Filme und Folgen (59)

Notizen: Juli 2023

Monisme Riar Rizaldi Indonesien 2023

Vulkane müssen beobachtet werden. So ist das auch beim indonesischen Merapi auf Java, mit dem sich Wissenschaftler im Schichtdienst beschäftigen. Riar Rizaldi betreibt in Monisme auch Vulkanforschung. Für ihn ist das indigene und mythologische Wissen mit dem der exakten Naturwissenschaften gleichwertig, er inszeniert sogar Szenen, mit denen er die Geisterwelt sichtbar macht, die hinter oder unter dem Merapi existiert. Er widmet sich aber auch den Auseinandersetzungen, die in dieser Gegend geführt werden – brutale Handlanger schützen die Interessen von Bergbaufirmen, hinter denen letztlich – so heißt es – der (korrupte) Staat steht. Der Fülle der Themen entspricht die Vielfalt der künstlerischen Strategien des Films: Begriffe wie Dokument und Fiktion werden noch einmal anders problematisch, wenn man von unsichtbaren Wirklichkeiten ausgeht. Konkretes Bildmaterial von Ausbrüchen des Merapi ist ein Anker, eine investigative Videojournalistin hingegen scheitert eher. Die künstlerische Recherche von Rizaldi übergreift alles. (FID Marseille)

Background Khaled Abdulwahed Deutschland 2023

Zwei Stimmen aus dem Off, dazu verschiedene Typen von Bildern: Blicke auf Fassaden und Dachlandschaften, unspezifische Außen- und Landschaftsräume in Deutschland, private Fotos. Die krächzende, hustende Stimme eines alten Mannes, der Arabisch spricht, gehört dem Vater des Filmemachers. Er lebt in Syrien, vor 60 Jahren war er als Student in Deutschland, in der DDR. Was er damals erlebt hat, neue kulturelle Erfahrungen zum Beispiel mit Mozarts Entführung aus dem Serail oder Feste mit vielen anderen internationalen Studenten, wird von Fotografien begleitet, die nun der Sohn hat. Der ist auch zu hören, er lebt in Deutschland (die Berliner Firma Pong hat koproduziert), er möchte den Vater zu sich holen. Er filmt auch die digitalen Bildbearbeitungen, die er vornimmt, er versetzt den jungen Mann, der sein Vater damals war, in andere Kontexte (ein Bild von Dresden ist wichtig, auch in Merseburg war Saadallah Abdulwahed, und in Eisenhüttenstadt findet der Sohn die Schule von damals). Ein spröder, intimer Film, der den Raum zwischen Syrien und Deutschland weit öffnet, fast unüberwindlich zu machen scheint. Auch ein Abschied deutet sich an, die Wiederbegegnung muss der Film montieren. (FID Marseille Festivalscope)

Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin Martha Mechow Deutschland 2023

Eine junge Frau namens Flippa fährt nach Sardinien, weil sie von dort eine Nachricht von ihrer Schwester Furia bekommen hat, die sechs Jahre davor verschwunden war. In einem Mutter-Kind-Resort trifft sie auf eine Gruppe von Frauen und Kindern, die dort einen autonomen Raum haben (und auch eine Art Hexen-Leitbild, wird einmal angedeutet). Junge italienische Männer sitzen manchmal mit am Tisch, dann wird auch über die Natur der Frau diskutiert, in sanften Tönen. Den Film gab es davor als Filmshow, er geht also aus einem Diskursereignis hervor, und muss immer noch viel Sprachmaterial tragen: aus dem Off sprechen verschiedene Stimmen, die Mutter von Flippa und Furia identifiziert sich anscheinend mit der Gottesmutter Maria (konkret auch mit einer Statue, die aus einer Kirche entführt wird, und der das Jesuskind amputiert wird); Mythologica (zum Beispiel über den Eros) werden literarisch verfremdet oder verarbeitet (gelungen, wie ich finde). Flippa muss für sich den „heterosexuellen Knoten“ lösen, das geht zumindest einmal für den Moment auf Kosten einer denkbaren Beziehung zu einem jungen Mann namens Vicky. Stilistisch schillert der Film zwischen Urlaubsguerillakino, Theorie-Improv und verhuschten Gags. Werde ich mir sicher noch einmal genauer anschauen, gefiel mir sehr gut. (FID Marseille Festivalscope)

