Das strenge Recht der Schönheit
Lektüre: "Das Fräulein von Scuderi" von E.T.A. Hoffmann
Die Erzählung vom Fräulein von Scuderi hat in meinem Leseleben eine ganz besondere Rolle gespielt. Denn ich verbinde damit den Übergang vom kindlichen, „naiven“ Lesen (Kinder- und Jugendbücher, Klassiker wie Robinson Crusoe in bearbeiteten Wühlkistenausgaben, unverstandenes Zeug aus den Reader's Digest-Auswahlbänden unserer Eltern, Karl May etc.) zum „bewussten“ Lesen von Literatur. Ausschlaggebend waren dafür äußere Umstände: ich las Das Fräulein von Scuderi in einer Reclam-Ausgabe, als ich 14 Jahre alt war. Und Reclam bedeutete eben: hier gibt es Texte, die zur Literatur gehören. Reclam war sogar eine Art Siegel für diesen Unterschied, den ich später dann natürlich wieder als weniger kategorisch begreifen lernte. Auch eine frühe Idee von Literaturgeschichte bekam ich aus dem Verlagsverzeichnis von Reclam, das nach Epochen gegliedert war – in der Buchhandlung Korb in der Fußgängerzone in Linz staubte ich damals regelmäßig diese frei erhältlichen Gesamtverzeichnisse ab, die alles auflisteteten, was Verlage wie dtv oder Suhrkamp im Angebot hatten.
Das Fräulein von Scuderi passte hervorragend für den genannten Übergang, denn Hoffmann verstand sich ja auf Spannung, und so hat mich damals beim ersten Lesen wohl vor allem die Sorge um den zu Unrecht verdächtigten Goldschmiedgesellen Olivier Brussard beschäftigt. Nur das Fräulein kann ihn davor retten, dass er zuerst der „Tortur“ überantwortet und dann hingerichtet wird. Denn es sieht ja alles danach aus, dass er es war, der in der Dunkelheit auf offener Straße in Paris seinen Meister, den Starjuwelier Cardillac, erdolcht hat.
Hoffmann beginnt effektvoll mit einem nächtlichen Aufruhr: Es klopft beim Fräulein, der Kammerdiener ist ausgerechnet in dieser Nacht nicht da, ein „Elender, bedrängt von einem ungeheuren Geschick“, „ein todbleiches, furchtbar entstelltes Jünglingsantlitz“ bietet sich ihr dar, der Mann spricht „mit wilder Stimme“ und drängt ihr ein Kästchen auf. Damit ist die Aufgabe gestellt, die das Fräulein in dieser Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten lösen muss. Es folgt eine Beschreibung des Zeitalters. Paris ist damals „Schauplatz der verruchtesten Greueltaten“, Giftmorde werden „zur unwiderstehlichsten Leidenschaft“. Das wirksamste Gift ist der Argwohn, der dadurch überall entsteht. Alles unterliegt einer Logik des Verdachts, es entsteht ein Regime der erhöhten Versicherheitlichung, die Polizei bekommt ein Übergewicht, zumal dann auch noch eine Mordserie beginnt, die vor allem Männer trifft, die nachts mit Schmuck zu einer Geliebten unterwegs sind.
Das Fräulein interveniert in dieser Situation literarisch: „Un amant qui craint les voleurs n’est point digne d’amour“, schreibt sie. „Keine blinde Maßregel soll die Feigheit schützen.“ Sie hebt also das romantische Risiko hervor, und qualifiziert sich damit schon auf ihre Weise dafür, dass sie zu der Person wird, der das Geheimnis der Mordserie enthüllt wird. In diesem zweiten Teil der Erzählung geht es dann vor allem darum, dass dieses Geheimnis gewahrt, und trotzdem der Verdächtige gerettet werden muss. Der wahre Mörder darf nicht bekannt werden, und zwar einzig und allein aus dem Grund, dass seine tugendhafte Tochter Madelon (zugleich die Verlobte des Verdächtigen Olivier, romantische Verschlungenheit der Fabel) nicht verkraften würde, dass ihr Vater es war, der die vielen Kavaliere getötet hatte, um sich wieder in den Besitz der Juwelen zu bringen, die er ihnen davor verkauft hatte.
Sein „böser Stern“ wird mit einer kleinen Herleitung versehen mit einer Begebenheit, in der Cardillacs Mutter sich beinahe einem Kavalier mit „funkelnden Steinen“ hingibt, der stirbt aber just in diesem Moment. Die absolute Monarchie als ein Regime des Glanzes ist dabei immer mitzudenken. Cardillac ist der ambivalente Agent des höfischen Prunks, er stellt ihn her und holt ihn sich nachts zurück. Die Justiz kann mit arkaner Wahrheit nichts anfangen, zudem ist die Scuderi eine Gegnerin des Polizisten Desgrais, der für „law and order“ steht, ein Begriff, den Hoffmann mit den heutigen Konnotationen noch nicht kannte.
Das Fräulein muss versuchen, „ohne jede Entdeckung der verruchten Bosheit Cardillacs zu steuern“. Sie soll also – bald ausgestattet mit einem dreifachen Exklusivwissen durch Berichte von Olivier, der auch Cardillacs Beichte referiert, und dann meldet sich auch noch ein nächtlicher Zeuge – Olivier retten, ohne dass der wahre Mörder bekannt wird. Das geht nur mit Hilfe des Königs, der möglichst geschickt eingeweiht werden muss, damit er sich bereit erklärt, „das strenge Recht der Schönheit“ aufzuopfern.
Genau genommen ist das Recht auf zweierlei Weise streng, nämlich durch seinen Geltungsanspruch und durch die extra strenge Politik von Desgrais. Die Schönheit ist die der „Engelsgestalt“ Madelon, aber auch die einer höheren (literarischen) Wahrheit als der judiziablen. Hoffmann legitimiert also den Hof und den Souverän, allerdings nur, insofern dieser in der Lage ist, sich der „Beredsamkeit“ des Fräuleins zu unterwerfen. Die Literatur, die Fiktion, auch das elegante Gedicht, die untheoretische Intellektualität und die moralische Intuition der Scuderi sind Bedingung eines gelingenden Staatswesens und einer dadurch relativierten absoluten Monarchie. Hoffmann betreibt also im Gewand einer Schauergeschichte ein wenig Institutionentheorie. Dafür hatte ich klarerweise mit 14 kein Verständnis. Dafür brauchte es die Freuden der Relektüre.
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