Filme und Folgen (84)

Notizen: August 2025

Wer bezahlte für Hitler? Rainer Komers Bundesrepublik Deutschland 1983

In der Volkshochschule von Mülheim/Ruhr treffen junge Leute auf alte Antifaschisten. Gefragt nach einer Definition, zitiert einer: „Faschismus ist die brutalste Herrschaftsform des Großkapitals“. Mit Zeugnissen verschiedener Überlebender und Nachfahren aus der Arbeiterbewegung der Jahre nach 1914 rekonstruiert Komers die Bemühungen eines kommunistischen Widerstands in der Region. Zugleich schildert er, wie Industrielle früh ihre Hoffnungen auf die NSdAP setzten. Fritz Thyssen schrieb sogar 1940 ein Buch mit dem Titel I Paid Hitler, auf die dubiose Editionsgeschichte (Erscheinen auf Englisch, genaue Beteiligung von Thyssen umstritten, ...) geht Komers nicht ein, er zeigt das Buch und zitiert daraus. Schon 1914 hat August Thyssen eine „Kriegszieldenkschrift“ verfasst, die sich liest wie eine Vorlage für Hitlers spätere Pläne, und in der es fundamental um Zugang zu Extraktion ging. Gelegentlich verwendet Komers Archivmaterial, so bekommt man eine sehr interessante Passage mit dem Industriellen Emil Kirdorf zu sehen, zu dessen 90. Geburtstag Hitler und Goebbels 1937 in die Streithof Villa kamen – in der Rede von Kirdorf wird ein Bündnis zwischen Unternehmern und Werktätigen beschworen, solange es im Zeichen der Volksgemeinschaft steht. Schon 1915 hatte sich in Essen eine Spartakus-Gruppe gebildet, „entschiedene Leute“, die gegen den Krieg waren. Am Beispiel des zeitweiligen Wehrwirtschaftsührers Hugo Stinnes, der „Zwangsverschleppte“ aus dem Osten einen Privatbunker für sich bauen ließ, wird die spätere zügige Entnazifizierung von Hitlers Geldgebern dargelegt.

In den schwierigsten Phasen blieb dem Widerstand nicht viel mehr als Mnemotechnik: „wir haben uns nicht verloren“, dabei half, ganze lange Passagen von Marx auswendig zu lernen. Von da (und vom Beitrag der Roten Armee zur Niederwerfung des faschistischen Deutschland) kam wohl auch das Selbstbewusstsein, mit dem sich 1945 ein Aktionsausschuss der Mülheimer Arbeiterschaft an die Amerikaner wandte. Die fanden, der Forderungkatalog (der tatsächlich sehr weitreichend in Richtung Staatssozialismus war) lief auf Terrorismus hinaus. „Damit war für uns klar, was wir von den Befreiern zu erwarten hatten.“ Zwei Momente, in denen Spuren bis in unsere Gegenwart reichen: die Arglosigkeit eines Mädchens, das mit den Informationen über den Faschismus konfrontiert wird, und dabei, fast ein wenig erstaunt, weil ihm dieser Umstand erst bewusst wird, sagt: „Ich hab bis jetzt noch kaum jemand gehasst.“ Und schließlich die letzte Szene. Günter Daus, einer der Antifaschisten, hält eine Rede in einer Turnhalle im Emsland. Der Kontext, so kann man entnehmen, ist die Friedensbewegung der 80er Jahre. Daus ist auch jetzt noch Kommunist, er sieht die Sache damit in einer Perspektive, die der NATO die Schuld an der atomaren Gefahr zuweist. Denn die Sowjetunion, so muss man hier wohl dazudenken, vertritt den richtigen Standpunkt in der Geschichte. Damit wird diese Szene zu so etwas wie einem Kern des Widersinns, der Jahrzehnte später Menschen dazu bringt, den Krieg in der Ukraine in ein ideologisches Schema zu pressen, das letztlich Putin entlastet. Davon konnte Rainer Komers 1983 noch nichts ahnen. Großer Film. (Link vom Filmemacher zur Vorbereitung auf die Werkschau im Zeughauskino)

