Die große Erpressung
Charles Péguy lesen (2): "Das Geld"
Bei der schwierigen Datierung von Epochenschwellen war vielleicht niemand so präzise wie Charles Peguy, für den alles auf einen Übergang im Jahr 1880 hinauslief. Damals endete für ihn eine alte Welt, deren „Zusammenbruch sich sozusagen auf einmal und in wenigen Jahren ereignete“. Was davor war, und was daraus wurde, beschreibt er in seinem Text Das Geld, den Matthes & Seitz nun auf Deutsch zugänglich gemacht hat. Es ist ein komplizierter Text, weil Péguy seine Epochenkonstellation durch seine eigene Bildungsgeschichte hindurch liest; man könnte auch sagen, dass sich die Einleitung zu einem anderen Text über das französische Grundschulwesen dieser Zeit zu einer sehr grundsätzlichen Überlegung auswuchs – nämlich über den Moment, in dem der Kapitalismus in Frankreich das Kommando übernahm.
Mein Péguy-Leseprojekt wurde nicht zuletzt durch eine kleine Konjunktion angeregt (der neue Film von Bruno Dumont, das Buch von Joseph Hanimann), es passt jetzt auch in vielerlei Hinsicht zu anderen Dingen, die mich gerade interessieren. Das schmale Buch über Das Geld enthält eine der strukturierenden Dichotomien, die für die Moderne charakteristisch sind (meistens auch deswegen, weil die Moderne eine der beiden Seiten darin einnimmt). Péguy verweist selbst auf zwei berühmte Querellen, die der Alten und der Modernen in Frankreich und die um Klassik und Romantik (bzw. naive und sentimentalische Dichtung); die Romantheorie von Lukács und die Filmtheorie von Deleuze sind Ableitungen davon. Bei Péguy aber geht es auf eine Weise um alles, dass man Das Geld tatsächlich gerade heute mit Gewinn (der blöde Witz muss sein dürfen) lesen kann.
Was war also vor 1880, das dann verloren ging? Für Péguy hat sich die Welt seit Jesus Christus bis ins späte 19. Jahrhundert weniger verändert als in den wenigen Jahren bis 1913, das war das Entstehungsjahr von l’argent. Die Begriffe, die er mit der alten Welt assoziiert, sind „Volk“ („Wir sind in einem fröhlichen Volk groß geworden“), „Armut“ (die er vom Elend unterscheidet), und Arbeit (worunter er eher Handwerk versteht). Bei Arbeit denkt er an das Beispiel seiner Mutter: „Meine ganze Kindheit lang habe ich gesehen, wie Stühle mit Stroh bespannt wurden, in demselben Geist, von demselben Herzen und von derselben Hand, mit denen dieses Volk den Stein seiner Kathedralen bearbeitete.“
Diese Arbeit ist nicht entfremdet (ein Begriff, den Péguy nicht verwendet, wie er auch nie nach England schaut, wo er mit den Jahr 1880 viel zu spät dran gewesen wäre): „Diese Arbeiter dienten nicht. Sie arbeiteten. Sie hatten eine Ehre, die absolut war, wie es der Ehre zu eigen ist. Ein Stuhlbein musste gut gemacht sein. Das war selbstverständlich. ... Es musste aus sich selbst gut gemacht sein, in sich selbst, für sich selbst, in seinem Wesen selbst.“ Für diese gut verrichtete Arbeit gab es einen Lohn, der sich aus der Arbeit heraus von selbst verstand: Dafür sorgte die „alte Moral der Arbeit und der Sicherheit im Gehalt, der Sicherheit in der Entlohnung, vorausgesetzt, dass man sich innerhalb der Grenzen der Armut beschränkte und dann auch schließlich der Sicherheit im Glück.“ Rechtschaffene Arbeit sorgte für das Notwendige, solange man nicht darüber hinaus wollte. Armut (ein besseres Wort wäre vielleicht Genügsamkeit) und Arbeit entsprechen einander. Armut wird auf diese Weise zu einem „Refugium,“ zu einem „Asyl“, das Arbeiten (und auch das Lernen) wird zu einer „Zeremonie“.
Das alles ändert sich in dem Moment, in dem die Bourgeoisie mit dem Geld auftritt und beginnt, „die menschliche Arbeitskraft wie einen Börsenwert zu behandeln“. Seither, so könnte man sagen, wird die Arbeit bewirtschaftet. Die Arbeitenden („die wirtschaftliche Quelle des sich verkaufenden Werts“) treffen auf „wirtschaftliche Schiedsrichter des sich verkaufenden Werts“. Für Péguy ist das wie „eine ständige Erpressung“. Und in Paris, wo er mit seinem Zeitschriftenprojekt Les cahiers de la quinzaine (das man einem riesigem Weblog vor der Zeit vergleichen könnte) seit 15 Jahren in Armut lebt, beobachtet er etwas, was auch auf die heutige Zeit sehr genau passt: „so viel Geld, das für den Luxus rollt, und das Geld, das sich derart der Armut verweigert“. Geld ist nur dann nicht ehrlos, wenn es Lohn ist.
Mit dieser Veränderung der Geldfunktion, die natürlich älter ist als das Datum 1880, aber damals begann, die Städte zu verlassen, begann „die moderne Zeit, in der auch derjenige, der nicht spielte, immer verlieren würde“. Péguy erklärt nicht, warum er hier auf den Begriff des Spiels kommt (irgendwie versteht er sich ja auch von selbst), aber für mich liegt hier der springende Punkt des ganzen Texts. Warum verlieren im Kapitalismus auch die, die gar nicht mitspielen wollen, warum gilt die Erpressung (von der Verführung schreibt Péguy nur en passant) so kategorisch?
Hier sind wir an einem Punkt, an dem wir selber mit dem Kapitalismus sind, auch fast 140 Jahre später. Es ist die abgewandelte Revolutionsfrage: Wie und wo kann man nicht mitspielen, wenn man schon daran zweifelt, dass eine systemische Alternative herbeigeführt werden kann oder auch soll? Ironischerweise sind es heute die Profiteure des Kapitalismus, die sich leisten können, Oasen der Nichtausdifferenziertheit zu errichten (auch wenn sie dafür mit dem Auto zum eigenen Ökobeet fahren müssen, das sie bei einem Bauern gepachtet haben). Die nächste Frage wäre dann schon: wie kann man Zusammenhänge schaffen, in denen die Erpressung unwirksam wird? Hat am Ende sogar die Ausgliederung der deutschen Autobahnen in eine Privatgesellschaft etwas damit zu tun? Ich meine: ja.
Charles Péguy: Das Geld, Matthes & Seitz 2017
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