Sniper White Raven Marian Bushan Ukraine 2022

Im tiefen Osten der Ukraine lebt der Physik-Lehrer Mykola mit seiner blonden Frau Nastya einen Hippie-Traum in einem Erdhaus mit Badewanne im Freien und Windrad. In der Schule bekommt er es schon mit einem Störenfried zu tun, der für die Bevölkerungsgruppe spricht, die sich 2014 auf die Seite Russlands schlug. Bald darauf bekommen Mykola und Nastya Besuch, am Ende ist Nastya tot – die Szenen haben einen vergleichbaren Charakter wie das Massaker an den Lakota in Der mit dem Wolf tanzt. Mykola hat nun nur noch einen Wunsch: „I want to drive them out of the country“. Er meldet sich zum Kampf, wird dort als Pazifist (mirnjak?) verhöhnt, geht durch den Drill, bewährt sich, wird ein Sniper. Die zweite Hälfte des Films erzählt von drei Einsätzen, bei dem mittleren verursacht Mykola den Tod seines Cap(tain)s mit. Im Finale erledigt er einen besonders heimtückischen und arroganten Sniper der Gegenseite. Im Epilog sieht man ihn in einer winterlichen Landschaft in der Region um Kyjiw, im Februar 2022. Der Film beruht auf einer erlebten Geschichte. Die Sniper-Episoden entsprechen dem Krieg, wie er zwischen 2014 und 2022 herrschte, also bevor er explizit zu einer Invasion wurde. Kleine Duelle an undeklarierten Linien. Das ist alles sehr plakativ, in der großen Allegorie allerdings auch plausibel: es kann der größte Idealist nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Interessant jedenfalls das Selbstbild einer Ukraine als Nation off the grid, aber mit poetischen Ressourcen, und das, was Mykola unterrichtet, kann auch eine Hi-Tech-Nation gut brauchen. (Stream)

Nouveau Monde Nicolas Klotz + Elisabeth Perceval Frankreich 2023

Auf der Insel Ouessant in der Keltischen See vor Westfrankreich hat Jean Epstein den Film Finis Terrae gedreht. Klotz/Perceval besuchen zum Centenarium die Insel, ihre Landschaftsaufnahmen machen den Film im Wesentlichen aus. Dazu kommt Diskurs: Kinderstimmen unterhalten sich darüber, ob Metalle bluten können, ein Dialog, der implizit gegen Exkraktivismus geht. Grundsätzlicher sind Überlegungen über die Bilder (images), über deren Allgegenwart (mehr Bilder als Plastik in den Ozeanen), über Bilder im Krieg mit den Menschen, da ist eine Menge von dem Pathos drin, das im Französischen irgendwie leichter tolerabel scheint. Ein „Deserteur“ durchstreift die Insel und deklamiert etwas auf Italienisch. Interessant ein Günther Anders „unterschobener“ Experimentalfilm Hiroshima est partout (ich kannte das nur als Text), eine Montage ungefähr zur Hälfte. Nouveau Monde bewegt sich auf Spuren von Godard (die Tonspur) und Straub/Huillet, vor allem aber steht er in der Tradition der Revolutionspoetiken von Klotz/Perceval selbst. (FID Marseille Festivalscope)

