Filme und Folgen (3)
Notizen: Mai 2018
The Other Side of Everything (Mila Turajlic, Serbien 2017)
Eine (ehemals groß-)bürgerliche Wohnung in Belgrad. Adresse Bircaninova 20a. Hier wohnt Srbijanka Turajlic, eine der führenden Vertreterinnen der demokratischen Opposition in dem Land, das Jugoslawien 1991 den Krieg erklärte. Die Tochter macht offiziell einen Film „über das Gebäude“. Im Mittelpunkt steht eine Tür, die seit der kommunistischen Machtübernahme nach dem Zweiten Weltkrieg verschlossen war. Damals wurde ein Flügel der Wohnung nationalisiert, seither lebte dort Frau Lazarevic, eine Vertreterin des Proletariats, die mit der „besiegten“ Bourgeoisie in einer labilen Koexistenz nicht nur eine Wohnung, sondern einen Staat teilt. Mila Turajlic rekapituliert mit ihrer Mutter und den vielen Gästen der Turajlics in Grundzügen die gesamte Geschichte Jugoslawiens und später Serbiens im 20. Jahrhundert: der Urgroßvater war bei der Ausrufung der Republik 1918 dabei, die Eltern bei der Revolution im Jahr 2000, als Milosevic gestürzt wurde, aber die nationalistische Politik nicht überwunden werden konnte. Archivmaterial und persönliche Erinnerungen verbinden sich zu einem beeindruckenden Film über (Familien-)Geschichte und Politik. (dokfest München, Festivalscope)
Impreza – Das Fest (Alexandra Wesolowski)
Vorbereitungen zu einer Goldenen Hochzeit in Polen: Danusa und Maciej sind seit 50 Jahren verheiratet, es geht ihnen materiell sehr gut, die Frau bestimmt das Geschehen, so soll es beim Fest auch eine Modeschau geben, bei der die weibliche Nachkommenschaft die Geschichte von Danusa rekapituliert. Aus Deutschland kommt Ola, eine junge Frau, die zum Medium dieses Dokumentarfilms wird: Sie vertritt ein offenes Europa, einen globalen Humanismus, während in der Familie alle rechts sind, also die nationalkonservative Politik unterstützen, die (so formuliert es eine Radiostimme zu Beginn des Films) in Polen die „Grundwerte“ in Europa in Frage stellt. Aus den Gesprächen (immer wieder durch halb angelehnte Türen gefilmt) kann man viel über Reaktion(sbildungen) in der Politik lernen: Der Kommunismus wurde in Polen nicht zuletzt als eine Ideologie erlebt, die alles durchdrang (auch die Biologie musste marxistisch sein, zum Beispiel). Nun hat sich die Abwehr dagegen auf eine bürokratisierte Moderne und die EU verschoben, der man unterstellt, dass sie auf dem Verwaltungsweg ihre eigene Ideologie (Gender, Migration) europaweit durchsetzen will. Man merkt deutlich, dass viele Argumente aus manipulativen Kontexten stammen, während Ola halt so recht und schlecht die europäische Einigung verteidigt, dabei aber niemals auf den naheliegenden Punkt kommt: dass es in Europa wie in Polen um eine Balance von Freiheiten (und nicht von Bevormundungen) gehen sollte. Impreza gibt einen spannenden Einblick in ein polnisches Biedermeier: die gröbsten materiellen Sorgen sind gestillt, die Protagonisten leben sogar im Wohlstand, den Rest delegiert man gern an eine Autorität, die den Segen der Kirche (und die wahre nationale Tradition) für sich reklamiert. (dokfest München, Stream)
Mindhunter 1.7
Tench wird nicht damit fertig, dass Holden bei einem Interview in Oregon davon erzählt hat, wie ihn seine Mutter bei der Selbstbefriedigung erwischt hat. Er selbst hat im gleichen Zusammenhang den (richtigen) Namen seiner Frau verraten, Nancy. Vieles geht Tench unter die Haut, und natürlich liegt er falsch, wenn er meint, Holden wäre „fucking immune“. Holden ist gerade beim „fucking“ nicht immun, wie sich am Ende dieser bisher vielleicht besten Folge erweist, als Debbie beim Sex ein kleines Fetischangebot macht, das blöderweise Holden davor viel deutlicher einem Serienmörder gemacht hat, indem er ihm Damenschuhe ins Gefängnis brachte. Die Dynamiken von Übertragung und Gegenübertragung (die Interviews sind „no locker room hazing“, und nun einmal schlecht formalisierbar) werden immer spannender. Wendy hängt bei sich daheim ein Kunstplakat auf: American Realism. Und sie füttert eine Katze an. Grammophon Serie Kassettenrecorder: „Electronics these days keep gettin’ smaller.“ Vokabelheft: „smut“, Pornographie (für Jerry Brudos: Schuhkataloge). Nummer: „I Wanna Kiss You All Over“ von Exile. (Netflix)
Kommentare
Einen Kommentar schreiben