarn ist er eingebunden: er hilft Bob beim Verarbeiten eines geschlachteten Schweins, erfährt von ihm, dass man beim Herausschneiden der Eingeweide vorsichtig sein muss, denn stinkende Flüssigkeiten verderben das Fleisch. Das Detail wird später noch einmal bedeutsam. Einmal sieht man Merc bei einem muslimischen Gebet, damit bekommt der Umgang mit dem Schwein einen Akzent. Er freundet sich mit Michaele an, die er in einem lokalen Baumarkt trifft, sie hat eine Sucht überstanden (Oxy, das Naheliegende dringt nur kurz aus der Scham darüber hervor), sie spielt Klavier (!) – ein unwahrscheinliches Paar, das trotzdem völlig überzeugend wirkt. Der Manager macht Druck, per Facetime und dann auch persönlich. Bei einem Instagram Live sind gleich ein paar tausend Follower zugeschaltet, in der Welt draußen ist Merc richtig populär. Er lässt sich aber nur widerwillig aus seinem place to hide hervorlocken. Der Rapper Freddie Gibbs ist groß in der Hauptrolle: er spielt Merc als einen dorky guy, der aber auch die ganze Zeit die Kunstfigur, die er nicht zuletzt durch seinen Slang darstellt, bekräftigen muss. Vielleicht zermürbt ihn auch einfach diese Arbeit, einen Typen zu markieren, der er nicht ist. Seine Tracksuits und Sneakers im Stall von Bob oder im Schweinekoben geben einen starken Kontrast, zugleich gibt es in Down with the King offensichtlich Aspekte einer post racial society, die vor allem durch den Statusdruck von Merc, der selbstverständlich vor allem mit dem N-Wort von sich spricht, selbst gefährdet ist. Sehr gut dann auch das Ende, eine Zeichenhandlung, die bestens in den lokalen Gegebenheiten verwurzelt ist. Nachdenken könnte man darüber, ob Freddie Gibbs mit der Figur des verunsicherten Rapstars auch die Vergewaltigungsanklage reflektiert, der er 2016 in Österreich gegenüberstand. Er wurde mangels klarer Beweise freigesprochen, vielleicht ist Down with the King zwar kein Geständnis, aber ein Zeugnis dafür, dass ihn die Sache beschäftigt. Männlichkeit und ihre Verunsicherung sind jedenfalls ein wesentlicher Teil dieses exzellenten Films. (Unknown Pleasures online Preview)

All Light, Everywhere Theo Anthony USA 2021

Eine Betriebsführung bei der Firma Axon in Scottsdale, Arizona, bildet die Achse dieses essayistischen Dokumentarfilms. Axon baut Taser (Elektroschocker) und Bodycams für den Polizeieinsatz, auch Anthony dreht mit einer solchen Kamera. Axon arbeitet an einem umfassenden Security-Dispositiv: Waffen und Kameras (und Drohnen) stellen die Polizei technologisch neu auf. Anthony filmt auch eine Schulung für die Verwendung von Bodycams in Baltimore, dazu eine Community-Debatte über die Genehmigung einer Überwachung des urbanen Raums aus der Luft (beworben mit „Google Earth live“). Der Tod des jungen Afroamerikaners Freddie Gray in Baltimore 2015 war wohl so etwas wie ein Auslöser für die Recherchen von Anthony. In einem zweiten Strang des Films greift er weit in die Geschichte der Technisierung des Sehens aus, mit zum Teil durchaus geläufigem Material. Versuche im Jahr 1874, eine Venus-Passage vor der Sonnenkugel zu dokumentieren, brachten bei Pierre Janssen ein Ergebnis, das manche als den ersten (Trick-)Film bezeichnen. Anthony kommt dann naheliegenderweise auf Mareys Kamera-Gewehr, auf die fotografischen Registrierungs- und Typisierungspraktiken bei Bertillon und Galton, auf die (mit Hilfe von Tauben) fliegenden Kameras von Neubronner. Und ganz zu Beginn auf sein eigenes Auge, auf den Sehnerv als die Lücke zwischen Welt und Subjekt. All Light, Everywhere endet bei digital gemorphten Gesichtsbildern der Gegenwart, und bei Axons umfassender, privatisierter Forensik: Weapon / Eye / Archive / Interpretation / Automation. Also bei der Algorithmisierung der juristischen Wahrheitsfindung. (Unknown Pleasures online Preview)

