Das Scheitern des Joe Zangara

Lektüre: "Das Orakel vom Berge" (1962) von Philip K. Dick

Die Werbung für Oliver Hirschbiegels Film Elser spielte unlängst ein wenig ungeschickt mit den Möglichkeiten der alternativen Geschichtsschreibung: "Er hätte die Welt verändert". Das trifft zu, allerdings bleibt dabei unklar, welche Welt gemeint ist. Unsere jedenfalls nicht, wenngleich es wohl genau so gemeint ist. Die Welt, in der Elser aktiv war, hätte er mit einem erfolgreichen Anschlag auf Hitler sicher verändert, das Ausmaß der Veränderung ist jedoch vollkommen unklar. Hätten die Nazis nach Hitler vielleicht eine noch radikalere Politik gemacht, sich mit halb Polen zufriedengegeben und mit Stalin gemeinsam die Juden vernichtet?

Mir ging das durch den Kopf, während ich Philip K. Dicks Das Orakel vom Berge las, einen der berühmtesten Romane, in dem ein anderes 20. Jahrhundert entworfen wird. Dort gibt es auch eine Elser-Figur, allerdings eine mit negativer Wirkmacht: Ein Joe Zangara ermordet Franklin D. Roosevelt, der somit nicht mehr in die Lage kam, „ein ausgesprochen starker Präsident“ zu werden. „Genauso stark wie Lincoln.“ Die USA gehen durch Joe Zangara geschwächt in den Zweiten Weltkrieg, die Nazis gewinnen, teilen sich die Welt mit den Japanern auf, die an der Westküste, wo die Geschichte des Buches im Wesentlichen spielt, ein kultiviertes Besatzungsregime unterhalten.

Der Clou von Dicks kontrafaktischem Szenario ist natürlich, dass er den tatsächlichen Verlauf der Geschichte als fiktionalen Entwurf in seine negative Vision eingebaut hat: Ein Schriftsteller namens Hawthorne Abendsen, eben The Man in the High Castle, von dem im amerikanischen Originaltitel die Rede ist, hat einen Roman darüber geschrieben, was gewesen sein könnte, wenn Joe Zangara damals nicht getroffen hätte. Diesen Roman Die Plage der Heuschrecke müsste sich jemand einmal die Mühe machen, noch zu schreiben - aber das wäre ein bloßes Textsortenexperiment, denn tatsächlich ist dieses Buch längst geschrieben, es sind nur viele, viele, von Theodor Plivier bis Wassilij Grossman, um nur zwei zu nennen. „Im Buch halten sie (die Russen) den Vormarsch der Deutschen an irgendeiner Stadt an der Wolga auf. Wir haben von der Stadt noch nie gehört, aber es gibt sie. Ich habe im Atlas nachgesehen.“ Das sagt jemand in einer Welt, in der Stalingrad nur eine ausgedachte Rolle in der Geschichte hat.

Neben dieser brillanten dramaturgischen Idee, den Plot von Das Orakel vom Berge als Fahrt zum Urheber eines Buches zu gestalten, der wie ein Prophet in einem furchtbaren Paralleluniversum (die Endlösung wird in Afrika großflächig fortgesetzt, die Deutschen haben die Bombe, ein Atomschlag gegen Japan ist in Vorbereitung) die gedankliche Möglichkeit am Leben erhält, es könnte alles auch anders sein, fand ich eine zweite motivische Spur fast genau so spannend.

Sie betrifft den Wert von Kunst, der anfangs in Entsprechung dazu gesehen wird, wie sie eine unterworfene Kultur repräsentiert. Der Antiquitätenhändler Childan, eine der Hauptfiguren des Buches, verkauft an die Japaner wertvolle Americana. Waffen aus dem Bürgerkrieg und ähnliche Sachen, alles also, was für das authentische Amerika steht, das nun japanisch beherrscht wird. Dieser Handel gerät durch eine großen Fälschungsskandal in eine grundlegende Krise, aus der ein neuer Typus von Objekten herausführt: „Metallwirbel (…), vage Formen, die eher etwas andeuteten, als dass sie es darstellten“, „gestaltlose Schmuckstücke“. Sie werden von dem Metallpolierer Frank Frink hergestellt, der davor im Nachbau historischer Pistolen tätig war. Ohne eigentliche Intention gelingt Frink der Objekttyp, der schließlich sogar die Macht des Orakels, des mythischen I Ging, überwinden hilft.

Das Orakel vom Berge ist auf dieser Ebene eine der besten mir bekannten Säkularisierungsgeschichten: eine Überwindung des Gegenstandsfetischismus durch ein Objekt ohne Idee und ohne Detail, wie man in Anlehnung an Hans Blumenbergs Beschäftigung mit Paul Valérys Eupalinos (1923) sagen könnte. Es hilft zwar, das belastende I Ging durch das abstraktere Om zu ersetzen, aber das ist nur eine Deutung einer der Figuren im Roman. Das letzte Wort in diesem Zusammenhang bei Dick ist ein poietisches: „Dann nahm er (Frank Frink) auf einem Hocker Platz und machte sich daran, die Gussrückstände von den Schmuckstücken zu entfernen.“

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