Filme und Folgen (44)
Notizen:März 2022
Baqyt (Happiness) Askar Uzabayev Kasachstan 2022
Die Formel based on real events kommt hier erst im Abspann, zusammen mit einem weiteren Inserts, das darauf hinweist, dass in Kasachstan die Gesetzgebung traditionelle Vorstellung von Familie bevorzugt. Entsprechend ist das auch ein Film über eine größere, am Ende dann auf den Kern reduzierte Familie. In der ersten Stunde wird das mit soziologischer Präzision freigelegt: zuerst die Frau, die sich mit Prügelmalen vor dem Spiegel prüft, die Tochter, die von einem unreifen Jungen schwanger ist, und dann vor allem der Mann, der im Schatten seiner reichen und einflussreichen Schwester steht. Die Heirat, auf die es in diesem Moment zusteuert, ist den Konventionen geschuldet oder der Vermeidung von Beschämung: das kommende Kind muss legalisiert werden. Zum Fest gibt es dann aber trotzdem das volle Folkloreprogramm, im Hintergrund geht es immer um die kasachische Nation als Ganzes (Ort ist eine Stadt am Wasser, Jahreszeit ist Ende Winter, das Eis wird gerade brüchig). Dann sieht man die Frau bei ihrem Business, in einem orangefarbenen Kleid (Markenfarbe einer Kosmetiklinie), sie gibt eine Präsentation über Glück, die Musik kommt von Vivaldi. In einem Gespräch mit einer Freundin, die sich als Anwältin erweist, erzählt die Frau von neun Abtreibungen in fünf Jahren, jedesmal hat sie ein Mädchen erwartet, und nicht den ersehnten Stammhalter (ein weiterer Traditionalitätsmarker). In der zweiten Hälfte eskaliert die Gewalt: die Frau spricht eine Scheidung an, es folgt ein unvermittelter Schlag, und dann ein extremer Ausbruch (gefilmt klassisch: die Schläge finden ihr Ziel außerhalb des Blickfelds, hinter einem Tisch). Die Figur des Mannes ist exzellent besetzt und gespielt: er ist ein armer Teufel, und zugleich ein absolut brutales Monster. Als die Frau sich zur Selbstverteidigung einen Hammer kauft, kann man schon ahnen, was kommt, allerdings wird diese Ahnung durch einen extremen Moment noch übertroffen (könnte ich ein Interview zum Film machen, würde ich die Drehbuchautorin Assem Zapisheva danach fragen, ob sie diese Szene tatsächlich selber so entworfen hat). Am Ende hat das stolze Kasachstan ein neues Baby, es bekommt einen kontraintuitiven Namen. Baqyt ist geradezu mustergültig filmisch erzählt, jede Einstellung ist nicht nur thetisch von Interesse, sondern unterlegt das Argument auch ästhetisch oder mise-en-szenisch. Der Hammer ist aber nicht nur Dingsymbol, sondern auch Metapher für die politischen Notwendigkeiten, denen Baqyt mit seiner überschießenden Dramaturgie (und seiner Psychologie der Ohnmacht) gerecht zu werden versucht. (Berlinale Panorama Stream)
O trio em mi bemol (The Kegelstatt Trio) Rita Azevedo Gomes Portugal 2022
Erich Rohmer hat ein Theaterstück hinterlassen, das die Grundlage für diesen kleinen Film ist: Adelia und Paul waren einmal ein Paar, nun lebt er in einem Haus in Portugal, das von Beginn an als Protagonist erkennbar ist, mit seinen unkonventionellen Winkeln, mit viel Glas, und einer mediterranen Umgebung. Die Szene des ersten Wiedersehens wird gespielt, und dann jäh unterbrochen. Die Kamera kehrt die Perspektive um, man sieht nun Jorge, den Regisseur, der nicht zufrieden ist, aber auch nicht sagen kann, was anders hätte sein sollen. Man einigt sich darauf, zum Abendessen zu gehen und am nächsten Tag weiterzumachen. Der Text des Stücks kommt dann auch sukzessive zur „Aufführung“, zum Teil tatsächlich für die Kamera gespielt, zum Teil aber in Form von Proben, bei denen aber auch die Kamera mitläuft. Adelia und Paul nähern sich einander allmählich wieder an, das Kegelstatt Trio von Mozart spielt dabei eine wichtige Rolle, überhaupt sein Pathos für