Filme und Folgen (76)

Notizen: Dezember 2024

Zinema Kornii Hrytsiuk Ukraine 2024

Fulminante filmhistorische Montage über die propagandistische Vorbereitung des Kriegs gegen die Ukraine in Filmen und Serien der Russischen Föderation. Kornii Hrytsiuk weist nach, dass mehr oder weniger sofort nach dem Ende der Sowjetunion ein Diskurs einsetzte, der die Menschen in den Nachbarstaaten herabwürdigte – zuerst Tschetschenen, dann auch Tadschiken, und immer schon auch das Brudervolk in der Ukraine, aus dem das Klischee ungebildete Bauern machte. Und natürlich „Banderiten“, also Anhänger von Stepan Bandera, dessen Politik im Zweiten Weltkrieg bis heute für den Vorwurf herhalten muss, die Ukraine wäre nazistisch. Zahlreiche Ausschnitte geben Aufschluss darüber, dass der Krieg der Bilder schon lange im Gang war, auch damals schon als Angriffskrieg – zum Teil liefen diese Filme und Serien sogar in der Ukraine, wo lange Zeit nach 1991 wichtige Medien in russischem Besitz waren. Besonders interessantes Detail: Im russischen Ableger der Nanny-Serie war die Nanny in Moskau eine junge Frau aus Mariupol, und natürlich eine komische Figur. Sexuelle Verfügbarkeit ist nebenbei auch eines der Klischees, die Russlands gesteuerte Medien über ukrainische Frauen gern verbreiten. Die Kriegshandlungen 2014 und die Vollinvasion 2022 kamen klarerweise nicht aus dem Nichts. Hier wird die Atmosphäre deutlich, die Putin erzeugen ließ, oft mit „pseudo-historischen Filmen“ (Hrytsiuk), um irgendwann Lenins Irrtum mit Gewalt zu korrigieren: Putins Meinung nach ist die Ukraine ein Missverständnis aus der bolschewistischen Nationalitätenpolitik. Notiert habe ich mir, um eventuell zu schauen: Die neun Leben des Nestor Machno (Serie), The White Guard (Serie nach dem Buch von Bulgakow), Russian Nature (Film). (Stream Filmfest Cottbus)

Jugendliche Peter Patzak Österreich 1971

Großartiges Zeitdokument, in dem Patzak ein paar junge Leute aus verschiedenen Gegenden Österreichs vorstellt. Auftakt mit der Friseurin Fräulein Ursula, die in der Freizeit auch Fußball spielt, und abends gern tanzen geht. Dabei geht für das Anziehen einige Zeit darauf, mit den Eltern wird auch die Länge des Rocks diskutiert. Solche Details, wie auch die Länge der Haare, tauchen mehrfach auf: „Haare sind für mich ein Ausdruck persönlicher Freiheit“, sagt ein junger Mann. Weniger wichtig ist die Frisur bei einem Bergbauernsohn aus Tirol, der auch in der Fabrik arbeitet. Ein Mädchen aus Salzburg kommt aus bildungsbürgerlichen Verhältnissen, Studienwunsch: Musikwissenschaften, Abendbeschäftigung: Bridge spielen. Ein junger Mann aus Wien-Favoriten findet Inspiration bei dem Protestsänger Donovan. Er engagiert sich in der SJ, selbstbewusst belässt er es bei der Abkürzung, als wüsste alle Welt, dass Sozialistische Jugend und nicht Societas Jesu gemeint ist. Er arbeitet auch in einem Indochina-Komitee mit. Der stärkste Beitrag ist der letzte, über eine Verkäuferin namens Elfi, die nach der Arbeit von der Chefin über Nacht eingesperrt wird. Als ein Junge an ihr Fenster kommt, und hinauffragt, was sie gern hätte, antwortet sie provozierend: „Menschenfleisch“. Man kriegt nicht ausdrücklich mit, ob die Kamera sie kokett gemacht hat, sie arbeitet jedenfalls deutlich mit, viele Szenen haben ansatzweise inszenierten Charakter, zum Beispiel, als sie von einer Telefonzelle (mit Erpressermethode, Handtuch über der Hörermuschel) ihre Chefin anruft, um ihr zu drohen. Elfi ist ein „Mistbratl“, ein „Partisanenmensch“, aber auch „ein liaber Kerl“. Sie ist „da drunten aufgewachsen“, also an der Südgrenze Österreichs zum Slowenischen. Sie besucht schließlich auch ihre Eltern, man spielt Karten, der letzte Satz von Elfi lautet: „Ich will in ein Lehrlingsheim“ (sie würde auch gut in Bambule passen). Freeze Frame ihres Gesichts wie bei Truffaut in Les 400 coups. (Stream Filmarchiv Austria)

