Fata Morgana
Lektüre: "Eine Nebensache" von Adania Shibli
Die Debatte um den LiBeraturpreis für Adania Shibli, dessen Verleihung nun nicht im Rahmen der Frankfurter Buchmesse stattfinden soll, ist derzeit ein Nebenstrang in der größeren Debatte darüber, wie angemessen auf den Angriff der Hamas auf Israel zu reagieren ist. Das Buch Eine Nebensache, für das der Preis verliehen werden soll, ist kurz, man kann es an einem Nachmittag lesen, und das habe ich getan. Ein Nebenstrang dieser speziellen Debatte betrifft nämlich auch die Frage, ob das Buch überhaupt eine Auszeichnung verdient – oder ob es es nicht sogar antisemitische Aspekte hat.
Eine Nebensache besteht aus zwei Teilen. Im ersten erzählt Adania Shibli von einer Gruppe Soldaten des jungen Staates Israel, die an einigen Tagen im August 1949 an der Waffenstillstandslinie zu Israel, also im äußersten Süden in der Negev-Wüste, den Auftrag haben, die Gegend „von etwaigen verbliebenen Arabern zu säubern“. In der Perspektive eines namenlos bleibenden Kommandanten (allerdings von außen, in der dritten Person) erleben wir, wie er in der ersten Nacht von einem Tier (mutmaßlich ein Skorpion, oder eine gefährliche Spinne, das bleibt unklar) gebissen wird. Er erleidet dadurch eine Vergiftung, die seinen Zustand in den folgenden Tagen zunehmend bestimmt. Bei einer Patrouille stoßen die Soldaten auf ein Beduinenlager, die Schilderung des Zusammentreffens ist nicht ganz eindeutig, ein Mädchen (deren Angehörige getötet wurden? oder nur Kamele?) wird ins Lager mitgenommen. Der Kommandant erklärt, dass niemand sich das Mädchen „gefügig“ machen darf, in einer Formulierung, die deutlich das Gegenteil in den Raum stellt. Er ist daraufhin der erste Vergewaltiger, sein Gewaltakt wird metonymisch durch das Quietschen des Feldbetts erzählt. Später tun es ihm einige Soldaten nach. Das Mädchen wird schließlich durch sechs Schüsse getötet und in der Wüste begraben.
Im zweiten Teil erzählt eine Frau, die in Ramallah unter der Besatzung lebt, dass sie auf eine Nachricht von diesem Vorfall stößt, der sich genau 25 Jahre vor ihrem Geburtstag ereignete. Das Datum steht also am Anfang ihrer Identifikation. Sie borgt sich von einer Bekannten einen Ausweis aus, der es ihr (unter beträchtlicher Gefahr) erlaubt, mit einem Leihwagen das Westjordanland zu verlassen, um Recherchen über das Verbrechen an dem unbekannten Mädchen anzustellen. Sie möchte versuchen, „der ganzen Wahrheit auf die Spur zu kommen“. Dazu fährt sie zuerst einmal nach Jaffa (Yafo), wo es ein Museum der Israelischen Armee gibt. Hier sammelt sie erste Realien, die für eine Beschreibung des Verbrechens hilfreich sein könnten: wie sahen damals die Waffen aus? Welche Fahrzeuge wurden benutzt? Danach fährt sie in den Süden, nach Nirim in der Nähe des Gazastreifens und der Grenze zu Ägypten. Hier findet sie Orte, an denen die Ereignisse von damals stattgefunden haben könnten. Hier wird allerdings auch ihr Versuch, ein nur kurz erwähntes Ereignis durch Realitätskontakt schilderbar zu machen, immer problematischer.
Im selben Maß verstärken sich die motivischen Überblendungen zwischen den beiden Teilen. Die starken Geruchseindrücke, die schon die Wahrnehmung des Kommandanten prägten, hat auch die Erzählerin, allerdings ohne eine gewisse Aufgeladenheit (Benzingeruch erlebt sie, weil sie tankt). Ich lese nun aber schon detektivisch vor allem auf diese Überblendungen hin. Ein Detail aus dem ersten Teil bekommt im zweiten Teil einen überraschenden Kontext: das Mädchen, das mit entblößtem Hinterteil bäuchlings im Sand liegt, entstammt vielleicht einem Buch über expressionistische Malerei, das die Erzählerin des zweiten Teils bei einer Übernachtung in einem Dorf zufällig in die Hand bekommt. Ich gehe dabei davon aus, dass die Erzählerin des zweiten Teils die Autorin des ersten Teils ist (und dass beide mit Adania Shibli mehr oder weniger identisch sind respektive dass Shibli mit dieser Identifizierung spielt).
Jedenfalls steuert das Buch auf eine Pointe zu, die wirklich stark ist, die aber gleichzeitig beide Teile stark relativiert: denn der dezidiert literarische Ton des ersten Teils und der stärker wie eine Reportage klingende zweite Teil sind jeweils Facetten eines literarischen Experiments, das wohl vor allem auf die Zweifelhaftigkeit von bedeutsamen Details hinweisen soll. Damit wird unklar, wie man den ersten Teil überhaupt verstehen soll: eine palästinensische Autorin versetzt sich in einen israelischen Soldaten, der eine Gräueltat begeht.
In diesen Passagen sind übrigens tatsächlich einige Textsignale enthalten, in denen der Umgang der Soldaten mit dem Mädchen zumindest in Teilen an die Behandlung jüdischer Opfer in den Lagern erinnern könnte: das Mädchen wird nackt ausgezogen, entlaust, die Haare werden abgeschnitten. Aber selbst wenn Adania Shibli damit den antisemitischen Topos aufgegriffen hätte, dass Israel sich als Staats- und Besatzungsmacht in Analogie zu den Verbrechen der Nationalsozialisten verhielte (und zwar, auch hier ist das Datum wieder wichtig, von Anfang an), dann wäre immer noch unklar, wie dieses Motiv in die literarische Konstruktion des Romans einzuordnen wäre. Und auf diese virtuose Konstruktion kommt alles an. Sie läuft für meine Begriffe auf eine ziemlich radikale Dekonstruktion von Identifikation und Figurenzeichnung hinaus. Der erste Teil mag für ein bestimmes Literaturinteresse gut geschrieben sein. Shibli dementiert ihn aber auch sehr konsequent, und weist ihn als das aus, als was sie ihn von Beginn an deutlich gemacht hatte: eine Fata Morgana. Im zweiten Teil bekommt dieses Motiv der Doppelbelichtung eine weitere Ebene mit den verschiedenen Karten, die die Erzählerin mit sich führt: das Territorium vor und nach 1948. Alles, so könnte man folgern, hat in Israel/Palästina mindestens zwei Ebenen. Und dazwischen flirrt alles.
Adania Shibli: Eine Nebensache. Aus dem Arabischen von Günther Orth, Berenberg Verlag 2022
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