Eine Frage der Ausarbeitung
Ein höchst lesenswertes Gespräch mit dem Philosophen Dieter Henrich
Mit Dieter Henrich habe ich es bisher zweimal versucht. Der erste Versuch betraf sein Buch über den ontologischen Gottesbeweis, von dem ich schließlich nur das Kant-Kapitel genauer gelesen habe, weil der Gang der Untersuchung für meine damaligen Zwecke, vor allem aber für mein allgemeinbildendes Interesse doch zu tief in die theoretischen Verzweigungen vor allem des 18. Jahrhunderts führte. Nun bin ich auf einen schmalen Interviewband gestoßen, der mir unter anderem auch wieder einiges über meine Schwierigkeiten bei der erste Henrich-Lektüre klar gemacht hat. Alexandru Bulucz hat mit dem hochbetagten Philosophen in München ein Gespräch geführt, in dem es nicht wirklich um einen Versuch geht, Henrichs Denken zu umreißen.
Stattdessen sehe ich die vier Kapitel, die unter dem Titel Sterbliche Gedanken erschienen sind, als eine Reflexion darüber, wie eine heutige Generation (in diesem Fall sehe ich mich auf der Seite von Bulucz, obwohl er, Jahrgang 1987, deutlich jünger ist) mit so einem Riesenwerk wie dem von Henrich umgeht. Die Überlegungen zu dieser Frage sind eher implizit. Sie tauchen auf der Seite von Henrich interessanterweise dort auf, wo er über seine Erfahrungen mit Musik spricht. In der „heiteren“ Stadt München hatte er mit dem Dirigenten Sergiu Celibidache „eine Art von profaner Offenbarung“. Er bringt diese Offenbarung auf einen Begriff, den er auf die Philosophie übertragen kann, denn Celibidache, der so langsam dirigierte, dass daraus Differenzierung und Transparenz erwuchs, ließ auf diese Weise eine „Architektur“ entstehen. Und das ist etwas, was auch große Philosophen können: sie bieten Architekturen, in denen man leben kann.
Für sich selber aber wählt Henrich einen anderen Begriff, und setzt damit auch einen Abstand: er sieht sich als „Archäologen und Rekonstrukteur großen Denkens“ (im Buch über den ontologischen Gottesbeweis durchauch auch mittleren und kleineren Denkens). Er ist als Philosoph kein Architekt, „jedenfalls nicht für den Eigenbau“, wie er mit feinem Sinn für die Grenzen seiner Vergleiche hinzufügt.
Bulucz befragt Henrich nicht als jemand, der dessen Werk gut kennt, er lässt immer wieder erkennen, dass er alles andere als eingelesen ist, er ist also nicht einmal Archäologe der umfänglichen Selbstbewusstseinstheorie, als deren Autor ihm Henrich ja auch gegenübersitzt. Trotzdem oder vielleicht sogar deswegen eignet sich Sterbliche Gedanken ganz hervorragend als Hinführung zum Werk, weil das kleine Buch nämlich erkennen lässt, wie man Philosophie leben kann, und zwar offensichtlich auch ein wenig anders als der eremitische Hans Blumenberg, der natürlich eine Bezugsperson ist, und der auch in einem Zusammenhang auftaucht, der Bulucz besonders interessiert. Anders als Blumenberg war Henrich nämlich großzügiger gegenüber Jacob Taubes, dem er einen Nachruf widmete. Auch hier im Gespräch charakterisiert er ihn noch einmal abwägend: „Er war ein Universalerkunder, im Gespräch mehr auflebend als in der Ausarbeitung.“
Dass Bulucz sich für Taubes, den Außenseiter unter den geisteswissenschaftlichen Granden der Bundesrepublik, interessiert, hat wohl auch wieder einen generationellen Aspekt: Denn Taubes war derjenige, der weder zu der archäologischen Architektur Blumenbergs noch zu der architektonischen Archäologie Henrichs in der Lage war. Er war vielleicht derjenige, der besonders deutlich erkennen musste (aus Gründen, die wohl zu persönlich sind, um sie anders als mit der alles andere als unverbindlichen Diskretion Henrichs anzusprechen), dass er nicht (mehr) so lesen und sicher nicht mehr so schreiben konnte, wie Henrich und Blumenberg es konnten. Wobei Blumenberg ja diktiert hat.
Die Taubes-Marginalie ist also zentral für dieses Buch, dem ich zum Ende hin auch noch eine Anregung entnommen habe, Theunissen zu lesen, den Henrich als Freund bezeichnet. Gibt es auch so etwas wie ein Fazit? Es gibt eines, und es klingt keineswegs resignativ, sondern auf jene Weise vernünftig, wie es der Gesprächston in Sterbliche Gedanken als gelebtes Wissen ahnen lässt: „Ich habe keine wirkliche Konzeption, die unsere Rolle als Mensch unter sieben Milliarden anderen davor bewahrt, nur als absurd erfahren zu werden. Wir sind selbstzentriert, und zugleich sind wir, wie auf der Hand zu liegen scheint, ganz ephemer im Ganzen.“
Dieter Henrich: Sterbliche Gedanken. Im Gespräch mit Alexandru Bulucz, edition faust 2015
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