Filme und Folgen (39)
Notizen: Oktober 2021
Aliens James Cameron 1986
Die Fortsetzung von Ridley Scotts erstem Alien schließt deutlich bei Apocalypse Now an. Eine Einheit von Marines macht sich auf den Weg zum Planeten LV-426, zu Beginn ganz in der Naivität befangen, die harte Ausbildung und die Waffen würden schon reichen gegen jede Gefahr. Es wird noch geraucht in den Raumschiffen, und der beste Soldat ist eine Frau namens Vazquez (Jenette Goldstein), sie beeindruckt bei den Klimmzügen. Ripley (Sigourney Weaver) weiß es natürlich besser, sie hat zwar mehr als 50 Jahre „geschlafen“, hat aber nicht vergessen, was einmal ihre Bauchdecke von innen durchbohrt hat. Cameron steigert langsam, aber effektvoll die Spannung, bis schließlich nichts anderes bleibt als ein Rückzug. Da läuft dann schon ein Countdown, aber Ripley muss noch einmal hinunter in die Kolonie (den ganzen Film hindurch ist alles feucht, modrig, metallisch und finster), um das Mädchen Newt zu retten. Das geht dann nur Auge in Auge mit einem grauenerregenden Mutter-Alien, das unbedingt mit auf den rettenden Transporter will. Lance Henriksen spielt den künstlichen Menschen Bishop und ist in den letzten Szenen, nun ohne Unterleib, immer noch sehr hilfreich. Die idiotischen Hoffnungen des Kolonialkapitalisten Burke, aus den Aliens ließen sich Biowaffen machen, gehen in Entsetzen auf. Aus der Truppe ragt schließlich Corporal Dwayne Hicks heraus, dessen Darsteller Michael Biehn damals gerade auf dem Höhepunkt seiner Strahlkraft war. (Arsenal prächtige 70mm-Kopie mit schwedischen Untertiteln)
Nine Perfect Strangers David E. Kelley 2021
Ein Achtteiler aus der Fabrik von David E. Kelley auf Grundlage eines Buchs von Liane Moriarty. Nicole Kidman, weiterhin sehr erfolgreich mit ihrem persönlichen Projekt ewige Jugend, spielt Masha, die Leiterin eines teuren Wellness-Resorts namens Tranquillum. Die neun (einander) perfekt Fremden sind so ausgewählt, dass sie eine kuratierte Gruppe ergeben, oder, aus der Sicht der Autorin, eine perfekte dramaturgische Konstellation. Die relevante Methode in Tranquillum ist die Verabreichung von Drogen, anfangs noch versteckt in Smoothies (das Zermerschern von Obst in „subjektiver“ Großaufnahme ist ein Signaturbild der Serie). Im Mittelpunkt stehen die Marconis, Vater, Mutter und Tochter, die über den Selbstmord ihres Sohnes Zach nicht hinwegkommen. Michael Shannon macht aus seiner Figur Napoleon eine große Nummer, inklusive Deklamation einer Bibelstelle aus Levitikus, nachdem ein Tag mit Selbstversorgung in und aus der Natur einem Ziegenbock den Tod beschert hat. Melissa McCarthy ist gut als verunsicherte Bestsellerautorin, ebenso Bobby Cannavale als ihr Gegenüber, ein verunsicherter ehemaliger Football-Star. Nine Perfect Strangers beutet – wie zuletzt auch schon Devs – schamlos eine der größten denkbaren Schmerzerfahrungen aus: den Verlust eines Kindes. Und macht dabei ein bisschen auf Carlos Castaneda für PTSD-Patienten. (Amazon Prime)
Gozaresh (The Report) Abbas Kiarostami 1977