Heat Michael Mann USA 1996

Als ich in den 90er Jahren in Wien als freier Journalist arbeitete, da hatten einige Verleiher noch eigene, relativ kleine Hauskinos, wie ich das in Berlin nur von Sony und von X-Filme kenne. Ich meine mich noch sehr genau an den Moment zu erinnern, als ich im „Warner-Kammerl“ nach der Pressevorführung von Heat aufstand, und vor allem ein Gefühl von Rhythmus mit nach draußen nahm: ein dreistündiger Thriller, der wie ein Uhrwerk funktionierte, jede Kleinigkeit ist essentiell, alles zielt auf große Show und Pathos, aber auch auf Reduktion auf das Essentielle. Dass Robert De Niro und Al Pacino tatsächlich zur Hälfte der Geschichte einander gegenübersitzen (nach dem großen Moment, in dem sie einander kurz durch das Überwachungstool des LAPD erkennen, aber noch nicht sehen), ist Ankerpunkt der Konstruktion, auch Ankerpunkt in dem Ethos, dass trotz beidseitig großer Apparate (die Bande von Neil McCauley, die vielen Leute des Polizisten Vincent Hanna) das Wesentliche zwischen den beiden Männer ausgemacht werden muss, die zufällig auch zwei der größten Stars ihrer Epoche sind. Beide damals Mitte 50 und auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität.

Die Yorck-Gruppe in Berlin hat das Babylon in Kreuzberg, zu dem ich nur ein paar Minuten zu Fuß habe, renoviert und danach die 4K-Restaurierung von Heat gezeigt – das Erlebnis war wieder genau so stark wie damals, inklusive aller ästhetischen Übertreibungen, die alle Sinn machen. Auch der Moment, den ich von seinerzeit noch besonders intensiv in Erinnerung hatte, hat wieder funktioniert: die Handbewegung, mit der Ashley Judd vom Balkon kaum merklich den Gangstergatten wegschickt, und zwar für immer – eine der am stärksten aufgeladenen Gesten in der ganzen Filmgeschichte. Von heute aus ist Heat auch ein letztes Monument des analogen Zeitalters, der Pager von Hanna, die Telefonzellen, der Bankraub, letztlich die ganze, beträchtliche Gewalt der schweren Schusswaffen, schon die erste Szene mit dem Lastwagen ist purer impact. Und ich musste auch daran denken, wie anders wir wohl alle damals noch auf und nach Amerika geschaut haben: natürlich kritisch, aber ein Film wie Heat ist auch eine mythologische Instanz. Zu solchen großen Synthesen ist das amerikanische Kino heute kaum mehr in der Lage. (DCP Babylon Kreuzberg)

Disobedience (Oyafuko dori) Yasuzo Masumara Japan 1958

Dreizehn Jahre nach dem Krieg durchläuft Japan eine erste kleine Krise, die sich vor allem daran zeigt, dass für die Hochschulabgänger die attraktiven Arbeitsplätze fehlen. Katusya wird deswegen zu einem „delinquent“, der sich im Rotlichtviertel herumtreibt und Amerikaner ausnimmt. Er teilt eine Wohnung mit seiner Schwester Akie, die von dem Versicherungsangestellten Shuichi schwanger ist, der sie aber nicht heiraten will, sodass sie abtreiben lässt. Aus Rache beginnt Katusya eine Beziehung mit Shuichis Schwester Kaneko, die ebenfalls schwanger wird, nach der geplanten Demütigung aber darauf beharrt, das Kind zu bekommen, auch wenn sie dafür die Stadt verlassen und zu einer Verwandten gehen muss. Auch wenn die jungen Leute sexuell schon freizügig sind, sind die sozialen Modelle traditionell. Wer nicht geheiratet wird, hat einen schlechten Stand. Kaneko aber vertritt, wie Akie, eine unbedingte Liebe, die dem Mann schließlich gar keine andere Chance lässt, als seiner Verantwortung zu entsprechen. Das ganze Drama läuft auf Einordnung hinaus, die Halbstarken werden bald „salarimen“ sein (wenn ich richtig gehört habe, hat das Japanische das Wort „salarymen“, „Angestellte“, in seinen Wortschatz übernommen). Die Nächte in Ginza sind eine Übergangsphase.

La práctica Martin Rejtman Argentinien/Chile 2023

Esteban Bigliardi, den ich aus Los delincuentos in Erinnerung hatte, spielt den erfolgreichen Yoga-Lehrer Gustavo, der eine seiner Haupteigenschaften einmal selbst benennt: eine Lethargie, die vielleicht auch eine leichte Depression sein könnte, ein Arzt versucht jedenfalls, ihm ein Medikament zu verschreiben. Mit dem Namen des Pharmazeutikums arbeitet Rejtman an einer von vielen Pointen, die alle in ihrer Potentialität belassen werden. Alles läuft in einem anderen Aggregatzustand, in dem es vor allem darum geht, durch Verkettungen von Motiven kleine Merkwürdigkeiten zu erzeugen. Gustavo muss sich gerade von seiner Frau trennen, die Möbel aus der gemeinsamen Wohnung sind eines der vazierenden Elemente, die in La práctica für Andeutungen von Demütigungen oder Peinlichkeiten sorgen. Grundprinzip bleibt dabei aber der tendenziell irritierende Gleichmut von Gustavo, der allmählich zu der Frage ist: was ist die „práctica“, von der Rejtman spricht? Man sieht volle Yoga-Klassen, man sieht Menschen im Kopfstand, man sieht Gustavo beim Meditieren: alles deutbar als Praktiken, die dem Leben die Spitzen nehmen, sodass sich ein Zustand ergibt, den Rejtman als den eigentlich komischen etabliert, allerdings eben auf eine nahezu unmerkliche, und potentiell auch todtraurige Weise. Virtuos. (Arte Mediathek OmU)

