Der Wind, der Wind, das himmlische Kind
Notizen zum Werk von Katharina Copony (1972 - 2024)
Die Rinde von Bäumen bildet Muster aus, mit denen man abstrakte Gemälde füllen könnte. Der Wald ist, wenn man ihn nicht zu distanziert betrachtet, ein Gestrüpp, in dem man sich verlieren könnte. Die ersten Bilder von Moghen paris – Und sie ziehen mit (2016) von Katharina Copony schweigen noch über den Anlass zu diesem Dokumentarfilm. Sie stehen für sich, in einer Autonomie, die dann eine Stunde lang verteidigt wird gegen das andere Interesse, das in dem Blick auf ein konkretes Geschehen liegt. In einem Dorf auf Sardinien wird ein Karneval gefeiert. Menschen malen sich die Gesichter schwarz an. Aus Gerümpel hat jemand einen Thron gebaut, auf dem aber niemand sitzen kann, der nicht Gefahr laufen möchte, lächerlich zu wirken. In einem Karneval ist verkehrte Welt, aber diese Prämisse gilt nur, wenn davor unverkehrte Welt ist. Moghen paris sucht in seinen ersten Bildern nach einer Welt, die unumkehrbar ist, weil sie gar nicht in eine Ordnung passt, die man gegen sich wenden könnte.
Katharina Copony, geboren 1972 in Graz in Österreich, gestorben im November 2024 in Wien, hat auch Filme gemacht, in denen sie orthodoxer dokumentiert hat: Oceanul Mare, Die Kaserne. In Bukarest fand sie 2009 in Oceanul Mare mit einigen chinesischen Migranten ein Bild für eine andere Globalisierung, eine Internationale der Ladenbesitzer, die nicht so stark von Lieferketten und Zollregimen abhängt, wie es seither in der zunehmenden Großpolarisierung der Welt wieder wichtiger wurde. In der Kaserne zeigte 2019 auch vor dem Hintergrund von Coponys eigener Familiengeschichte, was die europäische Friedensordnung bis 2022 war – das österreichische Bundesheer arbeitete damals in etwa mit der Alarmiertheit einer Jogagruppe. Aber an wichtigen Punkten in ihrem Werk wollte sie dem Dokumentieren etwas voraussetzen, was sich seinem Zugriff entzieht. Moghen paris ist velleicht die stärkste dieser Setzungen, gerade weil sich in diesem Fall das Thema so deutlich für eine Überlegung darüber anbietet, welche Wirklichkeit eigentlich einen Ausgangspunkt für dokumentarisches Arbeiten bilden kann – welche Wirklichkeit als Referenz dienen kann für Realitätsbezüge. Die Frage ist präsent, seit sie 2004 ihren ersten eigenen Film gemacht hat.
2001 entstand davor noch Der Wackelatlas, ein Gespräch mit dem Schriftsteller H.C. Artmann, das Copony gemeinsam mit ihrer Cousine Emily Artmann geführt und gedreht hat – sie war die Nichte. Bei Artmann nimmt das Gehirn besser auf über das Ohr. Er lernt schreiben und findet zu einer poetischen Sprache, indem er Spanisch liest – die Wörter und ihre Bedeutungen hängen damit schon anders zusammen als in der klassischen Signifikanz, die jedem Ding einen Begriff zuordnet. Bei Artmann fährt in diese Ordnung der Dinge (les mots et les choses) „der Wind, der Wind, das himmlische Kind“. Er entfesselt seine Dichtersprache aus der Bezeichungspflicht. Könnte man Analoges über die dokumentarischen Bilder von Katharina Copony sagen?
2004 ist sie in Kroatien, wo eine Gruppe von Menschen aus Graz Ferien machen, die sich aus einer psychiatrischen Betreuungsstelle kennen. Kanegra heißt der Film, wie der Ort, an dem er gedreht wurde. Copony hört sich an, was den Leuten durch den Kopf geht. Eine Frau erzählt davon, dass sie „einen Verfolger gehabt“ hat, sie fühlte sich heimgesucht von der Oberschicht von Graz, inzwischen hat sie sich ein wenig beruhigt: „Vielleicht hab i zu viel Angst gehabt.“ In einer klinischen Diagnose würde sie als krank eingestuft werden, auch ihre Teilnahme an der Reise nach Kroatien hängt damit zusammen. In dem Gespräch aber geht es nicht darum, Symptome zu erkennen oder jemand als etwas auszuweisen. Grundsätzlicher handelt Kanegra davon, wie man – in einer Umgebung, die der Erholung dienen soll: „hier ist Urlaub, hier ist Gelände“, hier ist auch Rauchverbot wegen des Pinienwalds – aus den Prozessen der Abgleichung hinausfindet, die gerade in der Fremde besonders intensiv ablaufen. Das Auge sieht etwas, im Kopf wird daraus ein Eindruck, der verknüpft wird mit Gewusstem und Erhofftem. Bei den Menschen vor Coponys Kamera in Kanegra (sie sieht sie nicht als Patienten) ist diese Abgleichung intensiver und auch ein wenig aus dem Lot. „Ich war fast süchtig nach Assoziationen“, sagt jemand. Das System der Wörter im Kopf legt sich mit ungeheurer Intensität über die Eindrücke von außen. Alles wird zur Kopfsache.
