Filme und Folgen (53)

Notizen: Dezember 2022

One Day in Ukraine Ukraine 2022 Volodymyr Tykhyy

Der 14. März 2022 war der 2944. Tag des Kriegs, den Russland gegen die Ukraine führt. So wird jedenfalls unter ukrainischen Aktivisten und Patrioten gezählt, plausibel, denn seit 2014, seit der Annexion der Krim und von Teilen der Ostukraine durch russische Soldaten und Schergen, war in der Ukraine jedenfalls nie wirklich Frieden. In der Zählung des Jahres 2022 aber war der aktuelle Angriff wenige Wochen alt, als Volodymr Tykhyy diesen Dokumentarfilm organisierte (gemeinsam mit der Gruppe Babilon 13) – die Konzentration auf einen Tag in der Ukraine machte es erforderlich, dass Aufnahmen an unterschiedlichen Orten und mit mehreren Protagonistinnen schließlich zusammengeführt wurden. Es beginnt und endet in der U-Bahn unterhalb von Kyjiw, wo die Menschen Zuflucht gesucht haben. Draußen bekommen wir eine junge Frau namens Dasha zu sehen, die sich in der Verpflegung engagiert (und in Parks Futter für Tiere auslegt), einen Freiwilligen, der mit einer Drohne das Gelände um Moschtschun (und Irpin, aus den Nachrichten besser bekannt) erkundet, einen Politikberater, der von dem Marathon spricht, der für die Ukraine bevorsteht, nachdem der erste Sprint, die Verteidigung von Kyjiw, gewonnen wurde. Das Drohnenmaterial macht bewusst, dass von diesem Krieg eine ungeheure Menge visuellen Materials existieren muss, das vielleicht später einmal zusammengefügt werden kann, wobei es dafür eine Menge forensischer Arbeit brauchen wird. Interessant ist eine Szene, in der man Männer an Pfosten gefesselt sieht, einem wurde die Unterhose hinuntergezogen, allen sind Kartoffeln in den Mund gepresst – sie stehen, bewusst gedemütigt, am Pranger, weil sie geplündert haben. Ein Gespräch in einem Auto eines Kämpfers, der sich (ob zustimmend, bleibt offen) zu den «naziks» zählt (das Wort ist aus der russischen Propaganda), ist aufschlussreich: er meint, dass die Ukraine 1991 «zwischen den Regentropfen auf den Rücken des baltischen Völker» ein Schlupfloch (in die Unabhängigkeit) fand. Er lässt erkennen, dass er 1995 in Tschetschenien gekämpft hat, schon damals antimperialistisch, ein Pionier des Kriegspatriotismus, von dessen Integration in eine demokratische Ukraine nach diesem Krieg viel abhängen würde. Es handelt sich bei dieser Stimme aus dem Off, wie ich eruieren konnte, um Evgen Dykyj, es ist also der Mann, der zuvor von dem Marathon sprach. Der 14. März 2022 war, wie am Ende deutlich wird, ein Feiertag: die Ukraine feiert an diesem Tag den Volunteer’s Day, in Erinnerung an das Engagement während der Revolution 2013/14, an die in der hier gezeigten Defensivsolidarität tatsächlich viel erinnert. (vimeo)