Sopralluoghi in Palestina per Il Vangelo secondo Matteo Pier Paolo Pasoloni Italien 1965

Im Jahr 1963 fährt Pasolini nach Palästina, um für seine geplante Verfilmung des Matthäus-Evangeliums zu recherchieren. Er sucht Gesichter und Landschaften. Ich habe mir den Film wieder angeschaut, weil mich interessiert hat, was er vom Konflikt in der Region mitbekommt, wenige Jahre vor dem Sechstagekrieg, der das heutige Regime der Besatzung etablierte. Pasolini verwendet im Titel den Begriff Palästina, weil er eigentlich eine Zeitreise unternehmen möchte, in die Epoche, in der Jesus gelebt hat, damals war die Gegend römische Provinz. Die Fahrt beginnt im Norden, in Galiläa, mit Blick auf den Berg Tabor, der in einer wichtigen Bibelszene vorkommt (in der Jesus verklärt wird, in der also seine transzendente Gestalt sichtbar geworden sein soll). Pasolini sucht eine alte, archaische Zivilisation (angedeutet durch einen Bauern im ersten Bild, der Stroh oder Weizen schippt), er merkt schnell, dass Israel für seine Zwecke viel zu modern ist (am See Genezareth wird Wasserski gelaufen!). Ein Indiz dieser Moderne sind neue Wohnbauten, die er rund um Nazareth entdeckt ­– gerade im Norden hat Israel 1948 in der Nakba viele Gebiete über den ursprünglichen Teilungsplan der UN hinaus an sich gebracht, aber daran denkt Pasolini nicht. Als er nach Gadara kommt, Szene eines berühmten Gleichnisses mit einer Horde Schweinen, erwähnt er im Bildhintergrund syrische Soldaten – der Ort liegt aber eigentlich in Jordanien, es ist nicht ganz klar, ob er hier die Grenze passiert hat, wie er es später offensichtlich mehrfach tat.

Als er zum ersten Mal Araber (das Wort Palästineneser verwendet er nicht) sieht, beginnt sich eine Analogie zu verfestigen: hier ist das sottoproletariato, das Subproletariat, das er in Italien im Süden findet (in Gadara denkt er an Crotone). Die Drusen sind für ihn ein „prodotto“ der Verbindung zwischen Arabern und Kreuzfahrern. Nazareth ist im Vergleich „neo-kapitalistisch“. Der Jordan ist für ein ein „armer“ (povero, hier besser vielleicht: mickriger) Fluss, sein Begleiter, ein Don Andrea, grenzt die jüdische Geschichte ein: sie begann, als das Volk Israel (von Osten) den Jordan überschritt, und sie endete, als Jesus sich im Jordan taufen ließ. Die Taufstelle ist bis heute ein wichtiger Touristenort. Jerusalem ist 1963 noch geteilt, Israel und Jordanien stoßen hier aneinander. In Bethlehem filmt er eine Grotte, die der ähneln soll, in der Jesus geboren wurde. Heute leben „arme Araber“ darin. Pasolini hatte nicht wirklich Kategorien für den Nahostkonflikt, er war zu stark in seinem eigenen Schema befangen, das der kapitalistischen Moderne eine alt gebliebene, einmal sagt er sogar: „zyklopische“ Kultur gegenüberstellt, der in Palästina die „armen“ Araber entsprechen. Dass Israel ein jüdischer Staat ist, interessierte ihn nicht. Das Christentum im Grunde auch nicht, denn Jesus spricht ja zu dieser alten, „paganen“ Kultur und bringt ihr die Ethik der Bergpredigt. Mit seinem letztlich naiven Zugang hat Pasolini zwar das Palästina von 1963 nicht wirklich begriffen, er hat aber viele Bilder hinterlassen, die man mit ein wenig Wissen über die heutigen Verhältnisse sehr aufschlussreich finden wird.

 

 

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