Eine Ferienkolonie am Marmarameer
Filmgeschichte: "Arkadas" ("Der Freund", 1974) von Yilmaz Güney
Ein Inspektor ruft an. Azem hat sich entschlossen, seinen Freund Cemil zu besuchen. Die beiden kennen einander seit vielen Jahren, ihre Wege waren aber sehr unterschiedlich. Cemil ist feist geworden von einem Leben in Wohlstand. Azem, der von früher her den Rufnamen „Inspektor“ hat, kommt, um dieses Leben zu inspizieren.
Es ist ein Ausnahmezustand der besonderen Art, den er vorfindet: Die Türkei steht im Jahr 1974 unter der Kontrolle eines Militärregimes, aber die reichen Menschen in einer „gated community“ am Strand außerhalb von Istanbul achten nicht auf die Panzerfahrzeuge, die einmal vorbeifahren (der einzige reaction shot zeigt einen Mann aus dem einfachen Volk). Cemil und seine Klasse leben freizügig und oberflächlich, sie spielen Karten, trinken Alkohol, und tratschen. Die Frauen und Mädchen tragen knappe Bikinis, sie verwenden viel Zeit auf Schönheitsprozeduren, das könnte alles genauso gut an der Cote d’Azur stattfinden.
Yilmaz Güney, der Regisseur des Films Arkadas (Der Freund), spielt selbst die zentrale Figur, den Freund Azem, den Inspektor, der einfach bei Cemil und seiner Frau Quartier nimmt und beginnt, diese Welt in Augenschein zu nehmen. Er ist eine distanzierte Figur, aber auch attraktiv mit seiner asketischen Anmutung. Er flirtet ein wenig mit Melike, der 18 Jahre alten Tochter von Cemil. Er gibt ihr ein Buch zum Lesen: Aus Sehnsucht nach dir habe ich die Ketten abgetragen von Ahmed Arif, einem kurdischen Nationaldichter.
Die ersten Szenen von Arkadas sind überraschend in ihrer Verbindung von sexueller Libertinage und traditioneller Kultur: in einem Bordell, in dem Cemil feiert, singt eine alte Frau, sie trägt Kopfschmuck/tuch, dazu tanzen barbusige Frauen. Azem/Güney betritt diese Welt wie ein Spion, eer ist häufig in einer Beobachterposition, wird aber auch von vielen Menschen argwöhnisch beobachtet. Die Frau von Cemil macht sich Sorgen um ihre Tochter, aber die Verführung ist nicht sexuell, sondern ideologisch. Azem suggeriert ihr ein Klassenbewusstsein: sie bemerkt zum ersten Mal, dass sie noch nie im Leben etwas gearbeitet hat. Vom Beobachter wird Azem zunehmend zum Agitator: er spricht mit den Arbeitern und Bediensteten, er rekrutiert einen jungen Mann, dessen Mutter für eine der reichen Frauen schuftet (dieser Halil wird sich schließlich, zum Zeichen seiner Bewusstwerdung, die langen Haare abschneiden).
Das eigentliche Projekt aber ist Cemil. Er soll aus dem „Sumpf“ geholt werden, oder lernen, wie er sich selbst daraus befreien kann. Eine Fahrt auf das Land, zu den Ursprüngen, bringt ihn zu sich selbst zurück. Guney scheut dabei kein Pathos: der gemeinsame Freund Muhittin hat in der kargen Gegend ein kleines Paradies geschaffen, weil es ihm gelungen ist (mit Hilfe einer Maschine, die der Ingenieur Azem, der auch ein Sozialingenieur ist), Wasser aus dem Boden zu holen. Muhittin hat eine Welt begrünt, während Cemil nur seine glänzende Haut und graugewellte Haare vorzuweisen hat, die Ausbeute seiner Vergnügungen.
Der kurdische Revolutionär Yilmaz Güney begab sich mit Arkadas in mehrfacher Hinsicht an das andere Ende der Türkei: man kann hinter dem abstrahierten Horizont, mit dem er die Fahrt in den Osten visuell nachvollziehbar macht, auch eine kategoriale Grenze sehen. Allerdings gibt es Vermittlungen zwischen diesen Welten, sie müssen Cemil nur erst wieder bewusst gemacht werden. Seine Bewusstwerdung ist auch eine Anamnese: in der ländlichen Welt ist (trotz aller offensichtlichen Armut und einer harten Lebensrealität: an dem Blut, das aus dem geschlachteten Schaf fließt, machen sich Katze und Huhn zu schaffen) der Fortschritt angelegt.
Eine eigene Beobachtung wäre der Soundtrack wert: neben dem Schmachtfetzen Forever and Ever von Demis Roussos gibt es viel typischen Siebzigerjahresound à la Eis am Stiel, aber auch interessante synthetische Begleitmusik, bei der man manchmal den Eindruck hat, sie diene vor allem dem Zweck, Druck auf Cemil zu machen.
Azem bleibt bei all dem eine eindimensionale Figur. Er stellt Cemil die Lebensfrage: „Bist du glücklich?“ Man sieht aber, dass er die Antwort schon weiß. Er will über Cemil an eine Klasse heran, und damit stellt sich die Frage nach dem Zielpublikum dieses Films: die radikal verwestlichte Türkei der frühen 1970er Jahre hätte mit dem Kino von Yilmaz Güney (und den Gedichten von Ahmed Sarif) zu den Wurzeln einer Gesellschaft zurückfinden sollen, in der Paprika über die Wüste hinauswächst. Im Grunde schlägt Güney hier ein ökologisches Modell vor: Aquakultur gegen Whisky-Dekadenz.
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