Mysterium der Erbarmung
Joseph Hanimann über Charles Péguy: "Der Unzeitgenosse"
Auf Charles Péguy bin ich unlängst wieder gestoßen, weil ich mit Bruno Dumont in einem Interview zu seinem Film Ma Loute auf ihn zu sprechen kam. Die Spannung zwischen einem „profonden“ und einem urbanen oder modernen Frankreich wird dort auf groteske Weise zelebriert. Péguy, der aus der Orléans kam und mehrfach Wallfahrten zu Fuß von Paris nach Chartres machte, hing an den Erfahrungen seiner Kindheit. Er schrieb einmal, er würde gern Texte so schreiben, „wie man Stuhlbezüge vernäht“, womit er auf das Handwerk seiner Mutter anspielte.
In seinem intellektuellen Porträt von Péguy kommt Joseph Hanimann mehrfach darauf zurück, dass das zeitliche Verhältnis zwischen dieser (lebenslangen) Kindheit und den anderen Feldern, die es in der Stadt Paris mit ihrem literarischen Betrieb gab, keines der Ablöse ist, sondern dass es in eine „Zeitimmanenz“ aufgehoben wurde, in ein Geschichtsverständnis, das nicht an Kausalitäten oder Genealogien interessiert ist.
Péguy war deswegen wohl auch nicht daran gelegen, Jeanne d’Arc (über die er zweimal ein großes dramatisches Werk veröffentlicht hat, das zweite die Überarbeitung des ersten) für seine Gegenwart zu erschließen, sondern sie wohl eher („für die Kleinen“, also für diejenigen, die dafür nicht zu sophistiziert sind) in ihrer Fremdheit nahe kommen zu lassen. Dumonts Film, der von Péguys Das Mysterium der Erbarmung ausgeht (eine neuere deutsche Übersetzung von Le mystére de charité de Jeanne d’Arc gibt es nicht, die es bei charité vielleicht mit einem anderen Wort versucht hätte), möchte das „Herz von Jeanne“ nahebringen.
Das Buch von Hanimann widmet sich gründlich allen Fragen, die sich bei einer Beschäftigung mit Péguy stellen: vor allem sein Verhältnis zum Sozialismus (von dem letztlich auch sein starkes Engagement in der Dreyfus-Affäre bestimmt war), seine immense publizistische Arbeit mit der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift Les cahiers de la Quinzaine, die er im Alleingang herausgab und häufig auch selbst vollschrieb (wodurch Hanimann sich zu einem gelegentlichen Verweis auf Karl Kraus und dessen Politiken inspiriert sieht), sein Bekehrung zu einem Christentum, das ihm nicht in die Wiege gelegt war, und sein schließlicher Wunsch, „in Weimar einzumarschieren“, der ihm nicht nur nicht erfüllt wurde, er kam im Gegenteil gar nicht richtig hinein in den Krieg, und fiel ihm da 1914 auch schon zum Opfer.
Wegen seiner späten Konversion zum Christentum, mehr noch aber wohl wegen seines widerspenstigen Fundamentalsozialismus, der sich gegen nahezu alle realpolitischen Entscheidungen von (irgendwann ehemaligen) Freunde wie Jean Jaurès wandte, wurde Péguy meistens eher für rechte Politik reklamiert. Dass das ein Missverständnis ist, macht Hanimann in seinem sehr lesenswerten Buch vor allem deutlich.
Ich werde in der nächsten Zeit noch ein paar Mal auf Péguy zurückkommen, der mich auch im Zusammenhang meiner Beschäftigung mit Godard interessiert (für den das Geschichtsbuch Clio. Dialogue de l'histoire et de l’ame paienne sehr wichtig ist). Anlässlich der Premiere von Dumonts Jeannette in Cannes in der Quinzaine werde ich jetzt erst mal die Vorlage dazu lesen.
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