"Eine soziale Wahrheit"

Ein Gespräch mit Mantas Kvedaravicius (1976-2022) aus dem Jahr 2011

Herr Kvedaravicius, wie kommt ein litauischer Kulturwissenschaftler, der in Cambridge über Schmerz promoviert, dazu, einen Dokumentarfilm in Tschetschenien zu drehen?

Ich bin ursprünglich Anthropologe und schreibe ein Buch über Folter. Nach Tschetschenien kam ich über die koloniale Idee der Feldforschung: Jemand geht an einen fremden Ort und macht sich mit einem „lokalen“ Leben vertraut. Schritt für Schritt haben sich aber bei meinen Recherchen die Schichten des Lebens verschoben - was außergewöhnlich erschien, wurde alltäglich.

Wie findet man Zugang zu einer Gesellschaft wie der tschetschenischen?

Persönliche Nähe war einer dieser Schlüssel, das Gefühl von Alltäglichkeit zu bekommen, auch der Alltäglichkeit von Gewalt. Ich habe im Verlauf dreier Jahre vierzehn Reisen dorthin unternommen, insgesamt war ich mehr als ein Jahr vor Ort. Im Kaukasus zählen Beziehungen: mit wem kommst du, wer stellt dich vor? Wegen des Kriegs sind die Kreise eng geschlossen, wenn man aber drinnen ist, hat man das Vertrauen. Mit dem Mann, dem man das Ohr abgeschnitten hat, habe ich sehr viel Zeit verbracht, ohne etwas zu notieren. Ich hasse, ehrlich gesagt, die Kategorien der Anthropologie, und sie sukzessive hinter mit gelassen.

Noch einmal genauer: Was war der intellektuelle Ausgangspunkt für den Film Barzakh?

Ich begann mit Fragen zur Folter. In welchen Situationen wird sie verwendet, welche Effekte hat sie auf Gesellschaft, welche Beziehung zwischen  Schmerz und Staatsgewalt entsteht? Zu Beginn stand ich noch sehr unter dem Einfluss von Giorgio Agambens Buch „Homo sacer“, diese philosophische Perspektive wurde später irrelevant. Die Dinge, die man nur durch Details hervorbringen konnte, wurden wichtiger. Mein Zugang wurde phänomenologischer. Damals begann ich auch zu filmen.

Barzakh bezieht sich auch auf einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod.

Der Film begann mit der Idee des Traums. Mütter träumen von Orten, an denen die Verschwundenen sind. Das hat mich auf dieses andere Medium Film gebracht. Ich bin auch Unterwasserarchäologe, ich tauche und interessiere mich für Seen, und in Tschetschenien haben sie von Hubschraubern aus Leichen in einen See geworfen. Das wurde ein Paradigma für die Ungewissheit, denn niemand weiß genau, wo diese Verschwundenen bleiben. Welches Grab finden sie? Der Traum als Medium bestimmt Barzakh, aber auch andere Wahrheiten, zum Beispiel Stein- oder Knochenorakel. Sie enthalten eine andere Wahrheit als die der Staatswahrheit. Eine soziale Wahrheit.

Eine markante Szene zeigt eine Hochzeit, bei der eine Lebenslust zu sehen ist, die nicht zum Klischeebild von Tschteschenien passt.

Die Hochzeitsszene führt alles das zusammen, was die Rolle der Frauen in der Gesellschaft anlangt. Man sieht ein großes Selbstbewusstsein der Frauen. Die russische Besatzung und der islamistische Fundamentalismus sind Zwangsjacken, die das Leben in seiner Komplexität nicht zulassen.

Erschütternd hingegen sind die Szenen, die in den verlassenen Foltergefängnissen gedreht wurden. An einer Stelle hat jemand 2006 an die Wand geschrieben: Lebe ich noch oder bin ich schon tot?

Es gibt zwei Foltergefängnisse im Film. Diese Szene wurde schon 2006 von Zarema Mukusheva gedreht, sie war damals mit Natalyia Estemirowa dort. Dieses Gefängnis wurde danach geschlossen. Das Material hat mich so mitgenommen, weil es sich auch wieder auf das Paradigma des Films bezieht: Bin ich lebendig oder schon tot? Das ist ja kein Gedicht, kein Haiku, sondern eine existenzielle Frage in dieser Situation.

Waren Sie während des Drehens jemals in Gefahr?

Mit der Gefahr ist das so eine Sache: Sie geht vorüber, und danach ist man sich nicht sicher, wie brenzlig die Sache eigentlich war. Ich wurde mehrmals festgehalten. Natalyia Estemirova, die 2009 ermordet wurde, hat mich einmal aus einem Polizeistützpunkt herausgeholt. Ich musste natürlich sehr diskret vorgehen.

Was ist nun eigentlich die Logik der Folter in Tschetschenien: Dient sie der Einschüchterung der Bevölkerung, oder behaupten die russischen Sicherheitskräfte und die lokalen Machthaber tatsächlich, dass sie dadurch Verbrechen verhindern?

Ich glaube, da gibt es Schichten. Erstens werden Geständnisse erpresst. Denn es gibt so viele Verbrechen, man muss Resultate bei der Verbrechensbekämpfung vorweisen, das funktioniert wie am Fließband, man verhaftet einen jungen Mann, foltert ihn, und hat dann einen geständigen Verbrecher. Diese Polizeiarbeit produziert Terroristen fast nach Quote, die Einschüchterung der Bevölkerung geht damit wie nebenbei einher.

Barzakh zeichnet sich durch eine gewisse Sanftheit aus, die im Gegensatz zu dem – mir fällt kein besseres Wort ein - „männlichen Primitivismus“ steht. Gibt es in der Alltagskultur Ansätze, die den Gegensatz zwischen fundamentalistischem Islam und russischer Hegemonie unterlaufen könnten?

Ich erinnere mich an diese Sufi-Rituale, man spricht von „zikr“ oder in diesem Fall eher noch von „movlid“. Das ist so etwas, das die Menschen zusammenbringt, aber im Fernsehen gibt es inzwischen auch „zikrs“, die von Soldaten begangen werden, die dabei Tiere töten. Ich glaube aber, dass das ursprüngliche Moment nicht vollständig verloren gegangen ist, diese Beziehungen, die sich auch in der Gastfreundschaft äußern, ein bodenständiger, persönlicher Umgang. Wenn ich auf etwas setzen müsste, dann darauf: Beziehungen zählen.

Mantas Kvedaricius, geboren 1976 in Litauen, hat in Oxford und Cambridge studiert, und über Religion, Recht und politische Theorie unterrichtet. Er forscht seit 2006 im Nordkaukasus. Barzakh ist sein erster Film.

Dieser Text erschien ursprünglich in der taz

Am 2. April 2022 wurde Mantas Kvedaravicius in Mariupol im russischen Krieg gegen die Ukraine getötet.

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