The Greatest Icon Ever Filmed
Ein Text über Jesus-Filme aus dem Jahr 1993
My whole life has been movies and religion. That’s it. Nothing else. (Martin Scorsese)
Es mag schwer fallen, bei der Fülle an Bildern, in denen Jesus noch in der säkularisierten Gesellschaft präsent ist, sich vorzustellen, wie zögernd sich die frühen Christen aus dem mächtigen Schatten des alttestamentlichen Bilderverbotes herausgewagt haben. Die Geschichte des Christentums als abendländischer Religion verstellt den Blick darauf, dass am Anfang eine jüdische Splittergruppe stand, die sich allerdings sehr rasch im Römischen Reich etablierte und ihre Theologie in griechischen Begriffen entwickelte. Aber es dauerte bis ins 5. Jahrhundert, sich auf eine Christologie zu einigen, die für einen Großteil der inzwischen zur Staatsreligion gewordenen Glaubensgemeinschaft akzeptabel war – und die dann auch die bildliche Darstellung des Erlösers legitimierte.
Für Carl Theodor Dreyer wurden die verdrängten jüdischen Ursprünge der christlichen Religion ein Schlüssel zu seinem Projekt eines Jesusfilms. Er wollte Jesus als einen Juden zeigen und damit hinter die (auch im Kino bestimmende) ikonographische Tradition des Westens zurückgehen, die ihn seit der Renaissance als antik-idealischen Menschen zeigte. Die Judenchristen des 2. Jahrhunderts dachten sich Jesus noch als einen, der „keine schöne und edle Gestalt“ hatte, in der Typologie des „leidenden Gottesknechts“ beim Propheten Jesaja: Ein Skandalon für das griechische Denken, das vom christlichen Philosophen Origenes bereits abgeschwächt wurde, indem er meinte, Christus erschiene „einem jeden in der Gestalt, die seinem Vermögen und seinem Heile angemessen war“. Viel später erst sollte seine Auffassung – unter umgekehrten Vorzeichen – epochale Bestätigung erfahren. Mit Anbruch der Moderne begann auch das „Zeitalter der Kunst“, das subjektive Annäherungen an die Jesus-Gestalt erlaubte, ja, zur Regel machte.
In der klassischen ikonographischen Tradition vor allem der Ostkirche war der Maler noch eher ein „Werkzeug“ als ein eigenständiger Schöpfer, gebunden durch theologische Definitionen und eine damit korrelierende Formensprache. 451 fand die Kirche auf dem Konzil von Chalcedon jene entscheidende Formel, die in Hinkunft Orthodoxie von Irrlehren unterscheidbar machte (und zu der jeder Jesusfilm implizit Stellung nimmt). Jesus war in „hypostatischer Union“ zugleich „wahrer Mensch und wahrer Gott“ in einer Person, und damit auch Abbild (eikon) des unsichtbaren und nicht in Bildern zu fassenden Gottes. Damit wurde umgekehrt jedes Jesusbild zu einer Epiphanie des Göttlichen. Der Maler mußte nur ein „reines Herz“ haben und wie auch seine Farben und die Tafeln in der Eucharistie „geheiligt“ werden. Das Bild mußte zudem einem bestimmten spirituellen Formideal genügen.
Andrej Tarkowskijs Film Andrej Rubljow (1966-69) zeigt in einem zentralen Handlungsstrang nichts anderes als den Läuterungsprozeß des Künstlers zum Gelingen des Werkes. Er deutet aber auch bereits einen Umbruch an, durch den die individuellen Erfahrungen in einer Weise in den Schaffensprozeß eingehen, daß das Werk vom eher überpersonal konnotierten „Abbild“ zum „Kunstwerk“ wird. Zuerst verarbeitet Rubljow die Greuel des Tatarensturms in ein „Jüngstes Gericht“, nach dessen Zerstörung findet er erst nach jahrelangem Schweigen am Beispiel eines jungen Glockengießers seine Inspiration wieder. Der Film endet in einer triumphierenden Kamerafahrt über sein Hauptwerk, die „Heilige Dreifaltigkeit“. 1551 wurden Rubljows Ikonen vom Obersten Rat der Orthodoxen Kirche zum vollendeten Vorbild aller Kunst erklärt.
