Filme und Folgen (56)

Notizen: April 2023

Susanne macht Ordnung Eugen Thiele Deutschland 1930

Susanne Braun (Truus von Aalten) wächst in einem Mädchenpensionat in der Schweiz auf. Jeden Monat kommt ein Scheck für sie von einem Notar in Berlin. Zu Beginn gerät Susanne in einen Unfall mit einem Motorradfahrer namens Robert, bei dem sie sich einen Finger verletzt. Es bahnt sich eine Romanze an, zuvor müssen jedoch die Familienverhältnisse geklärt werden. Dazu macht sich Robert auf den Weg nach Berlin, und unabhängig von ihm auch Susanne, sie treffen aber schon im Zug aufeinander. In der großen Stadt werden dann Adressen abgeklappert: Susanne immer zuerst, immer der Meinung, sie treffe nun endlich ihren Papi, dem sie sich auch sofort an den Hals wirft. Sie trifft jedoch vorwiegend auf soignierte und untergründig frivole Berliner Herren mit einschüchternden Gattinnen, die sie (nach einer jeweils schrägen Szene) eine Station weiterschicken. Der richtige Vater, ein Bankier namens Völler, ist derweil in eine Eheanbahnung verstrickt, die der Pleiteabwendung seiner Firma dienen soll – mit einer 100 Kilo schweren Erbin soll er sich strategisch vermählen. Die Geschichte endet schließlich im Nachtlokal Weisse Trommel, wo sich alle Herren einfinden, während Susanne mit einem Geschäftspartner von Völler, der ihr als Interimsvater zugeteilt wurde (sie hält ihn für den echten), dort das Großstadtleben kennenlernen möchte. Auf dem Höhepunkt tanzt die Club-Attraktion Georgette mit allen Herren eine Art Cancan, natürlich platzt in diesem Moment eine weitere Gattin herein. Susanne wollte in Berlin Ordnung in ihre Familienverhältnisse bringen, fand aber nichts als Unordnung.

Die Kopie aus dem Bundesarchiv war ein wenig ramponiert (viele Jump Cuts in den Dialogen), vermittelte aber einen guten Eindruck von den Komödienverhältnissen um 1930 – alles noch sehr auf Bühnenauftritte ausgelegt, am besten und am stärksten bei Klingenbergs, wo der Hausherr (Kurt Lilien) sich eines unehelichen Sohns erinnert, auf den er die Gemahlin mit einem irren Monolog über einen Fehltritt «bei den Chinesen» vorzubereiten versucht, es kommt dann aber Susanne. In Ansätzen ein sehr komischer Film, der abschnurrende Komödiendramaturgie mit Nummernrevue von Chargen verbindet (Lob der Charge heißt die Reihe, in der ich Susanne macht Ordnung gesehen habe). (Zeughauskino, 35mm, 1:1,19)

Das Nachtlokal zum Silbermond Wolfgang Glück Österreich Deutschland 1959

Fünf junge Frauen aus Österreich und Deutschland werden als „Tänzerinnen“ nach Istanbul engagiert (Außenaufnahmen: Vorderer Orient, heißt es in den Eröffnungscredits). Nicht alle können so tanzen, wie es erwartet wird, nämlich erotisch. Mit anfangs sanftem Druck finden sich aber bald alle bereit, auch an Nummern wie einer „Geburt der Venus in der Hexenküche“ teilzunehmen, bei denen es letzlich um nackte Haut geht (den baren Busen als money shot kann Glück 1959 noch nicht oder nur in Trompetenblech gespiegelt zeigen). Lilian (Marisa Mell) hält am stärksten auf ihre Würde als „reiner junger Mensch“, sie wird von dem Aufpasser Jussuf (Pero Alexander, eigentlich Hans Eduard Pfingstler) umworben, schließt aber auch Freundschaft mit einem Stammkunden im Nachtlokal Silbermond, von dem sich bald erweist, dass er in geheimer Mission agiert. Denn in der „Unterwelt“ von Istanbul werden gestohlene Juwelen umgeschliffen, ein Umstand, auf den zuerst Doris auf der Flucht vor einem zudringlichen Verehrer stößt. Das Finale in der Unterwelt von Istanbul zeigt einmal mehr, wie populär der Showdown in der Kanalisation von Wien in The Third Man war. Die Chefin des Frauen- und Schmuckhandels heißt Magali und spricht mit Balkanakzent. (Diagonale, Streaminglink vom Filmarchiv Austria, Dank an Florian Widegger)

