Trümmerfrauen

Lektüre: «Als sei alles leicht» von Elfi Conrad

Wieviele Buchseiten braucht man, um das Leben von Frauen im deutschen 20. Jahrhundert umfassend zu erzählen? Bei Elfi Conrad sind es knapp 100. Ich musste beim Lesen von Als sei alles leicht immer wieder an den Film In die Sonne schauen von Mascha Schilinski denken, der braucht (oder nimmt sich) zweieinhalb Stunden für vier Generationen. Literatur kann verdichten, es muss nicht immer ein Epos sein. Gleich der erste Satz von Elfi Conrad hat kein Verb: „Das Wasser eiskalt.“ Eine junge Mutter namens Ursel trägt einen Rock ohne Strümpfe, obwohl es kalt ist. Die Wollstrümpfe würden dem Rock „seine Fröhlichkeit“ nehmen. Auch in einem Lager, auch unter extremen Umständen, spielen solche Überlegungen eine Rolle. Sie sind sogar zentral, denn dass Ursel einem Mann gefällt, erweist sich als Voraussetzung dafür, das Lager relativ schnell verlassen zu können.

Ursel und ihre Mutter Margarete, Ursel und ihre Schwester Kathi, Ursel und ihr Neugeborenes Dora sind Deutsche. Sie haben in Trebnitz gelebt, heute liegt Trzebnica in Polen. In den letzten Wochen und Monaten des Kriegs konnten sie dort nicht bleiben, nun sind sie in einem Auffanglager im sogenannten Protektorat, das bald zur Tschechoslowakei gehören wird, noch – im Januar 1945 – aber nominell unter deutscher Herrschaft ist. Die vier Frauen müssen und wollen nach Deutschland. Aus dem Lager kommt man mit einem Zug weg, wenn man eine Fahrkarte dafür ergattert. Ursel sieht eine Möglichkeit, schneller an eine Fahrkarte zu kommen. Sie merkt, dass „ein Tscheche, der etwas zu bestimmen hat“, auf sie aufmerksam geworden ist. Jede Begegnung ergibt nun ein kleines Privileg: neue Schuhe, Nylonstrümpfe. Ursel trägt sich zu Markte, nicht bewusst und nicht strategisch, aber sie spürt selbst ein „Strahlen, das sie umgibt“, auch noch unter den harten Bedingungen des Lagers.

Elfi Conrad erzählt objektiv und zugleich aus der Perspektive der vier Frauen, selbst aus der des Kleinkinds, das von sich noch kaum etwas weiß, aber dem Text eine weitere Sichtweise verleiht. Das Leben der Mutter wird beiläufig in seiner ganzen Härte erzählt: der Onkel, der sie missbraucht, als sie zwölf ist (Sperma ist für sie später nur noch „das Zeug“), der Geschlechtakt ist „die Prozedur“, drei Abtreibungen hat sie auch hinter sich. Ursel hat Sexualität auf eine schöne Weise kennengelernt, in einem Sommer bei der Erntehilfe, sie hat „das Knistern der Gier“ verspürt. Aber auch in diese Erotik mischt sich etwas Unpersönliches. „Sie machten es den Tieren nach.“ Mit dem Vater von Dora versteht sie sich „außerhalb des Bettes“ nicht, geheiratet musste trotzdem werden. Von der einen Geste, die sie damals so „eingefangen“ hat, als Wolfgang die Zigarette hielt wie O.W. Fischer in dem Film Sommerliebe, mit Daumen und Zeigefinger, elegant, aber unpraktisch, kann eine Liebe nicht leben.

Mit dem tschechischen Mann im Lager kommt es zu einer Tauschhandlung. „Sie tut das, was ihr von ihrem Mann gezeigt worden ist.“ Sie sorgt dafür, dass „Zeug“ einen Männerkörper verlässt, und fängt es auf. Dafür gibt es Fahrkarten. „Morgen“. Es ist Katharina, die „eine teilweise Zerstörung der Schwester-Seele“ wahrnimmt. Die junge Frau, die einst in den Führer verliebt war, die in NS-Deutschland das „Glück der Gemeinschaft“ verspürte, lernt die Aufgabe der Frauen: „so zu tun, als ob einem alles nichts ausmacht. Als ob alles leicht sei.“

Die Frauen bekommen die Fahrkarten, sie kommen nach Deutschland, sie sind Flüchtlinge. Als sie das rettende Territorium erreichen, herrscht „Kreischen und Jubeln“. Im Harz haben sie Familie, keine nahe allerdings. Unterwegs in Würzburg erleben sie Kultur und eine Bombardierung, mit der sie nicht gerechnet hatten. Als der Krieg zu Ende geht, kommt der Frühling. „Sie haben die Flucht überstanden.“

In einem kleinen Nachsatz eröffnet Elfi Conrad, dass der Roman auf Schilderungen ihrer Mutter beruht, und dass sie daraus eine fiktionale Erzählung gemacht hat, die auf „einer Erinnerung an eine Erinnerung“ beruht. Bei Mascha Schilinski sind es vier Zeitalter, vier Zeiträume im 20. Jahrhundert, die sich zu einer Erzählung finden, die von der Subjektivität des Erinnerns (im vielstimmigen Plural eines großen Ensembles) bestimmt ist. Bei Elfi Conrad sind es vier Frauen, die alles enthalten, bis herauf in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts, in der die Autorin sich an die historische Wasserscheide erinnert, die 1945 Konturen annahm. Als Ursel dem Tschechen allmählich nachgibt, spielt er Nat King Cole für sie, also Jazz, der im Dritten Reich verpönt war. Eine amerikanische Musik, eine westliche Musik. Dora, das Kind, dem der letzte Satz im Buch gilt, wird auf der Seite der Welt aufwachsen, die als die freie galt. Als eine mögliche Lebenssumme dieser Freiheit dürfen wir die konzentrierte Prosa dieses Buchs nehmen.

Elfi Conrad: Als sei alles leicht,  Mikrotext

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