Hecken schützen

Notizen zu dem Thriller "Die Mauer" von Max Annas

In den Erinnerungen von Manés Sperber an seine Kindheit in einem ukrainischen Städtel habe ich neulich wieder einmal dieses romantheoretische Motiv vom Absprung hinter den Linien des sorgfältigen Establishing Shots gelesen. Er erklärt "mit dem Einfluß der Filmkunst die Neigung des modernen Romanciers, seine Leser gleichsam mit Fallschirmen mitten in einer ihm unbekannten Landschaft, in einer unvorhergesehenen Situation landen zu lassen". Es traf sich gut, dass ich zur selben Zeit auch den Thriller Die Mauer von Max Annas las, der ziemlich genau das tut, was Sperber als Programm für seine eigene Arbeit ausgegeben hatte. Die "unbekannte Landschaft" ist eine gated community in Südafrika. Sie trägt den Namen The Pines. Die unvorhergesehenen Situationen häufen sich an einem Tag, der unter anderem durch sein Wetter charakterisiert wird: es ist der heißeste Tag des Jahres. Und das darf man dann durchaus auch im übertragenen Sinn so verstehen.

Die Mauer ist - als Kriminalroman - vor allem ein beobachtungsreflexives Experiment. Zwei Fremdkörper - der Begriff scheint mir hier am passendsten - sind an diesem Tag hinter den Mauern von The Pines unterwegs. Ein Paar, Mann und Frau, Thembinkosi und Nozipho, schwarz, zwei Einbrecher. Und ein junger Mann namens Moses, auch schwarz, der nach einer Autopanne bei einem früheren Bekannten Hilfe sucht, den er aber nicht antrifft. Stattdessen gerät er ins Visier der privaten Security. Ein Missverständnis, doch eines, bei dem Moses es lieber nicht darauf ankommen lassen will, dass es sich schon aufklären wird. Er läuft davon, und ist danach tatsächlich mehr oder weniger das ganze Buch hindurch on the run, in einer Landschaft, deren Außenmauer immer mitgedacht wird, die aber auch innerhalb jede Menge Mauern hat, von denen Moses immer wieder profitiert. Denn er muss ja andauernd in Deckung gehen.

Es gibt auch noch eine Außenperspektive auf dieses Geschehen. Happiness, eine junge Frau, schwarz, sitzt irgendwo an einem Terminal, an dem die Bilder von den Überwachungskameras aus verschiedenen Zuständigkeitsbereichen der Security-Firma zusammenkommen. "Sechs Monitore für sechs Gated Communities." Macht, mit der Möglichkeit von vierfachem Splitscreen, bis zu 24 Situationen, die man gleichzeitig im Bild haben kann. Das wäre die Perspektive dessen, um es in Sperbers Bild zu sagen, der gerade mit dem Fallschirm herunterschwebt. Happiness macht sich Sorgen um "einen Jungen in The Pines. Er sah irgendwie abgerissen aus, und er sah sich die Häuser auf eine Weise an, die sie nicht verstand."

Annas lässt die Situation mit jedem der vielen, teilweise ganz kurzen Kapitel weiter eskalieren. Es gibt eine Leiche in einer Tiefkühltruhe, allerlei kann man sich zusammenreimen, Thembinkosi und Nozipho erleben wesentliche Momente des Geschehens im Inneren eines Kleiderschranks, hören also nur mit. Die Security fordert Verstärkung an, irgendwann kommt auch die Polizei, damit ist der ganze, komplizierte Sicherheitsapparat auf den Beinen, der eine Art Mikrokosmos der sozialen Verhältnisse abgibt, mit Happiness am untersten Ende der Hierarchien, und weißem Vigilantentum als ständiger Versuchung.

Den Höhepunkt findet die ganze Sache in einem Standoff, für dessen erzählerische Auflösung Annas dann fast schon auf die Ebene eines Zehntelsekundenprotokolls schalten muss - Blicke und Projektile kreuzen einander so, dass auch die Filmkunst da nur noch mit Tricks weiterkommen würde (extreme Zeitlupe). Bei all dem ist Die Mauer aber natürlich auch einfach ein spannender Roman, der viel von den Wirklichkeiten des gegenwärtigen Südafrika erkennen lässt, in all diesen perspektivischen Brechungen, die ihn für mich erst so richtig lesenwert werden ließen.

Max Annas: Die Mauer, Rowohlt

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