When Namibia was a City Ilker Çatak Deutschland 2010

Yusuf bleibt morgens zu Hause, wenn seine Frau zur Arbeit geht. Er spielt am Computer, schaut osmanische Serien, geht später ins Männercafe, auch dort wird gespielt. Zum Geburtstag bekommt er von seiner Frau Ceyda (Ilker Çataks Eltern Yusuf und Ceyda spielen die Hauptrollen) eine Kamera geschenkt, die er früher schon einmal besessen hatte, die aber repariert werden musste. Von der Tochter bekommt er einen Bilderrahmen. Man spielt Stadt Land, der Vater nennt bei Stadt mit N Namibia, was ihm die beiden Frauen nicht durchgehen lassen. Die Kleinigkeit kommt am nächsten Tag noch einmal aufs Tapet, als Yusuf beim Eisfischen seinen Freund Tamer auf Namibia anspricht, der bringt das (ähnlich klingende) Wort Habibiye zur Sprache (auch das Wort ist ein Ort). Sie fangen einen prächtigen Fisch, Tamer macht das Trophäenfoto, das analog entwickelt wird, beim Durchschauen der Fotos bekommt der Film seine erste Pointe, die dann weiter entfaltet wird: der Rahmen und ein Nagel, schließlich ein Loch in der Wand spielen dabei eine Rolle. Das Loch auf eine Leere im Leben Yusufs zu beziehen, wäre aber vielleicht zu symbolistisch. (Vimeo vom Filmemacher)

Das asthenische Syndrom Kira Muratowa UdSSR 1989

Die ukrainische (odessitische) Sowjetunion auf dem Höhepunkt der Veränderungen durch Perestroika und Glasnost: so könnte man Muratowas mäandernden Film vielleicht auf einen Punkt bringen. Die erste halbe Stunde erzählt in Schwarzweiß von Natasha, deren Mann gerade gestorben ist. Sie ist unerreichbar in ihrer Trauer, sucht Intimität mit wildfremden Männern (einer ist so besoffen, dass er beim Ausziehen im Gang, die Wohnungstür steht noch offen, wir schauen vom Gang aus zu, einen Slapstick hinlegt), kündigt die Arbeit im Krankenhaus, provoziert alle Welt. Dann wird dieser Teil zu einem Film im Film, die Darstellerin von Natasha tritt mit einem Moderator auf die Bühne, aber das Publikum will nur rasch weg, zurück bleibt eine Abteilung Soldaten, die dann in Formation hinausgehen, und ein schlafender einzelner Mann: Nikolai (Kolja), ein Lehrer, die Hauptfigur des Films, wenn man das so sagen kann angesichts einer losen Dramaturgie, jederzeit ist eine Abschweifung zu zufälligen Figuren möglich, oder ein Einschub mit Szenen, die wie Assoziationen wirken oder wie Kontrastbilder (einmal spricht Nikolai in der Klasse eine Schülerin an, im Umschnitt sieht man einen alten Mann, vielleicht einen Obdachlosen, jedenfalls eine Szene, die zu der Aufbruchsstimmung der Schüler mit ihren englischen Sätzen in einem Widerspruch steht). Die englischen Untertitel hatten Mühe, mit den Dialogen, die oft deutlich Geschwätz sind, mitzukommen, aber „unpredictability“ dürfen wir wohl als Schlüsselbegriff nehmen: Muratowa fängt den Moment ein, in dem eine berechenbare Gesellschaft (die sowjetische) in eine individualistische, unberechenbare, unvorhersehbare zerfällt, wobei es dazu auch noch eine vermittelnde Ebene gibt, nämlich die plappernde Alltäglichkeit einer Figur wie der dicken Kollegin von Nikolai, der ganze Film besteht zu nicht geringen Teilen aus Geplapper, in den letzten zwanzig Minuten geht das dann in die Selbstgespräche von Verrückten in der Psychiatrie über – das eine und das andere scheint für Muratowa keinen prinzipiellen Unterschied zu machen.