Das „Zeitalter des Bildes“ aber ging bereits zu Ende, weil die Malerei ihre Ausdrucksmöglichkeiten vor allem in der Entdeckung der Perspektive entscheidend erweitern konnte. In der Ikone sah sich der Betrachter der unmittelbaren Evidenz eines meist frontal gezeigten Gesichts gegenüber; jetzt wurden komplexere Geschehnisse darstellbar. Das Gesicht Jesu (als „vera icona“ in der Legende vom Schweißtuch der Veronika beglaubigt als das eines jugendlichen, bärtigen Mannes mit längerem, in der Mitte gescheitelten Haar) bekam seinen Torso zurück: Oft in der lange vernachlässigten leidenden Knechtsgestalt des Gekreuzigten (das älteste Kruzifix stammt bezeichnenderweise von einem spöttischen Römer und zeigt einen Jesus mit Eselskopf), aber auch nach dem Renaissance-Ideal eines „uomo universale“ in Michelangelos Statue „Christus mit den Leidenswerkzeugen“, die einen nackten jungen Gott zeigt, der nur durch die Utensilien mit der christlichen Heilsgeschichte in Verbindung steht. Bilderzyklen (etwa auf Flügelaltären) begannen der Tatsache Rechnung zu tragen, daß hier eine Geschichte mit mannigfachen Höhepunkten darzustellen ist.
Den Pionieren des Films war das bereits klar. Nach vor der Jahrhundertwende verfertigten sowohl die Gebrüder Lumière als auch Georges Méliès einen Jesusstreifen. Während erstere mit der (verschollenen) Verfilmung eines böhmischen Passionsspiels Vollständigkeit anstrebten (die dreizehn Szenen umfassen das Geschehen von der Anbetung der drei Könige bis zur Auferstehung), zelebrierte Méliès mit Le Christ marchant sur les flots (1899) die technischen Möglichkeiten der jungen Kunstform. Das „realistische“ Medium schien einen Traum zu erfüllen, dem Generationen von historisch-kritischen Gelehrten und unzählige Verfasser detailverliebter Bibel-Romane nachgehangen waren: einen fast dokumentarisch genauen „historischen“ Jesus zu rekonstruieren, der vorher nur durch die „Propagandaschriften“ der Urkirche bekannt war.
Regisseure von Jesusfilmen arbeiten sich gern durch größere Mengen wissenschaftlicher Literatur. Martin Scorses rechtfertigt seine Kreuzigungsszene in The Last Temptation of Christ (1988) mit der Lektüre eines Artikels im Fachmagazin „Biblical Archeology Review“. Dreyers Projekt wiederum scheiterte nicht zuletzt daran, daß er jahrzehntelang zahlreichen Fakten hinterher recherchierte, ohne Lessings ominösen „garstigen Graben“ der historischen Distanz überbrücken zu können.
George Stevens spielt in seinem monumentalen Versuch von 1963 schon im Titel mit dieser Lust. The Greatest Story Ever Told verdient ihr Prädikat erst durch die Form, in der Hollywood sie erzählt. Als definitive „Evangelienharmonie“ will der Film sowohl eine politisch plausible Geschichte erzählen wie auch Heilsgeschichte ins Bild bringen, wenn der Prolog des Johannes-Evangeliums („Am Anfang war das Wort“) illustriert wird durch eine Folge von Überblendungen, in denen das öde Weltall erleuchtet wird durch einen Lichtstrahl, der seinerseits in Kerzenlicht übergeht, das im Stall von Bethlehem leuchtet. Die Geschichte wird in einer Art „doppeltem Kursus“ erzählt, mit der Auferweckung des Lazarus als erstem Höhepunkt, der bereits den Einsatz des Händelschen „Hallelujah“ erfordert; nach der Pause folgt das Geschehen in Jerusalem, das seine Klimax im Missionsauftrag des Auferstandenen und seiner Entrückung hat, neuerlich unter massivem Einsatz von Händels österlichem Jubel. Diese Dramaturgie verrät einiges von den Schwierigkeiten, das Geschichtenmaterial in einen Spannungsbogen zu zwingen, und bietet zugleich eine elegante Lösung, ohne viel dazuerfinden zu müssen.
Die Geschichte Jesu, wie sie in den Evangelien erzählt wird, bereitet einer konventionellen filmischen Rezeptionsmustern entsprechenden Umsetzung erheblich größere Probleme, als die Anzahl der unternommenen Versuche vermuten lassen würde. Lange wandert Jesus mit einer nur vage charakterisierten Jüngerschar recht ziellos umher, große Mengen Redematerial verlangen nach einer Inszenierung, und eine weibliche Hauptfigur fehlt auch. Selbst Martin Scorseses The Last Temptation of Christ wirkt im Mittelteil, in dem auch Nikos Kazntzakis‘ literarische Vorlage weitgehend dem biblischen Bericht folgt, wie eine etwas lustlose Pflichtübung, während vor allem der weitgehend erfundene erste Teil eine originäre Handschrift aufweist.