House of the Dragon Ryan J. Condal USA 2022

Das Prinzip Erbfolgekrieg als Gründungslegende, in eine mythische Vorzeit verlagert und nach allen erdenklichen Faktoren hin ausdekliniert. Blutiges Kindbett als Leitmotiv, der Kaiserschnitt nicht als rettender, sondern als tödlicher Eingriff. King Viserys the Peaceful wirkt anfangs schwach in seiner Anhänglichkeit an die verstorbene Frau, die ihm keinen männlichen Erben geboren hatte (jedenfalls keinen, der am Leben lieb), mit seinem Architekturmodell, an dem er im Halbfinsteren am liebsten herumbastelt (Spielzeugeisenbahn avant Eisenbahn), und nicht zuletzt wegen einer langen Krankheit, die ihn allerdings selbst über den beträchtlichen Zeitsprung zur Hälfte der Staffel hinweg nicht sterben lässt – er hat nämlich noch einen großen Auftritt zu absolvieren, ein letztes Abendmahl, bei dem er seine allerletzte Autorität mobilisieren muss, die er aus einem verwüsteten Körper noch herausholen kann. Große Episode. Die Succession-Komplikationen der Reihe nach: Viserys bestimmt seine Tochter Rhaenyra als Nachfolgerin, zeugt aber dann mit seiner zweiten Frau Alicent Söhne, die ihres Geschlechts wegen (und weil deren Familie, die Hightowers, ehrgeizig ist) auch auf den Thron reflektieren (der Erstgereihte allerdings disqualifiziert sich in einem Stadtteil namens Flea Bottom durch depravity). Rhaenyras Tante Rhaena, die ganz zu Beginn vom Rat zurückgestuft wurde, heiratet in eine Familie in eine unwirtliche Gegend, behält als Drachenreiterin aber Autorität, und ist Mutter des Sohnes, mit dem Rhaenyra die königliche Erbfolge fortführen soll, während sie selbst noch auf ihr Amt wartet – dieser Sohn aber ist schwul, sodass die dritte Generation (Rhaenyra hat eine Weile ein Verhältnis mit einem Ritter) das Gegenteil von trueborn ist, auch äußerlich, weil dunkelhaarig. Interessante Pointe: das Velaryon blood, das binnenmythologisch viel Prestige hat, wird durch „farbenblinde“ Figurenkonzeptionen quasi Schwarz, was wiederum durch die leitmotivische Haarfarbe flachsblond und durch die Dreads von Lord Corlys (Steve Toussaint) weiter akzentuiert wird – die rückprojizierten Diversitätsansprüche und das genealogische Reinheitsprinzip der „Wahrgeburt“ (trueborn) werden mit kulturellen Aneignungen kreuz und quer verschaltet im Herzen eines ätiologischen Uhrwerks – die Creditsequenz setzt wie auch Game of Thrones auf Maschinenmotive, zwischen denen sich Blutfluten ergießen. (HBO/Sky)

The Plot Against Harry Michael Roemer USA 1989

Eine irre Komödie, deren Komik vor allem in der Verknüpfung seltsamer Situationen besteht: Harry Plotnick, der sich manchmal auch Harry Shapiro nennt, war neun Monate im Knast und beginnt nun in Freiheit sofort wieder die Fäden seines Lebens zu ziehen, mit Autotelefon und Laufburschen, sein Metier sind the numbers, er wickelt Wetten ab und verdient dabei prächtig. Auf seinen Wegen durch ein sehr halbdokumentarisch wirkendes eher nichtweißes New York trifft er auch auf seine Ex-Frau Kay, und zwei Töchter, von denen er anscheinend gar nicht viel wusste; bei seinem Schwager, der ein kosher catering betreibt, will er künftig Teilhaber sein, das Geld für den Einstieg organisiert er auf seine Weise, also informell. Von einer jüdischen Kerzenparade kommt Roemer umstandslos zu einer Unterwäschemodeschau, später zu einer Party in der U-Bahn, einer Dog Show, in ein Turkish Bath, zu einer Pyjama Party, und in einen Untersuchungsausschuss im Senat. Harry, der das alles mit großer Nonchalance und einem halb ungläubigen Smile oder Halbsmirk über sich ergehen lässt, erfährt von einem Arzt, dass er ein zu großes, schwaches Herz hat (a bum heart), und kollabiert folgerichtig auch irgendwann, ein Höhepunkt der Surrealität in den Kulissen der Dreharbeiten eines Musikvideos (avant video). Am Ende muss er wieder ins Gefängnis, seine Diagnose wird widerrufen, wenn er herauskommt, in einem Jahr oder so, kann der Reigen von vorn losgehen. Grandios. Hilariös. (Unknown Pleasures Vorsichtung)

Unrecht und Widerstand. Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung Deutschland 2022 Peter Nestler