Crossing Delancey Joan Micklin Silver USA 1988

Als ich 2012 ein kleines Buch über Seinfeld schrieb, hätte dieser Film unbedingt berücksichtigt gehört. So bin ich erst jetzt auf ihn gestoßen, besser hätte ich das Jahr kaum ausklingen lassen können. Amy Irving (damals übrigens für ein Weilchen die Ehefrau von Steven Spielberg) spielt Isabelle Grossman, ein junge Frau, genannt Izzy, 33 Jahre alt, in dem „last real bookstore“ von New York organisiert sie die „most prestigious reading series“ in der Stadt. Die Arbeit macht auch einen großen Teil ihres sozialen Lebens aus, sie trifft dort den Schriftsteller Anton Maes, einen für uns natürlich rasch als lächerlich durchschaubaren Filou mit Titeln wie The Cave Dweller oder Skirt Tales. Izzy kommt aus einer Welt, in der die Röcke eigentlich lang sein müssten: no naked legs, predigt ihre Großmutter Bubbie Kantor (großartig: Reizl Bozyk). Eine anzügliche Saunaszene mit zwei Afroamerikanerinnen weist Izzy die Richtung, sich für die Sitten von Anton vielleicht aufgeschlossener zu zeigen – oder sich zu verlieben. Bubbie hat aber andere Pläne. Sie beauftragt eine Heiratsvermittlerin (Sylvia Miles spielt diese Hannah so, dass sie auch jederzeit im Satriale’s der Sopranos oder neben Joe Pesci bei Scorsese bestehen hätte können), und so wird Izzy mit Sam bekannt gemacht, einem zuerst ein wenig farblos wirkenden Mann, der aber eine schöne, augenöffnende Geschichte erzählt. Er hat einen Laden für pickles, also eingelegte Gurken und Sauerkraut und derlei. Als Izzy ihn bei der zweiten Begegnung mit den Händen im Essig sieht, ist damit ein Aspekt des Widerstands markiert, den diese romantische Komödie überwinden muss. Das geschieht dann alles mit schöner Gemächlichkeit, wobei ein retardierendes Moment mit dem Schriftsteller schon an die Grenzen des zumutbaren Aufschubs geht (Drehbuch: Susan Sandler, sie ist als Molly auch im Film zu sehen, hatte danach anscheinend keine Karriere im Filmgeschäft). Crossing Delancey ist auch einer der schönsten Filme über New York, die ich kenne: die Blicke aus den Wohntürmen auf die Williamsburg Bridge, die jüdischen Läden, einfach der ganze Flair einer Gegend, die sich seither enorm verändert hat. Als ich zum ersten Mal nach New York kam, wohnte meine damalige Gastgeberin in der Clinton Street, „between Houston and Delancey“, das war damals meine Addressinstruktion. Ich bin also auch ein bisschen nostalgisch. Silver und Sandler, die Regisseurin und die Autorin, machen mit vielen Anspielungen und Details den kulturellen und historischen Ort ihres Films deutlich: man hört die frühen Run DMC (It’s Like That), das Guerilla Women’s Artist Collective wird erwähnt, man liest das Interview Magazine, im Abspann singen die Roches eine Nummer namens Lucky, die eigentlich ein Welthit hätte werden können. Und Izzy wird natürlich mit Annie Hall in Verbindung gebracht. Von Joan Micklin Silver werde ich mir im neuen Jahr das Gesamtwerk anschauen. (Datei, für Unknown Pleasures vorgesichtet)

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