Ein anderer Ursprung
Lektüre: "Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina" von Lina Meruane
Eine Parole, die in diesen Tagen wieder häufig gebraucht wird, lautet: Free Palestine. Damit man das sinnvoll rufen oder auf ein Transparent schreiben kann, bedarf es einer Definition. Was ist Palästina? In meinem Verständnis eine Landschaft am östlichen Mittelmeer, auf der sich das Territorium des Staates Israel befindet, sowie zwei weitere Territorien, deren Status, teilweise auch deren Umfang massiv von der politischen, polizeilichen und militärischen Überlegenheit Israels bedingt sind, wie auch von Schwierigkeiten, die eigene politische Vertretung konstruktiv zu organisieren: Gaza (Selbstverwaltung) und das Westjordanland (besetzt).
Ein anderes Palästina, oder das gleiche, aber in einer anderen Sichtweise und mit aufschlussreichen historischen Bezugspunkten, habe ich in einem Buch von Lina Meruane gefunden: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina. Lina Meruane kommt aus Chile, sie schreibt auf Spanisch, an der New York University unterrichtet sie Global Cultures, heißt es an einer Stelle des Buches. Sie war noch nie in Palästina, ihrem Heimatland in zweiter Generation. Ihr Großvater Issa Marwani wurde 1905 in Palästina geboren (damals Teil des Osmanischen Reichs), wurde 1920 mit türkischen Papieren vertrieben, 1936 bekam er die chilenische Staatsbürgerschaft. In Chile gibt es die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt. Lina Meruane ist also „Chilestinenserin“, und obwohl sie nie dort war, ist die Stadt Beit Jala, südlich von Jerusalem, für sie ein entscheidender Bezugspunkt.
Von ihrem „Zurückkehren“ erzählt das Buch. Genauer: „Es ist keine Rückkehr, aber die Idee zu der Reise trägt dieses Wort im Gepäck.“ Meruane ist in den globalen intellektuellen Betrieb eingebunden, 2017 war die auf Einladung des DAAD in Berlin. Zu ihrer Identität wäre noch hinzuzufügen, unter anderem: Ihre Familie gehört zu den christlichen Palästinensern. Mit der Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung (genauer: mit der Überlegungen, wie sie von anderen Menschen gesehen werden könnte), spielt sie: sie ist „mediterran aussehend“, „mein israelisches Gesicht“ trägt sie, wenn es hilft, einmal nennt sie sich mit Anklängen an Märchen „die dunkle Meruane Morany Marwani vom Stamm der Saba“. Einmal nennt sie sich auch „Araberscheuche“: „Es ist mir zur Gewohnheit geworden, in muslimischen Ländern den Kopf zu bedecken.“
Der Bericht von ihrer Reise nach Palästina profitiert davon, dass sie viele unterschiedliche historische Register präsent hat: Sie stößt auch auf die eine Analogie, die heute vielfach das Gespräch über Israel vergiftet. „Ich lese, verblüfft wie alle anderen, die Zeile, die die Kinder oder Enkel von Holocaust-Überlebenden da hingeschrieben haben: Araber in die Gaskammern.“ Dieses Graffiti steht für sie aber in einem größeren Zusammenhang: „Viele, die während der Nakba fortgehen mussten, haben ihren Hausschlüssel behalten, wie auch viele der Juden, als sie 1492 - für sie das Jahr 5252 - aus Spanien vertrieben worden waren, die ihren behalten hatten, um nicht zu vergessen, dass es ein Haus gab.“ Für sie gibt es auch ein Haus: in Beit Jala. Sie erinnert sich auch an einen medienhistorisch wichtigen Moment: Am Tag der Anschläge von 9/11 zirkulierten auch reaction shots: „Bilder von palästinensischen Kindern kamen herein, die auf der Straße den Anschlag feierten ... Diese Kinder, verwandelt in frühreife Terroristen“, werden heute in den sozialen Netzwerken durch Bilder von Kindern beantwortet, die Israel mit seinen Militärschlägen getötet hat.
Palästina ist immer auch das, was aus einer Privilegierung einer bestimmten historischen Situation als der einzig relevanten resultiert. Lina Meruane neigt nicht zu solchen Absolutsetzungen. Ich zitiere aber doch ihren einen Punkt Null ausführlicher: „Denn es ist eines der kaum bekannten Kapitel in der Geschichte der palästinensischen Diaspora, dass schon die britischen Mandatsverwalter begonnen hatten, den Palästinensern, die beim Zusammenbruch oder noch zu Zeiten des Osmanischen Imperiums geflohen waren, die Rückkehr zu verweigern, während sie den europäischen, vom Zionismus getriebenen Juden die Anträge auf Staatsbürgerschaft erleichterten. Diese Entscheidung, beispiellos für dieses britische Imperium, damals noch Kolonialreich, basierte auf der Vorstellung, dass die Palästinenser nicht nur türkische Staatsbürger mit türkischen Papieren waren, sondern auch ethnisch gesehen Türken. Die Engländer haben Araber und Türken in einen Sack geworfen. Die Palästinenser war nicht, von wo sie behaupteten zu sein. Und die Israelis taten später das gleiche: sie steckten die Palästinenser in den arabischen Sack, so viele Unterschiede es zwischen ihnen auch geben und wie anders die gleiche Sprache bei Ihnen klingen mochte, ein Arabisch mit anderem Singsang, anderem Ursprung.“
Dieses Arabisch („die Sprache, die ich noch vor dem Erlernen verloren hatte“) steht auch für einen Ursprung, der sich nicht festmachen lässt. Politische Lösungen für Palästina müssen auf Festlegungen beruhen, aber für die Festlegung der Festlegung wäre es hilfreich, die Horizonte im Auge zu behalten, die Lina Meruane öffnet. In diesem Sinn bin ich übrigens auch für: Free Palestine.
Lina Meruane: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina, Berenberg Verlag 2020
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