Der Lehrer Nikolai ist als verhinderter Schriftsteller wohl auch ein Repräsentant einer Künstlerschicht, die an der Transformation gerade scheitert, wie auch Muratowa, die dieses Scheitern aber zur Form ihres Films macht, und die darin immer wieder inszenatorische Triumphe feiert: zum Beispiel den Moment, in dem Nikolai auf eine Party kommt, auf der er einige Schülerinnen wiedertrifft, und wo er in einem hinteren Zimmer eine erotische Foto-Performance crasht, die er in eine Begräbnisszene verwandelt, womit der Film wieder an den Anfang anschließt, an das Bestattungsmotiv. Das unüberwindliche Schlafbedürfnis von Nikolai (Narkolepsie ist nur eine tentative Diagnose, es geht um mehr) macht ihn zu einem Toten auf Abruf. Mittendrin tauchte einmal die Nummer Mister Jones von den Talking Heads auf, von dem Album Naked, das ich vollkommen vergessen hatte; und die Lehrerin spielt auf der Trompete einmal Strangers in the Night, daraus wird eine Schmuseorchesterversion. Sonst viel klassische Musik, ein wenig wie bei Sokurow, dessen Name auch einmal beiläufig fällt. Die potentielle Schlussszene mit dem Tierasyl wird dann von den Outtakes der letzten zwanzig Minuten noch einmal überstimmt. (Arsenal 35mm)

Tschechowskije Motiwy Kira Muratowa Ukraine 2002

Zu Beginn Bilder agarischer Fülle, Hühner, eine Kuh, eine Ziege, Gänse, tiefer Boden, Frühlingsregen, es wird gebaut (eine Scheune? ein Laden? die Unklarheit darüber wird zu einem phonetischen Reim und Running Gag und auch einem Kinderspiel in den nächsten zwanzig Minuten). Der Vater kommt ins Haus, zieht sich einen schweren Stubenmantel an, die Familie sitzt zu Tisch, die Kamera filmt frontal alle sieben, nimmt sich dann Einzelne näher vor. Das alles ist mindestens so sehr als Hörspiel konzipiert, als akustisches Theater, das auch durch das restaurierte DCP wohl noch stärker konturiert wurde. Der Sohn (er sitzt rechts zwischen Mutter und Vater) soll längst zum Studium in die Stadt, der Vater hält ihn beim Geld hin, die kleineren Kinder machen dazwischen die ganze Zeit ihre Faxen. Schließlich macht sich der Sohn auf den Weg, er steigt in das Auto eines reichen Städters, der zu einer Hochzeit in die Gegend gekommen ist. Diese Feier in einer Kirche macht den langen zweiten Teil des Films aus: ein Pjotr heiratet eine Vera, ein feister, ungesund aussehender Typ eine schmale jüngere Frau, es ist nicht seine erste Hochzeit. Die Popen ziehen ihr langatmiges Ritual gnadenlos durch, während Braut und Bräutigam unter Kronen stehen, die Getreue über ihren Köpfen halten. Im Publikum gibt es immer wieder Unruhe, auch der Bräutigam meint, eine Erscheinung zu haben, eine frühere Geliebte, eine schwarze (schwarz gekleidete) Frau kurvt auch tatsächlich durch die Menge. Alles Transsexuelle, sagt eine andere, alte, traditionell wirkende Frau an einer Stelle aus heiterem Himmel. Muratowa setzt auch hier stark auf das Groteske, auch hier ist der Ton eine Skulptur. Am Ende hören wir die Geistlichen resigniert Bilanz ziehen: Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen, ein ewiger Kreislauf, aber Gott hört davon nichts. Der junge Mann (der eine auffällig hohe Stimme hat) kehrt nach Hause zurück, schreit den Patriarchen zusammen, und bricht dann neuerlich (endgültig) auf. Die pummelige und illusionslose Dreizehnjährige („Umstürzlerin“), seine kleine Schwester, können wir uns als Alter Ego der Regisseurin denken. (Arsenal DCP)