Ich meine, ich hätte den 1995 in Locarno bei der damals ersten großen Kiarostami-Retro schon gesehen. Aufzufrischen gab es allerdings nichts: Die Vorführung im Arsenal traf auf ein clean slate. Die Geschichte beginnt auf den Fluren einer Behörde, die sich bald als zuständig für das Steuerwesen erweist (extrem analog damals noch, die Schreibmaschine, mit der die Credits getippt werden, ist das wichtigste Stück Technik). Die Beamten haben ein entspanntes Arbeitsethos, es wird viel und unverhohlen und vor den Klienten privat telefoniert, als einer ein Teeglas zerbricht, gibt es Streit mit dem Faktotum, ob dafür zwei oder vier Toman anfallen. Der Film folgt dann einem der Männer nach Hause: Mahmad Firouzkoui erweist sich als der wesentliche Protagonist. Er lebt mit Frau und kleinem Kind in einer Wohnung, für die er – wie später zu erfahren – zwei Monate mit der Miete im Rückstand ist, und aus der sie zudem gerichtlich gekündigt werden. Die merkwürdige Indifferenz von Mahmad ist das Rätsel, oder die zentrale erzählerische Idee, des Films: er wird mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert, macht aber einfach weiter, als wäre nichts, er liegt bis Mittag im Bett, und lässt die Kalkulationen seiner Frau, wie sich ein Wohnungskauf ausgehen könnte, ins Leere laufen. Als er mit Frau und Kind in der Stadt Besorgungen macht, eskaliert die Geschichte: Er muss das Auto umparken, der Motor stirbt ab, die Frau wartet lange Zeit auf der Straße auf ihn, während er in Szenen, die Kiarostami quälend ausführlich zeigt, versucht, einmal um den Block zu kommen. Zu Hause gibt es Streit, die Frau will ausziehen, sie und das Kind schreien und weinen, einmal wird das Kind sogar umgeworfen, als die Mutter mit dem Koffer an ihm vorbeirauscht (die Szene wirkt authentisch, ungeplant). Die letzten Passagen erinnern ein wenig an Wo ist das Haus meines Freundes. Nacht bricht herein, eigentlich ist die Spannung groß (die Frau hat einen Selbstmordversuch gemacht, liegt im Spital), aber Mahmad steht lange in einem Imbiss, hört Gesprächen über die Steuern zu, die auf importierte Autos aus Deutschland aufgeschlagen werden. Das Kind ist derweil unbeaufsichtigt im Auto. Unweigerlich liest man Gozaresh heute vor dem Hintergrund des Wissens, dass dieser entstehenden und scheiternden Mittelklasse zwei Jahre später in der Revolution wieder die engen Grenzen der Religion gesetzt wurden. (Arsenal DCP deutlich als Abtastung einer alten Filmkopie erkennbar)
La permission (The Story of a Three Day Pass) Melvin Van Peebles 1967
Ein Schwarzer amerikanischer Soldat hofft intensiv auf eine Beförderung, und tatsächlich bekommt er sie auch: er soll assistant orderly werden, sein weißer Vorgesetzter setzt sein Vertrauen in ihn (in einem stark übertriebenen, direkt in die Kamera gespielten Auftritt, ein grotesker Typ), er muss erst Montag wieder zurücksein. Noch wissen wir nicht ausdrücklich, dass es sich um ein US Army Camp in Frankreich handelt, es muss aber wohl so sein, denn Turner fährt für seine freien Tage nach Paris. Er wirkt psychisch sehr angespannt, spricht immer wieder mit sich selbst im Spiegel, und Van Peebles zeigt ihn als eine in sich und in seinen latent schizoiden Phantasien gefangene Figur. In einem Nachtclub schafft er dann aber doch, seinem Solipisismus zu entkommen, und mit einer weißen Französin in Kontakt zu treten. Sie verabreden für den nächsten Morgen eine Fahrt ans Meer, und tatsächlich kommt sie auch: Miriam Gervase. Sie ist es dann, die auf einem Doppelbett im Hotel besteht. Die Zeit am Meer erweist sich als unerwartet glücklich, gegen die