Kanegra ist ein einfacher Dokumentarfilm, der Impressionen sammelt und in erster Linie zuhört. Die Bilder verraten nicht viel, sie dienen keiner Forensik des Wahnsinns, ein Wort, das ohnehin viel zu stark wäre. Die Erzählungen der Menschen aber machen deutlich, dass die Logik, mit der die meisten Menschen ihren Alltag erleben und überleben, nicht gelten muss. Der Urlaub hebt diese Logik ohnehin nie auf. Die Fremde ist auf dieser Ebene, auf der die kognitiven Prozesse immer mit Referenz, also Bezügen arbeiten, nur ein kleiner Unterschied.
Kanegra wurde 2004 von der Geyrhalter Film produziert. Katharina Copony gehörte zu diesem großen Feld junger Filmemacherinnen, das sich in Wien seit den späten 1990er Jahren anschickte, einen echten generationellen Wandel herbeizuführen. Sie arbeitete in der Crew bei Spielfilmen von Valeska Grisebach oder Barbara Albert, ihr eigenes Interesse aber war der Dokumentarfilm. Und zwar eine stärker konzeptuelle Variante, man könnte auch sagen: eine erkenntnistheoretische Variante. 2014 interessierte sich für einen russischen Pokerspieler, der junge Mann ist aber nur der Anlass dazu, sich ein höchst spannendes System genauer anzusehen, das einen Bereich im Online-Universum hat, einen anderen bei Turnieren, bei denen die Leute persönlich teilnehmen. Poker ist ein Glücksspiel, bei dem man mit Mitdenken, also mit Strategie und klarem Kopf, relativ weit kommen kann. Die „odds“ sind nicht ganz so eindeutig bei der Bank oder beim Spiel wie bei anderen „gambles“. Pokern hat auch einen eminent filmischen Aspekt dort, wo es darum geht, sich nichts ablesen zu lesen, also: ein Pokerface zu machen. Spieler beginnt mit einer Sammlung solcher Gesichter. Manche schützen sich mit Sonnenbrillen, andere machen den Blick von innen leer. Ein Pokerface in Großaufnahme macht das Gegenteil dessen, wofür dieser Bildtyp im Kino erfunden wurde. Ein Bildschirm, auf dem zwölf Pokertische zu sehen sind, auf denen gleichzeitig gespielt wird, ergibt eine interessante Analogie zu den Gehirnvorgängen, die man sich auf der Seite des in diesem Fall Online-Spielers denken kann.
2021 drehte Copony in Malaysia den zehn Minuten langen Tu harimau. Sie arbeitete damals mit einer NGO namens MAIX zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Regenwald beschäftigt – künstlerisch, anthropologisch. Ein Tiger kann in dieser Umgebung einen Menschen bis zu zwei Kilometer entfernt riechen, und wird in der Regel einen Kontakt vermeiden. Der Tiger ist das Tier, das dem Menschen seine mangelnde Angpasstheit im Wald bewusst machen. In dem Spielfilm Apocalypse Now gibt es die Szene, in der ein Tiger mehr oder weniger direkt aus dem Dschungel die Amerikaner anspringt, die vom Fluss aus einen Landgang riskieren. In Tu harimau bleibt diese Möglichkeit latent, es geht nicht so sehr um den Thrill der Gefahr, es geht wieder um Aspekte einer Ordnung. Der Protagonist, den Copony damals filmte, sucht nach einer Weise, sich im Dschungel zu bewegen, die es ihm erlaubt, die Intensität der Eindrücke so zu verarbeiten, dass er nicht die ganze Zeit Gefahrensignale herausfiltern muss. H.C. Artmann hatte in Der Wackelatlas betont, wie wichtig für ihn der Geruchssinn ist. Das macht ihn noch nicht zu einem Tiger, aber es lädt dazu ein, sich eine Wahrnehmung vorzustellen, in der das Sehen nicht vorrangig ist – weil man beim Hineinschauen in den Dschungel eben nur ein dichtes Bild sieht, ein nicht gegenständliches Bild. Die Sensorik des Kinos arbeitet mit inzwischen äußerst hochauflösenden Rezeptoren für Bild und Ton, aber es bedarf einer auktorialen Intervention, um etwas von dem Surround anzudeuten, das über diese beiden Ebenen hinausgeht.
Katharina Copony hat an vielen Orten der Welt gearbeitet, auch in Rom, wo sie 2006 für Il Palazzo einen berühmten Wohnkomplex (den Corviale) filmte. Sie war aber nie eine Dokumentarfilmerin, die in die Fremde ging, um dort Bereicherungen für einen mitteleuropäischen Expeditionismus zu finden. Malaysia oder Sardinien waren in ihren Augen nicht so sehr Orte mit einer besonderen visuellen Qualität, sondern Orte, an denen sie etwas von dem erleben konnte, das im Grunde mit jedem Bild möglich ist: dass es sich von seinem Gegenstand löst. Für den Karneval machen sich Menschen zu einem Zerrbild dessen, worin sie gefangen sind. In der Kunst machen sich Menschen frei von diesem Zwang der Gegensignifikanz. Nicht nur in diesem Sinn war Katharina Copony eine Künstlerin.
Dieser Text erschien zuerst in Heft 64 der Zeitschrift CARGO. Film Medien Kultur
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