Gartenarbeit
Mein Kanon: "The Zone of Interest" (2023) von Jonathan Glazer
Es gibt viele Wege, in die Geschichte einzugehen. Bei einigen hochrangigen Nazis ist der Name für alle Zeiten mit spezifischen Teilen des Menschheitsverbrechens der Shoah verbunden. Nach Reinhard Heydrich hieß die Aktion Reinhardt, der Versuch, ab Juli 1942 alle Juden und Sinti und Roma im deutsch besetzten Polen zu ermorden. Und Rudolf Höß, der davor schon das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aufgebaut und geleitet hatte, bekam 1944 auch noch „seine“ Aktion: die Ermordung von 400000 jüdischen Menschen aus Ungarn. Der Film The Zone of Interest von Jonathan Glazer endet mit dem Moment, in dem Höß, nachdem er eine Weile von seiner Tätigkeit in Auschwitz nach Berlin zurückbeordert worden war, wieder bereit ist für den Einsatz im Osten – für die Aktion Höß. Seine Aufgabe ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er selbst bei einem mondänen Empfang mit der NS-Elite in Berlin nur daran denken kann, wie er diese Gruppe vergasen könnte: es wäre schwierig, wegen der hohen Decken. Der Satz, den Höß (Christian Friedel) am Telefon gegenüber seine Frau „Mutzi“, die während seiner Versetzung mit der Familie in Auschwitz geblieben war, äußert, enthält in einer radikalen Verdichtung die Moral von Höß: Töten als Beruf ist ihm so selbstverständlich geworden, dass er das Freund-Feind-Schema (oder die Differenz zwischen Volk und dessen konstruierten Anderen) gar nicht mehr braucht. Auch so kann man die Szene lesen: Deutschland, hätte es den Krieg gewonnen, die „Endlösung“ zu Ende gebracht, hätte danach begonnen, auf sich selbst loszugehen. Denn der Tod hat eine Macht über die, die ihn bringen.
Der Satz ist ein rare fiktionale Zuspitzung in einem Film, der von einem literarischen Text ausgeht, diesen aber sehr weitgehend durch Dokumentiertes ersetzt. Seinen Titel hat The Zone of Interest bis heute von dem Roman von Martin Amis. Allerdings hat Jonathan Glazer schon mit einer Vorentscheidung auch Stellung zu der Vorlage genommen. Denn er entschloss sich, auf Deutsch und Polnisch zu drehen, mit Darstellern und Darstellerinnen, deren Sprache er selbst nicht verstand. Bei Amis ist das Englisch der größte Verfremdungsfaktor: Er verteilt die Geschichte auf drei Stimmen (der Lagerkommandant Doll, der mittlere, distanzierte Funktionsnazi Golo Thomsen und der Jude Szmul aus dem Sonderkommando), aber er wird den Umstand nicht los, sondern agiert ihn grotesk aus, dass das Englische die Siegersprache des Zweiten Weltkriegs ist. „I’m a trifle peeved about my black eye“, so Höß bei Amis, nachdem er sich ein blaues Auge zugezogen hat. Spricht so ein deutscher Vernichtungsfunktionär? Oder nicht doch eher ein britischer Snob? Glazer konzentriert sich stattdessen auf den historischen Rudolf Höß und dessen Frau Hedwig, und auf das Haus, in dem die Familie Höß damals lebte – direkt neben den Umgrenzungen des Lagers. Das Paradies (der wesentliche Teil des Films spielt im Sommer, die Gartenanlage ist im Wachsen und soll irgendwann perfekt sein) liegt neben der Hölle, die allerdings nicht zu sehen ist – nur deren Spuren: Geräusche, Himmelserscheinungen, Asche im Fluss.