Zweifel von Turner. Die intime Begegnung bricht Van Peebles mit Bewusstseinbildern auf, Klischees, wechselseitige Projektionen, höfischer Prunk, afrikanischer Busch. Das verlegene Lachen von Turner durchzieht den Film. Am Strand wird Turner von drei weißen Soldaten entdeckt, er weiß sofort, das wird ihn die Beförderung kosten (er hat sich zu weit von der Basis entfernt). Er verbringt noch einen wunderbaren Abend mit Miriam, sie fahren auf einem Heuwagen mit, genießen Käse und Wein, und einen kostbaren Moment in der Dunkelheit am offenen Fenster. Am nächsten Tag ist Turner wieder im Camp, und fasst Straftage in der Baracke aus. Das Ende des Films ist seltsam: Ein Frauenchor, die Harlem Royal Crusading Angels taucht auf, die Chefin erwirkt für Turner einen Strafnachlass, er ruft Miriam an, erreicht sie nicht, und fügt sich in sein Unglück. Er wirft sich rücklings wieder auf die Pritsche, mitten in der Bewegung dieses Falls endet der Film mit einem Freeze Frame. Van Peebles arbeitet stark mit filmischer Rhetorik (Point of View, elaborierte Tonmontage, visualisierte Bewusstseinsfetzen). Turner trägt den Rassismus in der US-Army in sich, als persönlichen Defätismus. (Datei)
Songs my Brothers Taught Me Chloe Zhao 2015
Johnny Winters und die elfjährige Jashawn sind die jüngsten Geschwister einer Familie von Lakota in der Pine Ridge Reservation in South Dakota. Zu Beginn spricht Johnny über die Zähmung von Pferden (ein wenig „bad“ soll bleiben, damit sie Widerstandskraft behalten). Über ihren Vater, der bei einem Brand stirbt, heißt es, er hätte 25 Kindern von neun „so-called wives“ gehabt. Alkohol, das große Problem in der Community, spielte wohl auch bei diesem Tod eine Rolle, Carl wachte nicht auf, als es zu brennen begann. Johnny dealt heimlich mit Spirituosen, er hintertreibt also den struggle for sobriety. Er rechtfertigt das vielleicht vor sich, weil er ohnehin nicht mehr lange da sein möchte. Mit seiner Freundin Aurelia will er nach LA. Er weiß, dass er Jashawn damit tief treffen würde. Sie hofft auf ein Powwow-Kleid, und zieht ein wenig mit Travis herum, der bestickte Sachen verkauft und Tats sticht, dann aber auch wieder zu trinken beginnt. Chloe Zhao zeigt in einer lyrischen Form das Leben der indigenen Amerikaner, ihre Begeisterung für Rodeo, ihre Depression, sehr implizit (oder, wenn man will, sehr deutlich) ihre Spiritualität. Die Darsteller sind großartig, die Erzählung auf ein Minimum reduziert. Die siebente Generation nach Wounded Knee soll laut Crazy Horse neue Hoffnung bringen. Das wäre Jashawn. Und Johnny. (MUBI)
Squid Game Hwang Dong-hyuk 2021
Die ersten paar Folgen erschienen mir eher wie eine routinierte Dystopie, und waren mir auch zu hysterisch und brutal; spannend wurde es mit dem Spiel in der sechsten Folge, zu dem sich Paare bilden sollten, die sich dann antagonistisch auflösten; und dann mit dem geradezu paradigmatisch konzipierten Spiel in der siebenten Folge: da spielten die Faktoren Zeit, Information, Gruppe, Entwederoder so großartig zusammen, dass man darüber Abhandlungen schreiben könnte. In jedem Fall geht es ja um Leben und Tod, am Ende winkt für die durchwegs hoch verschuldeten Leute eine extrem hohe Summe Geld, die während der Spiele die ganze Zeit in einem golden leuchtenden Ball über ihnen hängt. Dass das ganze für