Romani Rose, geboren 1946 in Heidelberg, steht im Mittelpunkt dieses Porträtfilms, der zugleich «das Schicksal unserer Minderheit in Europa» erschließt: Sinti und Roma. Von einer Zeremonie in Auschwitz zu Beginn geht Nestler zurück in das Jahr 1985, zu Aufnahmen von einer ersten Reise in das ehemalige Vernichtungslager. Dann beginnt Rose seine Familiengeschichte zu erzählen, die stellvertretend für sein Volk stehen kann: sein Großvater hatte ein Wanderkino, wurde aber mit Beginn der NS-Herrschaft sofort aus der entsprechenden Kammer ausgeschlossen. Eine spannende Episode (rekonstruiert durch Historiker) erzählt von einer Intervention bei dem Münchner Kardinal Faulhaber («die Kirche hat mit dem Rücken zu den Opfern gelebt», heißt es zusammenfassend). Von dem Onkel Vinzenz Rose wird eine abenteuerliche Fluchtgeschichte aus einem Gipsstollen in Neckarelz erzählt, wo er Zwangsarbeit verrichten sollte (zuvor hatte ihn in einem anderen Lager sein Zitherspiel gerettet, er ließ mit dem Wolgalied seine Peiniger sentimental werden). Das eigentliche Thema des Films über und mit Romani Rose ist aber der Umgang des BRD-Staats mit den Sinti und Roma: von einer «Kriminalisierung der Überlebenden» ist da die Rede, ehemalige Täter hüteten die Archive, in denen ihre Schuld dokumentiert war, Protestaktionen bis zum Hungerstreik waren notwendig, um die Akten wissenschaftlich zugänglich zu machen. Immer neue Synonyme wurden erfunden, um die «mobile ethnische Minderheit» bürokratisch einzusperren. Ein bezeichnender Talk-Show-Archivfund handelt von dem CDU-Politiker Tandler, der sich darüber beklagte, dass man «das Gesindel heute nicht mehr beim Namen nennen darf» (er hatte Sehnsucht nach dem Z-Wort). Dem Massenmord vor 1945 steht massives Unrecht nach 1945 gegenüber, das in einem Bericht Antiziganismus immerhin im Jahr 2021 (!) aufgearbeitet wurde. (Dokumentarfilmwoche Duisburg 3SAT Mediathek)

Mariupolis 2 Litauen/Frankreich/Deutschland 2022 Mantas Kvedaravičius/Hanna Bilobrova

Die Stadt Mariupol im Krieg im März 2022. Mantas Kvedaravičius und Hanna Bilobrova (Ton, Ko-Regie) haben inmitten einer Ruinenlandschaft bei einem Baptistendom eine Zuflucht gefunden und dokumentieren das Leben der Menschen, die dort im Keller durchzukommen versuchen. Der Blick geht immer wieder zum Horizont, wo man die innere Stadt und das berühmte Stahlwerk in der Ferne ausnehmen kann. Rauchwolken, ab und zu Artilleriefeuer, und die Geräusche des Kampfs. Die Leute durchkämmen die Umgebung, in einem Haus werden zwei schon stinkende Tote gefunden, und ein Generator, ihre nützlichste Hinterlassenschaft. In einem Garten werden Suppen aus dem wenigen Vorhandenen gekocht (Was sind das für Zweige?), ab und zu ist Zeit für eine politische Überlegung (the more honest the government the worse our lives), oder eine religiöse: Gott hat die nicht beschützt, die nicht gebetet haben (zum Beispiel die im Theater von Mariupol). Der Frühling kommt, der Kampf am Horizont geht weiter, am 2. April wurde Mantas Kvedaravičius von Russen getötet. Der Film ist seine Hinterlassenschaft, seinen ersten Film über Mariupolis sollten sich alle anschauen, die wissen wollen, was Putin an der Ukraine so hasst, nämlich einen Gemeinsinn, der das Potential zu einer richtigen Demokratie hat. (Presse-Screener)

 

 

 

 

 

 

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