In der Geschichte der Repräsentation der Shoah setzt Glazer damit den letzten paradigmatischen Akzent. Denn die Filmgeschichte von Auschwitz entfaltete sich in einer Reihe von Dichotomien: Bilderlosigkeit und Nachträglichkeit (die Kameras kamen mit den Befreiern), Tabu und Schaulust (Lanzmann/Spielberg), Opfer und Täter. Ein kleiner Kanon dieser Versuche würde wohl so aussehen: Die Todesmühlen, Nacht und Nebel, Pasazerka, die TV-Serie Holocaust, Shoah, Schindler‘s List, Son of Saul, The Zone of Interest. Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade die beiden jüngsten aus dieser Reihe Strategien einer peniblen Rekonstruktion mit einem konsequenten Konzept von Off oder hors-champ verbinden.
Laszlo Nemes ging mit einer sehr beweglichen Kamera in das Innerste des Todeslagers, in den Bereich, in dem die vier Fotografien entstanden, die als das Dokument gelten, das dem Unsichtbaren und Undarstellbaren (und damit der Zone des von Lanzmann dekretierten Bilderverbots) am nächsten kam. Aber auch bei ihm blieb Auschwitz, obwohl die Schauspieler sich mittendrin bewegen, im wesentlichen außerhalb des Bilds: denn die Hineinnahme durch die Steadycam verstärkte nur den Eindruck des Ausschneidens aus einem nicht repräsentierbaren Gesamtzusammenhang. Glazer steigert diesen Effekt nun, indem er das Auschwitz-Tabu vollständig respektiert, also konsequent außerhalb des Lagers bleibt – und damit umso stärker auf Konjektur setzt, also auf Vervollständigung des Bildes im Kopf der Betrachter. The Zone of Interest macht in dieser Form nur Sinn als ein Endpunkt eben dieser langen Geschichte von Darstellungen im Zeichen von Darstellungsoptimismus (Spielberg und viele andere) gegen implizite Sakralisierung des nicht Darstellbaren. Auschwitz als das negative Allerheiligste weist der Kunst einen Platz im Vorhof zu. In diesem Vorhof bewegt sich Glazer, wohl wissend, dass man sich kein Bild vom Innersten machen darf. Man kann es nur erschließen.
Hedwig Höß lässt einen Garten entstehen, der irgendwann auch die Mauern des Lagers überwuchern würde. Was sie aber nicht durch Vegetation entschärfen kann, sind die Geräusche der Vernichtung. Glazer mischt den Ton so, dass Vorfälle im Lager jeweils genau in dem Maß vernehmbar sind, dass es darauf ankommt, ob man sie hören will – man kann sie auch leicht überhören, zumal wenn man daran gewöhnt ist, wie man es bei der Familie Höß unterstellen kann. Beim Publikum des Films aber kann man davon ausgehen, dass es besonders auf diese Dinge achten wird, dass es die Ohren spitzen wird, wie man umgangssprachlich sagt, um jedes Indiz für die Vorgänge im Off mitzukriegen. Glazer buchstabiert sehr konsequent verschiedene „Öffnungen“ durch, in denen das Innen in das Außen drängt: von einem Kinderzimmer aus kann man hinüberschauen (ein Blick, der für die Kamera verschlossen bleibt), im Fluss, an dem die Familie in der ersten Szene ein Picknick macht, taucht Totenasche auf. Er schafft aber vor allem selbst eine Zone des Übergangs: er filmt Szenen in Night Vision, in denen die polnischen Hilfskräfte im Haus Akte des Widerstands setzen. Sie verteilen Lebensmittel (Äpfel) dort, wo tagsüber die Arbeitskräfte im Einsatz sind, die bei der Selektion von der sofortigen Tötung ausgenommen wurden.