Die Konzentration auf Judas als skeptisch-loyalen Begleiter hat Tradition. Schon Dreyer hat in seiner Jesus-Episode (Blade of Sadans Bog, 1919) den Verrat im Garten Gethsemane zu motivieren versucht. Nicholas Ray entwickelt in King of Kings (1960) die Geschichte um den Konflikt des Judas, indem er ihn zwischen Jesus und die in diesem Ausmaß dazuerfundene Figur des Revolutionärs Barrabas stellt.
Auch die Andeutung einer Liebesgeschichte mit Maria Magdalena findet sich nicht nur bei Scorsese, sondern etwa in Norman Jewisons Verfilmung von Jesus Christ Superstar, die einen zusätzlichen Song enthält, in dem Yvonne Elliman die Frage stellt: „Could we start again?“ Doch die Dinge nehmen bereits ihren Lauf.
Scorsese ist allerdings an diesen dramatischen Konstellationen nicht um der äußerlichen Spannung der Geschichten willen interessiert, sondern weil sie seiner Absicht entgegenkommt, Jesus‘ zwei Naturen in einer ständig gefährdeten Entwicklung zu zeigen. Stark an dem Dogma von Chalcedon orientiert, versucht er die alte theologische Frage nach dem Selbstverständnis Jesu zu beantworten. Durch den inneren Monolog begibt er sich in die Erzählperspektive des zweifelnden Jesus. Gleich in der fulminanten ersten Einstellung bildet die Kamera durch ihre Fahrt den vorübergehenden Gott ab, der in Jesus das Bewußtsein seiner göttlichen Natur hervorruft. Dieses Bewußtsein wird sich allerdings erst dort endgültig klar über sich selbst, wo die Versuchungsvision bis zu ihrem Ende durchgespielt ist. Noch die Auferweckung des Lazarus spielt Willem Dafoe so, daß Jesus alles andere als seiner selbst sicher wirkt. Judas und auch Maria Magdalena verkörpern in ihrer zögernden Haltung zu Jesus nur seine eigene Ambivalenz, deren Überwindung das Thema des Films ist.
Nicht so orthodox wie die des ehemaligen Ministranten Scorsese war Pasolinis Auffassung des Chalcedon-Dogmas: „Die Menschlichkeit Christi ist von einer solchen inneren Kraft getrieben, von einem solchen nie versiegenden Wissensdurst und Streben nach Überprüfung dieses Wissens und dabei ohne jede Furcht vor Skandal und Widerspruch, daß für sie die Metapher göttlich an den Grenzen der Metaphorik liegt und sie fast schon ideell eine Wirklichkeit ist.“ Die „moralische Schönheit“ Jesu zeigt sich auch in seiner Fremdheit gegenüber einer pessimistisch gesehenen Gegenwart.
Dies illustriert nicht zuletzt die Textvorlage. Indem Pasolini buchstäblich dem Matthäus-Evangelium folgt (mit allen seinen Eigenheiten: den „barbarisch-praktischen Mechanismen der Erzählung, den elliptischen Sprüngen in der Geschichte, den unproportioniert statischen Momenten, der Nichtbeachtung einer äußeren Chronologie“), soll schon die Struktur des Films Jesu „fundamentale Gewalttätigkeit“ zum Ausdruck bringen, mit der er dem Leben des modernen Menschen entgegensteht, dieser „grauen Orgie aus Zynismus, Ironie, Brutalität, Kompromiß und Konformismus“.
Il Vangelo Secondo Matteo (1964) versteht sich darüber hinaus ausdrücklich als Kritik an der westlichen ikonographischen Tradition und stattet nur die Pharisäer nach Bildvorlagen von Piero della Francesa aus. In der Forcierung der Gesichter nähert sich der Stil eher der statischen byzantinischen Ikonenmalerei. Am Anfang stehen die Blicke Marias und Josefs, Enrique Irazoqui wird oft in Großaufnahme gezeigt. Die gesamte Bergpredigt verzichtet auf die Zuhörer, wo Cecil B. DeMille seinem King of Kings (1927) noch 30.000 Komparsen als Publikum gegeben hatte. Il Vangelo Secondo Matteo stellt vermutlich die größte Annäherung eines Jesusfilms an einen „transzendenten Stil“ dar, wie ihn Paul Schrader charakterisiert hat. Dessen zwei Hauptvertreter, Yasujiro Ozu und Robert Bresson, bringen ungeachtet ihres verschiedenen kulturellen Hintergrunds durch den Stil ihrer Filme das „ganz andere“ der Transzendenz zum Ausdruck. Die traditionellen „religiösen Filme“ funktionieren, indem sie mit ihren Inhalten das Publikum zur Identifikation geradezu einladen, der transzendente Stil dagegen führt in eine Konfrontation.