Baby Reindeer Richard Gadd Großbritannien 2024

Britischer Siebenteiler auf Grundlage eines Theatermonologs von Richard Gadd, der nun auch die Hauptrolle spielt: einen Comedian, der nicht besonders viel reißt, und der in einem Pub hinter der Theke arbeitet. Dort taucht eines Tages Martha auf (Jessica Gunning), eine stark übergewichtige Frau, die ihn nach allen Regeln des Stalkings zu belagern beginnt, nachdem er ihr eine Drink spendiert hatte („I felt sorry for her“). Man kann sich das auf der Bühne in etwa vorstellen, wie Donny Dunn, so die Hauptfigur, die Emails von Martha vorliest, wie er von seinem Loserleben erzählt. Auch in der Fernsehfassung spielt ein Bühnenmonolog eine wichtige Rolle, dort ist es allerdings ein spontaner Ausbruch von Drama, nachdem eine Comedy-Routine nicht funktioniert hat, ein kathartischer Moment, in dem Donny sich (öffentlich) seiner Verletzungen bewusst wird. Baby Reindeer erweitert das Thema Stalking dabei auf (gay) grooming (bis zur Vergewaltigung), allgemein auf das Thema sexuelle Identität, auf das der Umgang mit Martha bezogen wird: sie wird für Donny auch deswegen zu einer Obsession, weil er in ihr seine Ambivalenzen (seine Bisexualität, seine scheiternde Beziehung zu der Transfrau Teri, sein Obdach bei der Mutter seiner Ex-Freundin, aber auch seine prekäre Position im Entertainment, sein Leben mit den sozialen Medien) verkörpert sieht. Filmisch ist das alles noch einmal zugespitzt, in einer kleinteiligen, intensiven Montage, alles immer gebaut um das schmale Gesicht von Richard Gadd im Fischauge der Kamera. Oddes Ding, aber insgesamt stimmig. (Netflix)

The Franchise 8 Folgen Jon Brown USA 2024

Ein Spoof auf die Produktion von Superheldenfilmen oder eben Franchises. In diesem Fall produzieren Maximum Studios einen Film namens Tecto, bei dem an jedem der Drehtage am Beispiel einer geplanten Szene deutlich wird, wie lächerlich und dämlich das Ganze ist. Dazu kommt ein arthousiger Regisseur mit Credentials aus Locarno, Eric Bouchard (The Cheese from Düsseldorf), wobei Daniel Brühl in dieser Rolle so etwas wie eine Fehlbesetzung einer Fehlbesetzung darstellt, also daneben ist on so many levels. Hauptfigur ist ein Regieassistent (Himesh Patel), der bald eine wisecrackende Assistentin an die Seite bekommt, die mit lakonischen Kommentaren alles auf die Spitze treibt: Lolly Adefope spielt Dag(mara). Eigentlich kriegt man ganz gut mit, wie sehr diese Blockbuster-Dinger, die immer alles beiseite zu schieben scheinen, zugleich jeden Satz in einem Reddit genau verbuchen, und natürlich als System hochnervös sind. The Franchise hatte vermutlich im Sinn, den Moment zu erwischen, in dem das System Superhelden-Franchise entropisch wird, ist aber nun selbst nicht viel mehr als ein frivoles Meta-Spielchen, in dem ich ein bisschen Set-Lingo (crewmour, locationship) gelernt habe. Armando Iannucchi war als Produzent dabei, das war ein Anreiz. Eine zweite Staffel hätte ich mir angeschaut, dass es sie nicht geben wird, ist aber auch nicht tragisch. (Sky)

The Basement Roman Kazhnan Ukraine 2024

 Das Dorf Yahidne nördlich von Kyiv an der Straße nach Tschernihiw war im März 2022 längere Zeit von Soldaten der Russischen Föderation besetzt. In dieser Zeit war die Bevölkerung in einem Keller eingesperrt, unter Bedingungen, die man als Folter bezeichnen kann (Leichen wurden nicht abtransportiert, Toilettenbesuch wurde willkürlich gewährt oder verweigert, Essen war ungenießbar, einige Menschen „verloren den Verstand“, wer die russischen Hymne lernte, bekam Ausgang). Roman Kazhnan versucht vorsichtig, Zeugnisse aus dieser Zeit (eine Frau namens Olha führte ein Tagebuch) und Erinnerungen daran zu bergen, zugleich zeigt er eine – so weit ich das einschätzen kann – relativ typische ukrainische Dorfgemeinschaft in einer Gegend, in der fast alle einen Garten haben, in der vieles wächst und gedeiht, und in der in Gemeinschaftsaktionen die Kriegsfolgen beseitigt werden. Kinder spielen mit Plastikwaffen Krieg, ihre Nagetiere heißen Hitler, Putler und Lukashenko. Jugendliche finden keinen geeigneten Ort für ihre Parties, und beginnen schließlich ausgerechnet in dem basement zu feiern, in dem 2022 eine Probe auf die grausame Unterwerfung stattfand, die Putler für die ganze Ukraine im Sinn hatte. (Ukrainian Film Festival Berlin UFFB Stream)

