Ruf der Trommeln
Lektüre: "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet
Haiti interessiert mich schon länger aus verschiedenen Gründen. Thomas Harlans Film Souvenance und das Buch Hegel und Haiti von Susan Buck-Morss waren wesentliche Anstöße. Der Roman Töchter Haitis (1954) von Marie Vieux-Chauvet führte mich nun in eine Periode, über die ich bisher wenig wusste: Mitte des 20. Jahrhunders, die Zeit nach dem Ende der amerikanischen Besatzung, als ein Volksaufstand (angeführt von marxistischen Studenten) die Machtverhältnisse umzustürzen versuchte. Die Erzählerin im Roman ist eine junge, einsame Frau namens Lotus, eine Mulattin der Hautfarbe nach, das ist für ihre Position genauso entscheidend wie der Umstand, dass sie von ihrer Mutter zwei Häuser geerbt hat, wodurch sie in der sozialen Hierarchie weit oben steht, «mit meiner hellen Haut und meinem stark gelockten Haar» ist sie äußerlich wie dem Besitzstand nach «bürgerlich». Ja, dieser Konnex wird schließlich sogar ausdrücklich hergestellt, als Ressentiment: «die Bourgeoisie, das sind die Mulatten».
Von der Mutter hat sie auch eine psychische Labilität geerbt, «Wahnsinn» als Disposition, mit der Vieux-Chauvet immer wieder spielt. Lotus sieht Zeichen an der Wand, sie projiziert und lässt auf sich projizieren. Über eine Magd, die nicht lange bleibt, heißt es: «Sie redete über meine nächtlichen Ängste, erzählte in der Nachbarschaft herum, mein Zimmer sei mit Vodouzeichen geschmückt und ich selbst oft von einem loa besessen, was dazu führte, dass mich schließlich alle für eine Art mambo hielten.» Vodou ist im Hintergrund immer präsent, meist bloß als «frenetischer Ruf der Trommeln … vom Hügel herab». Lotus tanzt nachts im Zimmer «den Vodou», das ist dann «das schwarze Blut, das in meinen Adern fließt». Allerdings steckt da auch eine Aneignung dahinter, denn «Vodou ist nichts für Mulattinnen». Sie geht damit also über ihre Klasse hinaus. Einmal tanzt sie auch (nach ein paar Gläsern Rumpunsch, also in einer Transgression) einen besonders «schwarzen» Tanz, einen congo.
Mit einem jungen Mann namens Georges lernt sie die soziale Frage auf Haiti kennen, sie begreift sie, ich würde sagen, geschlechtstypisch: ein «in banalen Fantasien schwelgendes Mädchen» wird konkret. Sie öffnet ihr Haus für das Engagement, sie wird «Kampfgefährtin», nun auch erotisch akzeptabel für den radikalen Georges mit seinen hohen Ansprüchen. Lotus spielt verschiedene Modelle durch in ihrem Versuch, «endlich durch beispielhafte Werke ein Zeichen meiner Anwesenheit auf Erden zu hinterlassen». Durch Georges findet sie Zugang zu anderen Teilen der Gesellschaft – schon die Sprache des Romans (Französisch statt Kreolisch) ist Ausdruck ihrer Distanz. Marie Vieux-Chauvet erzählt vom Blick einer jungen Frau, die Gesellschaft als Aufgabe wahrnimmt, zugleich auch ihre sexuelle Identität in diesem Engagement findet, nachdem sie lange ihre Verehrer hingehalten hatte: «meine ärgsten Feinde waren die Männer, denn die hatten mir meine Mutter gestohlen». Die Mutter, Alleinerzieherin, hatte sich prostituiert, um der Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Lotus begreift das erst spät, da will sie ihr besseres Leben schon dafür verwenden, um das Volk aus dem Elend zu befreien.
Ich lese den Roman auch mit dem Interesse, besser zu begreifen, warum Haiti so schwierige Lebensbedingungen für seine Bevölkerung hat, ein bisschen mehr als 200 Jahre nach der ersten Revolution gegen den Versklavungskolonialismus. In der changierenden Selbstwahrnehmung, in der die Hautfarbe alles zwischen schwarz und weiß («weil die Natur mich mit einer weißen Haut geschaffen hat») sein kann und einmal sogar der anstößige Ausdruck «Ihr hellhäutigen kleinen Negerinnen» fällt, kann man die Selbstzweifel einer Oberschicht erkennen, die sich nach der Revolution an die Stelle der französischen Herrschaft gesetzt hat. Lotus sehnt sich nach der anderen Seite, schon Georges, wie sie ein Mulatte, bleibt aber als Figur ein wenig vage, während sie ihre Selbstwerdung vor allem religiös begreift – sie entwickelt sich zu einer Heiligen. «Die großen Kunstwerke einer Revolution sind die Männer, die sie hervorbringt», wird Romain Rolland einmal zitiert, genauer dessen Vorwort zu einer französischen Ausgabe eines Sowjet-Romans von Nikolai Ostrowski. Lotus kann man in Abgrenzung dazu ebenfalls als eine Hervorbringung der haitianischen Revolution und deren Kompromissbildungen und Übervorteilungen verstehen. Konsequenterweise ist Ambivalenz der vorherrschende Eindruck. Und dieser Duktus macht den Roman groß.
Einem ausführlichen Glossar kann man viele wichtige Informationen über Haiti entnehmen. Begrüßenswert finde ich, dass die Übersetzung sich nicht über den Horizont des damaligen Sprachgebrauchs hinweg setzt, also nichts umschreibt. Töchter Haitis ist ein historischer Roman, der eine Periode der haitianischen Geschichte in den Begriffen nachvollziehbar macht, die sich eine nur äußerlich privilegierte Frau davon machen kann.
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