Die Rechnung der Wahnsinnigen

Lektüre: "Israel. Eine Korrespondenz" von Navid Kermani und Natan Sznaider

Im März 2002, an einem Sederabend, griff die Hamas in Netanja mit einem Sprengstoff-Attentat ein Hotel an. 30 Menschen wurden getötet, 140 verletzt. Man spricht heute vom Pessach-Massaker, es gilt als der tödlichste Angriff während der Zweiten Intifada. Der 7. Oktober 2023 hat noch keinen Namen, und er wird wahrscheinlich auch nie einen brauchen. Das Datum steht für das Ereignis. Aber es gibt zahlreiche Formulierungen für das, was am 7. Oktober geschah, und jede ist auf ihre Weise von Belang. Natan Sznaider und Navid Kermani benennen es so: «eine dschihadistische Invasion des Südens Israels und ein Gemetzel an Juden, wie es das seit der Schoah nicht mehr gegeben hatte».

Die beiden Intellektuellen haben in der Folge eine Korrespondenz, die sich zwischen ihnen im Jahr 2002 ergab, veröffentlicht – Gedanken von damals in eine Situation von heute. Ein publizistischer Schnellschuss, wie man mit einer der vielen ballistischen Metaphern im Verlagswesen sagen könnte, aber einer, der sich lohnt. Denn die Emails, die damals zwischen Israel (Sznaider in Tel Aviv) und Deutschland (Kermani in Köln) hin und her gingen, helfen tatsächlich, angemessenere Antworten auf die Fragen im Januar 2024 zu entwickeln.

Schon damals schrieb Sznaider über einen neuen Antisemitismus, «der durch den Nahostkonflikt ausgebrochen ist». Er hebt hervor, dass in Deutschland «ständig hocherotisiert Scharon mit Hitler und Dschenin mit Nazimethoden gleichgesetzt» – ein Aspekt dieses Antisemitismus, der sich als solcher vermutlich nicht versteht. Sznaider merkt aber auch an: «Die Behauptung, dass die Araber Nazis und Arafat und Hitler eins sind, hat in Israel eine lange Geschichte.» Der polemische NS-Vergleich wird nahezu nach Belieben eingesetzt, es geht dabei immer um Mobilisierung eines moralischen Vorsprungs.

Sznaider macht den «Kreislauf von Anschlag, Vergeltung, Anschlag, Vergeltung» deutlich, «aus dem es kein Entrinnen mehr geben wird». Die Kraft des Terrors wird hier alles ändern, schreibt er. «Die Rechnung der Wahnsinnigen geht auf: Israel wurde durch die voraussehbaren Reaktionen auf den Terrorismus dazu gebracht, international zu einem Pariastaat zu werden.»

Kermani hält da nichts dagegen, aber er macht doch Anstalten, etwas geltend zu machen: eine «Moral der Faktizität». Der Staat Israel ist ein Faktum. «Selbst wo ein Staat auf Unrecht gründet (und das tut Israel meines Erachtens), verschafft er sich durch seine schiere Existenz Recht.» Hier wäre eigentlich ein Punkt, an dem bei der Herausgabe noch einmal einzuhaken gewesen wäre, aber der Briefwechsel von damals bleibt, bis auf ein Vorwort, unkommentiert – und unverändert, enthält also auch die Unklarheiten, die beim Verfassen eines Emails oder Briefs eben auftauchen. Welches Unrecht meint Kermani? Das Unrecht der Nationalsozialisten? Oder das Unrecht einer Landnahme, die nach dem Zweiten Weltkrieg in einer säkularen, kolonialen Ordnung einen neuen Staat etablierte, der als Zufluchtsstätte, aber auch als Erfüllung biblischer Verheißungen gesehen werden konnte, auf einem Territorium, auf dem vielfach im Detail konkurrierende Ansprüche bestanden? Kermani geht sogar noch weiter: Die Moral der Faktizität besteht gegen ihre «unmoralische Entstehung». Das klingt eher so, als hätte Kermani bei «Unrecht» an die Umstände von 47/48 gedacht und nicht an Auschwitz.

Die Stelle wird später an dem Punkt des kurzen Buches relevant, über den ich am meisten nachgedacht habe. Es ist Sznaider, der den Begriff einer «Weltmoralität nach 1945» ins Spiel bringt. Ohne diese hätte Israel «keine Legitimität». Anders formuliert: «Die Welt hat berechtigte Probleme damit, Gottes Versprechen an uns als politische Legitimation anzusehen.» Der Staat Israel ist also nicht als Erfüllung der Landverheißung an Abraham zu sehen, jedenfalls nicht in diesem historischen Moment nach 1945. Sondern er ist, hier greift Kermani das Argument auf, «derjenige Staat auf der Welt, der seine Legitimität der internationalen Moralität verdankt». Es zählt «die nackte, nicht zu relativierende Moralität des jüdischen Anspruches auf ein Leben, das endlich sicher ist», und keine biblische Prophezeiung. Kermani sieht aber auch einen «kolonial-fundamentalistischen Körper» in diesem Argument. Und er fügt an: «Aus jüdischer Sicht ist das Argument absolut schlagend (dass Juden nach der Schoah einen sicheren Staat brauchen, BR), aus arabischer Sicht ist es absolut hermetisch».

Damit sind Sznaider und Kermani schon 2002 an einen Punkt gekommen, den heute der deutsche Staat mit Vertragsklauseln bei Kulturförderungen und mit Parlamentsresolutionen zu lösen versucht: Die «Weltmoralität» von 1945 wird vielfach nicht als solche begriffen. Sondern als ein Instrument, mit dem der Westen etwas auf dem Rücken des globalen Südens ablud, zu dem Palästina befreiungsemphatisch gezählt wird.

Sznaider zieht daraus die plausible Konsequenz (die auch Kermanis «Moral der Faktizität» entspricht): es «muss wohl am Ende die ganze Angelegenheit ohne Legitimation funktionieren». Es wäre schon ein Fortschritt, wenn man «wenigstens seine Feindschaften entmythologisierte, während man weiterkämpft». Das ist in meinen Augen ein gutes Programm auch für diejenigen, die zur Zeit ihr Engagement für die Zivilbevölkerung in Gaza latent in das Zeichen einer Feindschaft gegenüber dem Staat Israel (und nicht nur dem Regime Netanjahu) stellen, wie natürlich auch für diejenigen, die den Staat Israel mit Legitimation überfrachten.

Navid Kermani/Natan Sznaider: Israel. Eine Korrespondenz, Hanser Verlag

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