Unter grauen Steinen Kira Muratowa UdSSR 1983

Der kleine Wasja, Sohn einer großbürgerlichen Familie, hat seine Mutter verloren. Auf einem Friedhof und rund um eine verfallende Kirche in der Gegend findet er neue Freunde: einen Jungen mit seiner Schwester, dazu eine stark theatralisch wirkende Gruppe von (mir fällt kein besseres Wort ein) Gauklern, die in einer Art Untergeschoss oder einfach in den Kellerräumen der Kirche leben. Die Zeit der Handlung ist nicht klar, man muss aber wohl, auch von der Vorlage (Wladimir Korolenko 1885) her, an das späte 19. Jahrhundert denken. Wie immer bei Muratowa sind alle Figuren expressiv, halten Monologe oder reden auf einander ein. Die Außenseitergesellschaft, die zum Teil auf alte historische Konstellationen (Kontakt zu Turk-Völkern etc.) Bezug nimmt, kann aber wohl auch als Anspielung auf die sowjetische Untergrundkultur gesehen werden. Wasja bringt schließlich eine Puppe, ein typisches Requisit seiner und seiner Schwester reich ausgestatteten, emotional aber verarmten Kindheit, auf die andere Seite und löst damit einen kleinen Skandal aus, der aber auch dazu führt, dass schließlich eine der Leitfiguren der Bettler im Gutshaus sitzt, dass die beiden Welten also auch auf dem Territorium der Herrschaft zusammenkommen. Der Vater, der tief in seiner Trauer verloren ist, wacht ein wenig auf und bemerkt, dass er Kinder hat. Der Film wurde, so lese ich, stark zensuriert, und Kira Muratowa war unzufrieden damit. Er ist aber offenkundig nach wie vor ein genuines Werk von ihr, ihre Ästhetik, die auch hier stark von einem Hörspiel her zu sehen ist, ist in voller Blüte. (Arsenal DCP)

Al djanat - The Original Chloé Aïcha Boro Paradise Burkina Faso 2023

Die Filmemacherin, die seit zwölf Jahren in Paris lebt, dort den Namen eines „Weißen“ angenommen und ein Kind gekriegt hat, kehrt zu ihrer Familie nach Burkina Faso zurück. Ihr Vater Ousmane Coulibaly, eine religiöse Autorität, ist gestorben, und zwar ausgerechnet während der Hadsch in Mekka (für Muslime ist dieser Tod das Größte, für Animisten, so heißt es im Film, ist ein Tod in einer Massenpanik sehr negativ besetzt). Nun geht es darum, was mit dem Familienhof (family courtyard) in Dédougou geschehen soll – ein heiliger Ort, auf den sich aber auch wirtschaftliche Begehrlichkeiten richten. Viele Cousins haben neben den drei Söhnen Ansprüche auf das Erbe, manche beharren auf der Unverkäuflichkeit des gemeinsamen Besitzes (Verkauf wäre ein Sakrileg), andere wenden ihre Notlagen ein. Muslimisches Erbrecht steht bald gegen staatliches Recht, denn es wird ein Gericht angerufen. Chloé Aïcha Boro zeigt den Konflikt auch aus der Perspektive der Frauen, die das Geschehen mit Liedern begleiten (in denen sie auch ihre Stellung gegenüber dem royal sex reflektieren, oder resümieren: der Seufzer der Frau ist das älteste Wort der Welt). Der Hof wird auch gebraucht, weil dort nach jeder Geburt die Nabelschnur vergraben wird, ein Ritual, das in Frankreich unterblieb, wofür der Film nun eine „Reparation“ darstellen soll. Mit dem (säkularen) Gerichtsbeschluss wird das „bond of belonging“ zerschnitten. Ein Stück muslimischer Tradition löst sich auf, es bleibt die Perspektive der emigrierten Tochter auf einem ambivalenten Prozess. (Visions du Reél Nyon Stream)