In der längsten dieser Passagen ist im Bildhintergrund hinter Bäumen ein Zug zu sehen, eigentlich nur dessen Rauchausstoß, ein anzunehmender Transport, der schließlich bei den Öfen am Horizont seinen Bestimmungsort erreicht. Diese Einstellung ist das vielleicht virtuoseste Stück Inszenierung oder Visualisierung in The Zone of Interest, und man könnte natürlich fragen, ob Glazer mit allen seinen Strategien der Objektivierung (das Haus als Aufzeichnungsraum für ein nicht dramatisches Spiel, von dem sich die Regie zurückgezogen hat) nicht doch wieder bei einer Künstlergeste landet wie Spielberg, der sich bei aller Redlichkeit seiner persönlichen Intentionen doch bei Auschwitz als Filmemacher bedient? Andererseits ist das Faktum Auschwitz nun einmal in der Welt, und es ist mit Reaktionsbildungen zu rechnen, und Glazer zeigt in dieser Passage am ehesten so etwas wie einen Traum, in dem das Unvorstellbare zu einem Bild drängt. Zu einer Figur auch für das Innerste der Shoah, denn dass es Züge waren, die Opfer aus ganz Europa an ihren Schicksalsort transportierte, dass die Infrastruktur des frühen Industriezeitalters das systematische Töten (den „Verwaltungsmassenmord“, so Hannah Arendt) ermöglichte, gilt weiterhin als ein Differenzkriterium zu anderen Genoziden. Als ein Alleinstellungsmerkmal.
Auschwitz wurde im Jänner 1945 befreit, also vor bald 80 Jahren. Die Dauer eines durchschnittlichen Menschenlebens liegt also zwischen den Ereignissen, auf die Glazer sich bezieht, und seinem Film. Stärker als bei jedem anderen Thema muss The Zone of Interest auch in seinem Verhältnis zu diesen 80 Jahren gelesen werden. Als ein Film, der nicht zuletzt die deutsche Geschichtspolitik in seine Struktur aufnimmt: die Absolution (mit Fragezeichen), von der Daniel Marwecki in seinem Buch über Israel und die deutsche Staatsräson spricht, geht mit einer Absolutierung von Auschwitz einher. Glazer zeigt somit eine Variante der Banalität des Bösen, die bei ihm natürlich auch in dem Sinn eine Rolle spielt, in dem Hannah Arendt sie beschrieben hat: als Abwesenheit einer qualifizierenden moralischen Negativität, eines furchteinflößenden Individuums, das sich über den Kern der menschheitlichen Ethik hinwegsetzt. Die Banalität des Bösen gewinnt bei Glazer aber noch eine andere Facette: Die Absolutierung von Auschwitz war ja niemals ein Hindernis, sich in vielfacher Form gerade auch in Deutschland und Österreich mit den NS-Jahren in Film und Fernsehen zu beschäftigen. Nahezu alle dieser meist rechtschaffenen Versuche sind letztlich banal angesichts des Bösen, von dem sie sich eine Vorstellung zu machen versuchen. Unsere ganze Kultur ist tendenziell banal angesichts des Zivilisationsbruchs, über den hinwegzugehen ihr gar nichts anderes übrig blieb, wo sie nicht konsequent auf Verstummen setzen wollte.
Glazer setzt Auschwitz figurativ in seine negative Absolutheit ein, er bildet somit das fiktionale Komplementärstück zu Lanzmanns dokumentarischem Tabu. Er setzt eine räumliche Grenze, die zu einer Figur des zeitlichen Abstands wird: Bei ihm ist Auschwitz ist nun tatsächlich eine Zone, nicht mehr eine des „Interesses“ (der Titel ist bei Amis die obszönste Stelle im ganzen Text, gerade, weil er einen banalen bürokratischen Begriff aus dem Deutschen überhöht, der sich auf Gebietsbeschlagnahmung bezog), sondern eine, bei der sowohl Interesse und Desinteresse (im alltäglichen Sinn des Worts) keine adäquaten Zugänge sind. Glazer hat sich im Detail über alles informiert, was ihm zu dem millionenfachen Morden erreichbar war. Er platziert diese „Realien“ vor allem dort in der Erzählung, wo im Haus Höß der klandestine Widerstand stattfindet. Der Alltag weiß davon nichts. Und der Brief der Mutter von Hedwig Höß, die am ehesten in der Lage ist, das Transzendente hinter der Mauer zu lesen, landet im Ofen.
Dieser Text wurde ursprünglich für die Zeitschrift kolik.film (Heft 41 / Mai 2024) geschrieben.
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