Seltsame Wiederholungen

Lektüre: "Der schwarze Mönch in Varennes" (1984) von Georges Dumézil

Auf den Hellseher Nostradamus stieß ich im Herbst 2018 wieder einmal, als ich den Roman 2054 - Putin decodiert von Alexander Rahr las, und dann auch für den Standard etwas darüber schrieb. Bei dem bekannten Putin-Versteher dienen die Orakeltexte aus dem 16. Jahrhundert für eine nur notdürftig als Science-Fiction ausgewiesene geschichtstheoretische Konstruktion, die in Russland das Ziel der Menschheitsgeschichte sieht. Putin ist der große Vorbereiter dieser Periode, die endlich den liberalen Demokratien ihren Platz als Zwischenspiele im Zeitenlauf zuweisen wird.

Nicht nur angesichts dieser kruden Spekulation trifft es sich gut, dass im selben Herbst auch ein französisches Buch wieder auf Deutsch zugänglich wurde, das wesentlich aufgeklärter mit Nostradamus umgeht. Es stammt von dem legendären Anthropologen Georges Dumézil, und wichtiger als der Titel Der schwarze Mönch in Varennes ist der Untertitel: Nostradamische Posse. Das französische Wort ist sotie, ein Genrebegriff, den man auch mit Narrenspiel übersetzen könnte.

Der Titel ist ein Zitat aus dem 20. Vierzeiler (Quatrain) aus der neunten Centurie bei Nostradamus:

De nuict viendra par la forest de Reines,
Deux pars vaultorte Henre la pierre blanche.
Le moyne noir en gris dedans Varennes,
Esleu cap cause tempeste, feu sang tranche.

Ich zitiere eine populäre deutsche Übersetzung:

Nachts wird durch den Wald von Reims kommen,
zweigeteilt, raubgierig* Herne (?) der bleiche Stein,
der Mönch, schwarz in grau, in Varennes
gewählter cap. (?) löst Sturm, Feuer, Blut, Abstechen, aus.

Die beiden Fragezeichen sind eine Untertreibung, denn diese vier Verse geben hinreichend Rätsel auf. Dumézil versammelt für seinen in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verlegten Lösungsversuch zwei Männer: einen todkranken Universalgelehrten und seinen jungen Freund, der als Leser-Einäscherer (lecteur-crémateur) sukzessive dessen Manuskripte dem Feuer übergibt. Nur mit dem Nostradamus-Thema hält man sich eine Weile auf. Später werden noch zwei Nebenfiguren hinzugezogen.

Die schrittweise Entzifferung muss ich hier nicht im Detail nacherzählen, es handelt sich um ein philologisches Virtuosenstück, das umso brillanter ist, als Nostradamus ja hier mit viel onomastischer und anderer Raffinesse ein Sinn unterstellt wird, den dieser ja hinter diesen Rätseln gerade versteckt hatte - weil er natürlich von der Zukunft nichts wusste. Dumézil treibt es also mit den historischen Verifizierungen, von denen die Nostradamus-Exegese lebt, auf die Spitze: Der Vierzeiler handelt von jener Nacht in Varennes, in der die Flucht des französischen Königs Ludwig XVI und seiner Frau Marie Antoinette vor der Revolution endete.

Im Detail ist die Sache allerdings noch viel verschachtelter, wie das folgende Zitat deutlich macht:

„Die Geschichte hat seltsame Wiederholungen. Mehr als 1000 Jahre zuvor war im Laufe einer Jagd in diesem selben Wald von Bondy einer der letzten Merowinger, Childerich II, von aufständischen Vasallen ermordet worden, desgleichen seine Frau, die Königin Blitilde (oder Bilichilde). Seine Verbrechen bestand darin, dass er versucht hatte, die von den Hausmeiern usurpierte Macht zurückzuerobern. Eine letzte und vergebliche Anstrengung: nach diesem Doppelmord sollte das erste Geschlecht sehr bald dem zweiten weichen, dem der Karolinger. In jener Nacht von 1791 hat die kapetingische Königin, die Seele des königlichen und royalistischen Widerstands, keine Zeit, an das Schicksal von Blitilde und der Merowinger zu denken. Bei dieser Rast in Bondy ahnt sie auch nicht, dass einige Monate später der König und sie selbst das Abenteuer unter dem Fallbeil beschließen werden, zu dem ihr Freund Fersen ihr und ihrer Familie geraten hat in der Hoffnung, die von den Volksversammlungen und Parteien mehr und mehr herabgewürdigte königliche Macht wieder zu stärken. So jedoch wollte es die Geschichte.“