klassische Musik, die er als „physisch“ wahrnimmt, während Rockmusik (Adelia geht gern zu Konzerten und hat neue Freunde in der Branche) für ihn „intellektuell“ konnotiert ist! Das Paar, das mit, man könnte sagen, typisch französischen Dialogen allmählich wieder zusammenfindet, spielt dabei immer auch um la phrase herum, um das je t’aime, das auszusprechen so voraussetzungsreich ist, dass man es vielleicht besser bei einer Liebe vor der deklarierten Liebe belassen könnte (zumal, wenn man schon einmal als Paar gescheitert ist). Diese Deutung steht aber sowieso unter dem Vorbehalt, dass der Regisseur Jorge schließlich einen Neubeginn von vorn verordnet, wieder ohne Begründung, einfach so. Er hält mit seiner meist einfach empfänglichen Präsenz (in der Sonne sitzen, in einem schattigen Zimmer sinnieren, einen ekstatischen Einschub gibt es auch) den Film im Lot, in dem er selbst nur Figur ist, denn es gibt ja noch ein dritte Ebene, die der Regisseurin, die diesen kleinen, diskret experimentellen Film gemacht hat. (Berlinale Forum Stream)
Achrome Maria Ignatenko Russland 2022
Ein junger Balte namens Maris meldet sich während des Zweiten Weltkriegs zum Dienst mit der deutschen Wehrmacht. Es ist die Zeit, in der Juden einfach erschossen und in Gräber geworfen werden, die sie selbst ausheben mussten. Die Frage „schon geschossen?“ ist auch die einzige, die er beantworten muss, um aufgenommen zu werden, er beantwortet sie mit nein. Die Erzählung bleibt auf das Allernotwendigste beschränkt. Wir dürfen auf einen moralischen Konflikt bei Maris schließen, er läuft schweigend und wie traumwandlerisch durch die Tableaus, um die es Maria Ignatenko vor allem geht. Man wird nicht leicht einen Film finden, der konsequenter auf Ästhetik setzt im Verhältnis zu einer halbwegs geläufigen Narration. Tarkowski, Sokurov, Tarr, Nemes, die großen osteuropäischen Künstler oder Kunstambitionierten, an die man denken könnte, werden von Ignatenko einerseits gewürdigt, andererseits wirkt ihr Film, als wolle sie alle verschwommenen, vernebelten, verregneten, freskenhaften Visionen noch überbieten. Ein Kloster mit einem weitläufigen unterirdischen Gewölbe ist einer der wichtigsten Schauplätze. Das Halbdunkel ist ästhetisches Prinzip, zugleich ist Weiß eine Leitfarbe. Aus Gründen, die ich nicht verstanden habe, trägt Maris meistens eine Art Unterwäsche, eine weiße Kluft, auch beim Kirchgang. Einige Szenen sind wohl als Träume zu werten, anders wären die Sprünge in der Erzählung gänzlich erratisch. Einmal gibt es auch so etwas wie eine Explikation, ein innerer Monolog: Ich sah das Gesicht des Krieges, es war hässlich und grotesk, ich weiß nicht, erlebe ich einen Traum oder nicht. Der Krieg hat mich entmenschlicht (ich übersetze die englischen Untertitel). Das Schlussbild ruft gerade nach einer Deutung: Menschen, darunter Frauen in weißer Unterkleidung, werden zur Ermordung getrieben, mit den Frauenleichen in einem Graben spielen die Deutschen ein übles Spiel, sie posieren mit ihnen in höhnischen Gelageszenen für eine Kamera, hinter der man sich einen deutschen Kameraden denken muss, die aber die von Ignatenkos Mitarbeiter Antom Gromov ist. Im Grunde machte diese Szene nur dann Sinn, wenn sie auf ein historisches Fotodokument gründen würde, wie es sie ähnlich sicher gibt, aber Ignatenko löst das so nicht auf, sondern belässt auch diesen letzten Moment ihres Films in der Spannung zwischen ihrem alles bestimmenden Kunstwillen und einer doch sehr undeutlich ins Allegorische neigenden Erzählung. Achrome ist allerdings visuell doch so stark, dass ich ihn sehr gern einmal auf einer großen Leinwand sehen und dann vielleicht auch besser verstehen würde. Die Regisseurin behalte ich auf jeden Fall im Auge. (Festivalscope IFFR online)