Extrapolations Scott Z. Burns USA 2023

Die klimakatastrophale Welt, hochgerechnet bis ins Jahr 2070. Eine Fortschrittsgeschichte (Krebs wird besiegt, das Ich wird in eine Cloud hochladbar), die allerdings im Schatten der radikalen Erderwärmung steht (564ppm im Jahr 2070, das ist ungefähr so desaströs, wie es sich derzeit abzeichnet). Und Big Tech steht in diesem Szenario klar auf der falschen Seite, nämlich auf der Seite der Ausbeutung der Notlagen. Kit Harrington spielt einen künftigen Jeff Bezos (der allerdings in der letzten Folge einen russischen Hintergrund bekommt, als zum ersten Mal sein Name vollständig ausgesprochen wird), gegen dessen Großmanipulation und zerstörerische Akquisitionen (hilfreiche Ideen zieht er aus dem Verkehr) niemand ankommt. Jede Folge ist in sich dramatisch geschlossen, manche haben Kammerspielcharakter, Familiendramen sind dem großen Drama eingeschrieben. Geoengineering ist Thema einer Folge, in einer späteren werden die Folgen nebenbei benannt. Interessant ist die Serie auch als Lexikon einer kommenden Sprache: charismatic megafauna bezeichnet Tiere, deren Aussterben besonders schmerzlich empfunden wird (der Buckelwal), crimes against the planet deutet auf ein künftiges Populationsrecht. Religiöse Motive werden geschickt verarbeitet. 1968 schrieb der Whole Earth Catalogue: we are as Gods. Antwort in Episode 4: we are just parents and childen. Auf diese Ebene wird die Katastrophe auch in Extrapolations heruntergebrochen. (Apple TV)

Manifesto Angie Vinchito Russische Föderation 2022

Ein Schultag in Russland, vom frühen Morgen, als der Wecker in verschiedenen Wohnungen klingelt, bis zu einem katastrophalen Ende mit einem Mädchen und einem Jungen, die zuerst einen Fernseher, dann sich selbst erschießen, während Spezialkräfte zu ihnen auf dem Weg sind. Das Material dieses Manifests besteht vollständig aus Youtube-Videos, deren Herkunft im Abspann detailliert aufgelistet ist. In der Montage entsteht daraus ein repräsentativer, landesweiter Schultag, in dem zunehmend Aspekte von Gewalt überhand nehmen: zuerst nur Alarmsirenen, Atomkriegsproben, dann Züchtigungen, Körperstrafen (küss den Fuß = Liegestützen), Wehrerziehung. Eine Lehrerin erklärt, dass eine Frau immer dann Sex wollen muss, wenn ihr Mann will. Eine andere verkündet, für Kritik an Putin hätte es in der Sowjetunion die Todesstrafe gegeben (sie klingt so, als wäre sie auch heute dafür). Evakuierungen werden geprobt, oder tatsächlich notwendig, als nämlich Gewaltakte passieren. Ein spezieller Teil des Materials betrifft junge Leute, die sich für Nawalny engagiert haben, und zu Bußritualen vor die Kamera treten, offensichtlich dazu gezwungen (einer, nackt, führt sich anal eine Flasche ein, ein LGBTQ-Flagellant, umgedreht durch die Behörden). Schließlich in einer langen Schlusssequenz der Junge und das Mädchen, eingebunkert und in Erwartung der Autoritäten (wir werden an einem Gehirnschuss sterben), denen sie sich durch Suizid entziehen: Machen wir aber vorher die Kamera aus. Vergleiche How to Save a Dead Friend. (Nyon Stream)