Pasolini erzählt aus der Perspektive des Volkes, das in seiner Einschätzung Jesu schwankt. Die Unruhe überträgt sich beim Prozeß auch auf die Kameraführung und entlädt sich schließlich in der Kreuzigung mit ihren apokalyptischen Begleiterscheinungen. Hier läßt Pasolini den Film nicht enden, sondern zeigt auch noch die Erscheinung des Auferstandenen. Es ist zumindest eine Diskussion wert, ob diese letzte Einstellung nicht auch jener „Stasis“ entspricht, in der Schrader das Ziel jedes spirituellen Stils sieht: einen Zustand der Kontemplation nach einem wachsenden Unbehagen, das in einer entscheidenden Handlung („decisive action“) umschlägt in eine Einstellung meditativer Schau. Schraders Auffassung, daß bei Dreyer der transzendentale Stil nur unvollständig ausgeprägt sei, scheint eine Bestätigung in dessen Plan zu finden, den Jesus-Film mit der Kreuzigung enden zu lassen.
Pasolini hat sich in seinen Filmen noch öfter direkt oder verschlüsselt auf Jesus bezogen. Am deutlichsten wohl in La ricotta (1963), das man als eine Art Satyr-(Vor)Spiel zu einer Jesus-Trilogie der fortschreitenden Abstraktion sehen kann. Der Komparse, der bei Filmdreharbeiten am Kreuz stirbt, zeigt noch deutliche Anleihen beim biblischen Stoff. Nach dem Evangelienfilm reflektiert Pasolini in Teorema (1968) noch einmal den Einbruch des Göttlichen in den bürgerlichen Alltag, verzichtet aber auf explizite Jesus-Motive. In Porcile (1969) schließlich entwickelt er einen eigenen Mythos vom Zivilisationsprozeß, indem er Anklänge an die Geschichte Jesu mit Motiven von Rousseau (der edle selbstgenügsame Wilde) bis zu Dostojewskis Novelle vom Großinquisitor in einer Figur verdichtet, die im Zuge der Etablierung einer bürgerlichen Gesellschaft ein gewaltsames Ende findet.
Dreyer ist außer Pasolini der einzige, der verschiedene Zugänge zur Jesus-Gestalt ausprobiert hat. Neben der frühen Stummfilm-Episode und dem nur als Drehbuch vorliegenden „veristischen“ Jesus-Film trägt die Gestalt eines „Narren Gottes“ in Ordet (Das Wort, 1955) unverkennbar Züge eines „anonymen Jesus“, der als mehr oder weniger verfremdeter Bezugspunkt ein mindestens ebenso interessantes Thema wäre.
Rettungs- und Erlösungsmythen werden oft mit Referenzen zur Jesus-Figur überhöht, etwa in James Camerons Terminator-Filmen, wo der Held (mit den Initialen J.C.) schon als Kind in großen Gefahren schwebt, aber für seine Aufgabe aufgespart wird. Bis an den Rand der Unkenntlichkeit werden Jesus-Bezüge entstelt bei gewalttätigen Protagonisten wie in William Friedkins Rampage oder sogar in Scorseses Remake von Cape Fear, das mit biblischen Motiven fast überfrachtet wirkt.
Der Jesus-Stoff leistet für den Film das, was die griechische Mythologie lange Zeit für die Literatur bedeutet hat. Er liefert Inhalte, an denen das Kino seine Sprache erproben kann, mit denen es seine Innovationen feiern kann (der erste Film in Cinemascope war auch ein Stoff, der durch einen heilsgeschichtlichen Bezug geadelt wurde: The Robe feiert die große reine Liebe unter christlichen Vorzeichen, den Sieg der Tugend über das dekadente Weltreich) und aus dem es sich schließlich bedient, indem es seine Versatzstücke zitierend und variierend in Kontexte überträgt, die sich einer eindimensionalen Lesart verweigern. Oft zum Leidwesen der Kirchenvertreter, die gern ein Monopol auf Jesusdeutungen haben würden – und sei es das der Verurteilung.
Diesen Text habe ich 1993 anlässlich der von Claus Philipp kuratierten Retrospektive "Jesus Walking on Screen" für das Programmblatt des Stadtkinos Wien geschrieben.
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