Inferno Rosso – Joe D’Amato on the Road of Excess Manlio Gomarasca Massimiliano Zanin Italien 2021
Joe D’Amato war einer der großen europäischen Schundfilmemacher. Bürgerlicher Name Aristide Massacceci (1936-1999), Lebensertrag rund 200 Filme, davon gut 170 in unterschiedlichem Maß als Sexfilme zu bezeichnen. Über sein Schaffen und seine Bedeutung sprechen in diesem relativ kurzen Porträt eine Menge Mitstreiter:innen sowie als Promi der Amerikaner Eli Roth (Green Inferno), und als Diskursleiter und Schwadronierer der französische Kritiker und Kurator Jean-Francois Rauger, der an der Cinémathèque francaise eine Retro zu D’Amato organisiert hat, und das erwartbare Begriffsgewitter ablässt (desir, choc, pipapo). D’Amato war der Entdecker von Laura Gemser, der Schwarzen Emanuelle (wichtig ist die Schreibweise mit einem m, die Plagiatsvorwürfe von seiten des global erfolgreichen Emmanuelle-Franchises verhindern sollte). Das Label eines „Roger Corman italiano“ trifft auch einiges. Interessant fand ich den Hinweis, dass D’Amato die pre-sales seiner Filme häufig vor allem aufgrund der (damals noch von Hand gemalten) Plakate organisierte, die ein eigenes Genre sind (Eli Roth zeigt sich diesbezüglich auch als Sammler). Als diese Märkte zusammenbrachen, begann D’Amato, richtige Pornos zu drehen, also Hardcore mit dem jungen Rocco Siffredi (Marco Polo: Die nie erzählte Geschichte). Das ruinierte seine Reputation, die wiederherzustellen es aber diesen Film wohl nicht gebraucht hätte. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf die konkreten Filme (die meist in Montagesequenzen verschliffen werden) hätte nicht geschadet. (Festivalscope IFFR online)
CE2 (Third Grade) Jacques Doillon 2021
Claire ist acht Jahre alt. Sie geht auf eine Schule in einer kleinen Stadt in der Nähe von Clermont-Ferrand. Kevin ist ein Jahr älter, er belästigt Claire, greift ihr unter den Rock, sie will danach nur mehr mit Hose in die Schule. Ist Kevin ein „prédateur“, und Claire ein „victime“? Die Sache ist nicht ganz so einfach, denn Doillon inszeniert die Übergriffe von Kevin so halb wie einen Tanz, und auch wenn die Buben Claire in den Mittelpunkt eines Spiels stellen, bei dem sie von allen geohrfeigt wird, so bleibt das doch deutlich auf einer Ebene, die (noch) nicht traumatisierend wirkt. Es geht schließlich auch vor allem darum, hinter Kevins aggressiver Zuneigung eine Geschichte zu erfahren. Beide Kinder gehen nach der Schule zu sich nach Hause, das sind dann zwei entgegengesetzte Welten: Claire wächst behütet auf, mit einer gesprächsbereiten Mutter, der Vater ist Soldat und im Mali; Kevins Mutter trinkt, sein Vater lebt weiter weg in einem umgebauten Bus. Das ist zuerst einmal ein bisschen schematisch, wird dann aber durch Begegnungen vertieft und differenziert, und niemals zu Sozialkitsch: Kevins Vater taucht bei Claires Mutter auf, auch das lässt Doillon wieder halb choreographiert wirken. Die Gendarmerie wird so richtig nicht gebraucht. Kevin findet für Claires Ängste (vor Monstern) eine Lösung, die mit den Alltagsgegenständen in einer Welt zu tun hat, die mit Jagd und Militär konnotiert ist. Das Drama, das hier auch denkbar gewesen wäre, löst sich auf in einer schönen Variation von Motti (devises), wie sie Soldaten mit in den Kampf (um Frieden) nehmen. Dass Claire und Kevin überhaupt gemeinsam in eine Schule gehen, erweist sich bei allen Problemen als wesentlich: Billom (so heißt der Ort, an dem gedreht wurde) kennt keine Gettos. (Festivalscope IFFR online)
Rosen blühen auf dem Heidegrab Hans H. König BRD 1952