La palisiada Philip Sotnychenko Ukraine 2023

Aysel und Kiril sind ein Paar. Er zeigt allerdings wenig Lust, zu ihrer Ausstellungseröffnung in Odessa zurecht zu kommen, er taucht schließlich aber doch auf, es wird zu Abend gegessen, zwei Männer, eine Frau, das junge Paar mit den nicht ganz vollständigen Schwiegereltern. Danach ein Dialog im Schlafzimmer, eher gehässig von Kirils Seite, die Szene endet mit einer heftigen Pointe. Zeitsprung in das Jahr 1996. In Uschgorod, im äußersten Südwesten der Ukraine, ist ein Polizist getötet worden. Zwei Männer sind im Team der Ermittler: Sasha und Ilhar. Sasha ist der Vater von Kiril, Ilhar der von Aysel, wie sich bald erweist. Videoaufnahmen spielen bei den Ermittlungen (und bei den Verhören und Reenactments) einen große Rolle. Und auch die Ästhetik des Films schließt bei der Home Movie-Ästhetik an, die mit den Cams verbreitet wurde: zweimal wird ein Raum mit der Kamera durchmessen, das zweite Mal spielerisch-ironisch. Markant unklar bleibt dabei, wer die beobachtende Figur ist ­– der Regisseur in einer reflexiven Bezugnahme auf die technischen Veränderungen des Filmemachens seit den frühen neunziger Jahren, zugleich auch die Zeit der ukrainischen Unabhängigkeit? La palisiada ist zutiefst postsowjetisch, bei einer beruflichen Feier zum Ende hin formieren sich neue nationale Eliten, Sasha und Ilhar sind kleine Rädchen darin. Ein junger Mann mit zweifelhafter Schuldfähigkeit wird für das Verbrechen verurteilt, und hingerichtet (mit dem Genickschuss, den auch Franziska Stünkel in Nahschuss thematisiert). Bei einer Rede auf der Party wird der Filmtitel in Ansätzen erklärt: La palisiada (polisiada) ist eine figure of speech oder einfach eine redundancy, ein leerer Prestigebegriff, mit dem der Psychologe Sasha sich gern schmückt. Der Film endet mit einem Abflussloch, Blut und Wasser werden weggewischt. Und implizit mit der Abschaffung der Todesstrafe, einem Schritt der Ukraine in Richtung europäischer Westen, der hier nicht dementiert, aber relativiert wird. (goEast Stream)

Swarm Donald Glover + Janine Nabers USA 2023

Dre (Andrea) ist eine junge Frau mit queerer Ausstrahlung in Texas Mitte der zehner Jahre. Sie verehrt den Popstar Ni’jah (gemeint ist: Beyoncé). Jede Episode beginnt mit den Insert: This is not a work of fiction. Alle Parallelen zu tatsächlichen Personen und Zusammenhängen sind intentional. Das soziale Leben von Dre hat zwei Ebenen: sie hängt sehr an ihrer Schwester Marissa (die genaueren Familienverhältnisse werden in Folge sechs erkennbar), und sie bewegt sich in den sozialen Medien in einem Schwarm von Fans (dedicated devotees), die allergisch reagieren, wenn irgendjemand Ni’jah nicht für die Größte hält. In der ersten Folge kommt es zu einer Beziehungstragödie, auf die Dre mit brutaler Gewalt reagiert. Danach ist sie unterwegs, jede Folge eine Station in einem anderen Bundesstaat, jede Folge eine Tat auf dem Weg einer Serienmörderin, deren Serie niemand bemerkt (bis zur Folge sechs, die wie ein True Crime-Drama inszeniert wird, und das davor Geschehene rekonstruiert). Die Stationen von Dre sind auch ein Katalog heutiger amerikanischer Popkultur, mit einem fresssüchtigen jungen Mann, der radikal abgenommen hat und den Dre in einer der brutalsten Szenen zu einem Rückfall provoziert, oder bei einem sorority tribe esoterischer junger Frauen (darunter Billie Eilish in einer interessanten Rolle), deren Spiritualität Dre dann auch in Gore umdreht. Die vielen blunt force traumas sind alle im Off, aber Swarm spielt doch deutlich mit Gewaltglam. Dre ist eine heutige, Schwarze Ms. 45, die das Universum von Todd Solondz oder Ari Aster (Beau is Afraid) auf afroamerikanisch dreht, und natürlich sind die sozialen Medien genau so wirklich wie die Visionen von Dre, die sich später auch Tony nennt, denn es bleibt nur die Flucht nach vorn. Das Finale ist ein bisschen unentschlossen. (Amazon Prime)

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