 A Bit of a Stranger Svitlana Lishchynska Ukraine 2024

 Vier Frauen, vier Generationen, ausgehend von der Filmemacherin Sveta, die sich auch mit dem Vorwurf herumschlagen muss, sie wäre eine Karrieristin und eine schlechte Mutter. Sie stammt aus Mariupol, geboren wurde sie noch in der Zeit der Sowjetunion. Mitte der neunziger Jahre ging sie nach Kyjiw, ihre damals fünfjährige Tochter Alexandra (Sasha) ließ sie bei ihrer Mutter Valentina (Valya) zurück. 2022 hat Sasha selbst schon eine kleine Tochter Stefania. Als Putin die Ukraine angreifen ließ, war Valya gerade in Kyjiw zu Besuch. A Bit of a Stranger erzählt auf zwei Ebenen: einerseits die unmittelbaren Kriegsfolgen und die Reaktionen der Frauen, Sasha geht nach England, Valya bleibt mit Sveta in Kyjiw, über eine Tante Larisa (und die üblichen Telegram-Kanäle) verfolgen sie mit, was mit Mariupol geschieht. Andererseits wird die Familiengeschichte rekonstruiert, es gibt Videos bis in die Zeit der Sowjetunion und sogar Filmaufnahmen aus dem Jahr 1968. Mariupol ist dabei der entscheidende Bezugspunkt: eine „russische“ Stadt in der Ukraine, eine stark vom Erbe der „sojus“ (der Sowjetunion) geprägte Stadt, die noch 2022 sehr unterschiedliche Formen von Identifizierung auslöst. Man sieht an A Bit of a Stranger (vergleichbar etwa mit Rodyna von Vitaly Mansky), wie wahnsinnig widersinnig der Krieg ist, der eine Front durch einen Zusammenhang (die freie Ukraine neben dem taumelnden Russland) gerissen hat, der in seiner Komplexität etwas für nuancierte Dokumentarfilme ist, nichts aber für Eroberer. (UFFB Stream)

The Crown Season 6 Peter Morgan Großbritannien 2023

Für mich eine der Institutionen im Zeitalter des Quality TV, und auch die letzte Staffel, die ja vor der schwierigen Herausforderung des Unfalltodes von Lady Diana stand, hielt das Niveau. Die Geschichte der Krone in England als Traktat über die Mediendemokratie, als verfassungstheoretische Erzählung über Verkörperung, Repräsentation, Souveränität und menschliche Schwächen. Peter Morgan streicht in entscheidenden Momenten hier noch einmal heraus, dass es ihm im Rahmen seiner (durch überlieferte Tatsachen) gebundenen Fiktion nicht um spekulatives Füllen von Lücken geht, sondern im Grunde um das Prinzip des Biographischen selbst: um plausibles Einsetzen, um (ich würde in diesem Fall gern sagen: noble) Konjektur, also um alles das, was die Tabloids nicht machen. Eine der Pointen der letzten Staffel ist ja, dass die verhassten Zeitungen letztlich auch die Quelle einer Legitimität sind, die von den Royals gesucht wird, einer organisierten Zustimmung, für die PR-Berater und Spin-Doktoren sorgen sollen. Die Queen schreibt aber in wichtigen Momenten ihre Reden selbst. Als Diana mit Dodi Fayed in Paris ihre letzten Stunden verbringt, ist Morgan dabei, und zwar so, dass seine Fiktion nicht auf Enthüllung, sondern auf erhöhte Plausibilität zielt – großartig, wie Dodi einen Anruf bei seinem Vater Diana nur vorspielt, wie er heimlich das Telefon ausschaltet, und weiterspricht, ein winziges Detail, das keine Historiographie jemals wissen könnte, wie auch die nächtliche SMS, die Kate Middleton einige Folgen später an ihren Kommilitonen Wiliam schickt. Monarchie ist Pathos, aber auch Pop, dieser Übergang wäre eine der Linien, die The Crown über sechs Staffeln zog. William wurde bejubelt wie die Beatles, inzwischen hat er eine hohe Stirn, und die Windsors sind halt immer noch da, aber nicht viel mehr. Das Drama von Harry, eine sehr spannende Figur in der sechsten Staffel, ist in der Wirklichkeit schon nicht mehr königlich. (Netflix)

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