Of Girls Wendelien van Oldenborgh Japan/Niederlande 2023

Schiebetüren eröffnen „sehr flexible“ Verbindungen zwischen Räumen. Dieser Hinweis in einem der ersten Sätze lässt sich wohl auch auf die Weise beziehen, wie Wendelien Van Oldenborgh (in einer Arbeit, die auch als Zwei-Kanal-Installation gedacht ist, in Auftrag gegeben vom Museum of Modern Art Tokio) zwischen zwei japanischen Schriftstellerinnen einen offenen Raum schafft. Yuriko Miyamoto und Fumiko Hayashi, beide 1951 gestorben, beide werden hier von Gruppen gelesen und diskutiert, während die Kamera durch entsprechende Räume gleitet (die Hayashi Fumiko Memorial Hall in Tokio, die Kanagawa Prefectural Library in Yokohama, ...). Themen werden angesprochen, gestreift, verbunden: lesbisches Begehren, die Nuancen des Übersetzens (im Japanischen haben die Frauen an manchen Stellen mehr agency, im Englischen gibt es Momente, in denen sie mehr victimized wirken), japanische Kolonialgeschichte (Fumiko Hayashi schrieb eine Geschichte: Borneo Diamonds, sie war als Teil der japanischen Kolonialherrschaft vor Ort, ihre Leserinnen suchen nach Indizien für ihre politische Haltung), „warme“ Brüste (also solche, die schon Mutterschaft erlebt haben, Milch gegeben haben), Kommunismus in Japan (noch) nach dem Krieg. Wendelien van Oldenborgh wird einmal kurz erwähnt, als Niederländer im Kontext mit Borneo. Die Lesekreise bestehen aus Vertreterinnen der queeren Szene, Kunst und Theorie und Historiographie werden angesprochen, Möglichkeiten zu Identifikationen. Das Prinzip des Films ist aber vor allem, dass zwischen den Bezugsfeldern (zwei Autorinnen, aber auch Japan/Westen, Japanisch/Englisch, Lesen/Forschen, ...) ein fragiles („flexibles“) Gebilde entsteht, ein (filmischer) Raum eben, in dem Vieles (in Ansätzen) gleichzeitig präsent sein kann, ohne expliziert werden zu müssen.

Geology of Separation Yosr Gasmi Mauro Mazzocchi Italien Frankreich 2022

Migration und Flucht sind prominenten Themen im Dokumentarfilm der vergangenen Jahre. Vieles hat man schon gesehen oder kann man wissen: wie Menschen auf Gespräche mit den Asylbehörden vorbereitet werden, wie und wo sie (nicht) arbeiten, wie die Angekommenen nicht ankommen sollen oder dürfen. Geology of Separation könnte man als einen kontemplativen Dokumentarfilm zum Thema sehen, am Beispiel zweier Männer, einen sieht man einmal eine geschlagene Viertelstunde einfach durch Paris gehen, die Bilder wie der ganze Film in Schwarzweiß, ein Mann, der da ist und wahrgenommen wird, als wäre er es nicht. Diese im engeren Sinn dokumentarischen Szenen werden ergänzt oder kontextualisiert durch künstlerische Überarbeitungen, in denen das Motiv von Pangäa (der Urkontinent vor der geologischen Drift, die zu den heutigen Weltteilen führte) mit der Landschaft der Alpen (die natürliche Barriere hinter dem Mittelmeer) verschränkt wird. Diese als elegische Zwischenspiele ausgewiesenen Teile laden den Film mit einem Weltgemeinschaftspathos auf. Theorie von Elsa Dorlin und Jean-Christophe Goddard fügen eine weitere interpretative (und für den Film auch methodologische) Ebene hinzu: die Regisseure sprechen insgesamt von einer „geologischen“ Montage. (FID Marseille Festivalscope)

La Force Diagonale Annik Leroy Julie Morel Belgien 2023

Zweieinhalb Stunden, die (für meine Begriffe doch ein wenig zu lose) auf freier Assoziation beruhen: es geht um vier Menschen, die in unterschiedlicher Weise mit Schwierigkeiten oder Traumata umgegangen sind (eine Straßenbahnfahrerin aus Sarajewo zum Beispiel). Und es geht um Hannah Arendt, die auf ihrem Weg in ihr Exil in den USA Erfahrungen machte, die heute Menschen machen, die nach Europa zu fliehen versuchen. Vielleicht würde eine genauere zweite Sichtung mehr von dem deutlich machen, was mit beim ersten Mal doch alles eher nicht klar wurde. Erstens: warum genau Hannah Arendt, neben dem natürlich unabweisbaren Umstand, dass sie zu vielen wichtigen Themen der Gegenwart etwas gesagt hat? Hier wird das zusätzlich vage dadurch, dass nicht wirklich klar wird, was das Thema des (schwarzweißen, schön gefilmten) Films ist, außer eben die großen Themen der Gegenwart. Eine Performerin / Tänzerin verkörpert in der zweiten Hälfte auch noch Hannah Arendt, die schließlich vor allem zu einer Botschafterin einer Parole wird: nicht mitmachen. (FID Marseille Festivalscope)

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