So jedenfalls will es die Wort- und Buchstabenverdreherei von Dumézil. Nach erschöpfender Ausdeutung (oder „Autopsie“) der vier Verse kommt der naheliegende Einwand:

"Wer aber garantiert Ihnen, dass es nicht ihre Intelligenz oder ihre persönliche Kunst, zu Beginn unseres Jahrhunderts über die Ereignisse des siebten und des 18. Jahrhunderts im Nachhinein gut unterrichtet, diese Gedankenassoziation selbst hervorgebracht hat und sie nun in einen Text projiziert, in den sie sich zwar gut einfügt, der sie jedoch nicht erzwingt?"

Dass es diese Garantie nicht gibt, sondern nur eine spielerische Wissenschaftlichkeit, wie Dumézil sie hier als poetische Steigerungsform der aus dem 19. Jahrhundert kommenden Universalgelehrsamkeit präsentiert, das ist die ganze Pointe des Buchs. Nostradamus wird als prophetisches Genie erwiesen, nicht weil er „in direkter Verbindung mit dem Gehirn des künftigen Ludwig XVI“ gestanden wäre, sondern weil er Zugang zu "Datenbanken" außerhalb des Gehirns hatte: „notre prophète, imbibé, submergé, des données“, ein Prophet, vollgesogen mit und überflutet von "Daten".

Zu diesen Daten zählt schließlich auch noch eine Passage aus der Römischen Geschichte von Titus Livius, die Nostradamus ab- und auf die Zukunft hingeschrieben hat.

"Sollten sich in seinen berühmten Neuronen tatsächlich so komplexe Operationen abgespielt haben wie diejenige, die den Quatrain von Varennes hervorbrachte, dann darf man vermuten, dass die mannigfaltige Lektüre, die dort gärte, von Zeit zu Zeit ein wenig von ihrem Honig in die Zukunftsflut mischte, die sich in sie ergoss."

Hier schließt sich der Kreis. Nostradamus hat gar keine Visionen, er schreibt ab, und um, und er ist dabei ein Dichter wie Mallarmé oder Baudelaire, meint zumindest einer der vier Interpreten. Jedenfalls ist Nostradamus ein Dichter, der durch unklare Prophezeiung die Offenheit - und nicht die Vorbestimmtheit - des historischen Prozesses deutlich gemacht hat. Und Dumézil beweist diese Offenheit, indem er vier Verse so überzeugend auf ein konkretes Ereignis hin deutet, dass man zum Deterministen werden müsste, wäre der eigentliche Beweis dann nicht doch der des Gegenteils: Die Beziehung zwischen Orakel und Erfüllung verläuft nicht in eine Richtung, sondern in alle erdenklichen.

Ein klügeres Buch über die Wege der Geschichte habe ich seit langem nicht gelesen.

Georges Dumézil: Der schwarze Mönch in Varennes. Nostradamische Posse und Divertissement über die letzten Worte des Sokrates. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Bibliothek Suhrkamp 2018, 152 Seiten

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Kommentare

Kommentar von Rahr |

Nostradamus wird in unserer Gegenwart als Vertreter der durchgeknallten Literatur gesehen. Frühere Forscher haben sich aber weitaus ernsthafter mit seinen Texten befasst. Und sie wussten warum. Der französische Seher hat in der Tat zeigen wollen, dass sich Grundzüge der Menschheitsgeschichte in einem bestimmten Rhythmus wiederholen. Für Historiker eigentlich faszinierend. Was das Buch „2054: Putin decodiert“ angeht: hier geht es nicht um Putinversteherei, sondern um einen ernsthaften Versuch der Entzifferung des Briefes des Sehers an den französischen König Heinrich II. Russland scheint, neben den USA am Ende der Chronologie, die Geschichte Europas dann mitzubestimmen.

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