Die schöne junge blonde Dorothee fährt mit dem Fahrrad und einer Milchkanne über die Heide. Ein Mann stellt sich ihr in den Weg: Dietrich Eschmann, vierschrötig, Bart, dunkles, gewelltes Haar, erhebt Anspruch auf ihre Liebe (sein großer Hof würde auch gut zu dem kleineren ihres Vaters passen, was vor allem für diesen ein wichtiger Aspekt ist). Aus der Stadt Lüneburg kehrt Ludwig in das Dorf zurück, mit seinem Auto, ein junger Architekt, der durch die Planung einer modernen Zweiraumwohnung aufgefallen ist, die nun in Serie (in den Siedlungsbau) gehen soll. Dorothee fällt auf, dass Ludwig gar kein (Ehe-)Bett eingeplant hat, so eifrig ist alles auf Geschäftigkeit von Mann und Frau ausgerichtet (ein Klappbett räumt er dann immerhin ein). Der mächtige Schatten von Dietrich liegt über allem, zudem kennt man aus der Tradition eine Geschichte von einer Wilhelmina (Doppelrolle mit Dorothee: Ruth Niehaus), die im Dreißigjährigen Krieg von einem schwedischen Leutnant vergewaltigt wurde und ihn aus Rache/Scham ins Moor geführt hat, ein Grabstein, mit Rosen bewachsen, hält die Erinnerung lebendig. Dorothee wird zur Wiedergängerin von Wilhelmina, während Ludwig einen Tag nach Hamburg muss. Dietrich fällt über sie her, die Vergewaltigung wird sinnbildlich gezeigt, die Konsequenz daraus ist mythisch: „es gibt keinen anderen Weg für uns, Dietrich“, sie führt ihn ins Moor, wo sie bald bis zum Kopf im Morast stecken. Sturmwarnung, Irrlichter, große Suchaktion, Dorothee zwischenbilanziert: „Wir sind vom Weg abgekommen, Dietrich.“ Leitern werden zu den Versinkenden gelegt, Dietrich wird gerettet (auf ihn wartet seine Magd und Geliebte, die er aber zurückweist), Dorothee wird tot geborgen, dann aber reanimiert. Das Moor hat gerufen, aber Ludwig, der das Trauma seiner Verlobten mit einem Ring versiegelt, hat lauter gerufen, zurück ins Leben. „Die Macht der Rosen Wilhelminas ist gebrochen“, sagt Dorothee. (Datei)
Leur Algérie (Their Algeria) Lina Soualem Algerien/Frankreich 2020
Die Filmemacherin dokumentiert die Trennung ihrer Großeltern, die nach 62 Jahren Ehe in zwei benachbarte Wohnungen ziehen: ein Paar aus Algerien, das 1952 geheiratet hatte (eine arrangierte Ehe), nach Frankreich gekommen war, weil die Arbeitskräfte gebraucht wurden. Nun blicken Aisha und Mabrouk auf ihr Leben zurück. Sie kocht immer noch für ihn, einmal sitzt sie auf einer Parkbank neben ihm, er ist über eine Zeitung eingenickt, sie lässt es resigniert geschehen. „Er spricht nicht“, il parle pas, il s’echappe toujours, er entzieht sich immer, sagt Zinedine Soualem über seinen Vater. Der bekannte Schauspieler ist das Mittelglied in dieser Familiengeschichte, die Filmemacherin Lina Soualem ist seine Tochter (ihre Mutter ist die Schauspielerin Hiam Abbas, in Succession die zweite Frau von Logan Roy, bekannt aber vor allem aus israelisch-palästinensischen Filmen). Lina legt ihren Großeltern Fotografien vor, die bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen, irgendwann heißt es, dass Mabrouks Familie damals neunzehn Aprikosenbäume hatte. Es war ein Fehler, nach Frankreich zu kommen, sagt der Großvater einmal, doch nun muss man eben dort bleiben, wo man sein Leben lang in die Sozialsystem eingezahlt hat. Aisha lacht immer wieder so, dass es von Weinen nicht leicht zu unterscheiden ist, sie schlägt dann verlegen die Hände vor das Gesicht. Ein Videodokument aus dem Jahr 1992, von der Hochzeit einer Tochter, erinnert an andere Zeiten, die Frauen tanzen, der Mann verzieht sich nach draußen. Am Ende ist es die Enkeltochter, die nach Laaouamer fährt, in die Berge in Algerien, an den Ort des Herkommens. Ein ganzes (nach-)koloniales Jahrhundert in einem knappen, sehr verdichteten, schön persönlichen Film. (ALFilm Berlin Stream)
Abgebrochene Serien: The Fear Index (Sky), The Afterparty (Apple)
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