Englisch sprechende, ostentativ dekadente VIPs in Tiermasken mit viel Bling und Damien Hirst-Anspielung stattfindet, ist eher wieder Teil eines trivialen Szenarios. Konsequent das Finale: das moderne Gladiatorenspiel erweist sich als Spiel, das niemand gewinnen will. Ziemlich deutlich ist den neun Folgen eine Geschichte des modernen Süd-Korea als Verfallsszenario eingeschrieben: die Kindheit gemeinsamen (allerdings auch damals schon brutalen) Spielens ist einer übermächtigen allseitigen Verschuldung angesichts kalter Büroturmarchitekturen gewichen, aus denen sinnlos Reiche auf die Gescheiterten auf der Straße hinunterschauen und sich fragen, ob es in der Gesellschaft noch einen Funken Moral gibt. (Netflix)
Crai nou (Blue Moon) Alina Grigore 2021
Irina lebt in einer Großfamilie irgendwo in den Bergen. Alle arbeiten im Betrieb mit, einem Hotel mit tollem Ausblick. Irina möchte weg, wie auch ihre Schwester Viki. Zu Beginn taucht der Vater kurz auf, er hat sich nach London abgesetzt und ist dort anscheinend erfolgreich. Er möchte Iri zu sich holen, sie aber will nach Bukarest, in erster Linie aber soll sie bleiben, denn sie ist gut mit Zahlen, und macht eine Art Buchhaltung, mit Kugelschreiber und Zettel. In der nächsten Stadt kennt sie Leute, nach einer Party wacht sie mit Blut im Intimbereich auf. Hat der Schauspieler Tudor sie vergewaltigt, während sie betrunken schlief? Alina Grigore filmt die oft impulsiven Momente in dieser Familie mit einer beweglichen Kamera. Im Mittelpunkt eine junge Frau, die von Tudor wissen will: findest du mich hässlich? Ihr Cousin Liviu, ein junger Mann mit Leseschwäche und Minderwertigkeitskomplex, wird von ihr hintergangen, sie schafft Geld beiseite für die Flucht. In einer Mondnacht kommt alles zusammen: Erinnerung an ein prägendes Ereignis früher einmal „am Teich“, Aufbruch und Gewalt. (Viennale)
Marx puo aspettare Marco Bellocchio 2021
Die Bellocchios sind eine Großfamilie, fünf Kinder einer angstreligiösen Mutter und eines früh verstorbenen Vaters sind noch am Leben: Marco, der Filmemacher, Giorgio, der Intellektuelle, Alberto, der jugendlichste, dazu die Schwestern Maria und Letizia, von denen Letztere, taubstumm geboren, ein schwer verständliches eigenes Idiom krächzt. Es geht um Camillo, den sensiblen Bruder, der sich 1968 das Leben genommen hat. Bellocchio beginnt seine Rekonstruktion mit einem Familientreffen in Piacenza 2016, der Stadt der Herkunft. Die Versäumnisse rund um den Tod von Camillo haben auch viel mit der Radikalisierung der 60er Jahre zu tun: Marco Bellocchio erzählt davon, wie er sich damals, als Künstler aus der Bourgeoisie, „annulliert“ hat zugunsten eines neuen Klassenstandpunkts. In diesem Zusammenhang fiel der Satz von Camillo: Marx kann warten. Er verfolgt Marco seither, tauchte auch schon einmal in einem seiner Spielfilme auf. Sein Werk durchzieht auch Marx puo aspettare, es wird hier als stark autobiographisch erkennbar, war es aber ohnehin schon. Die Geschwister erzählen ihre Versionen von Camillos Tod, Marco erzählt seine auch seinen Kindern, Experten (ein Dichter, ein Psychoanalytiker, ein Jesuit) werden konsultiert. Verdammend ist der Satz der Schwester von Camillos damaliger Freudin: „niemand hat sie beim Begräbnis gegrüßt“, vor allem aber, niemand hat sich bei ihr hinterher nach dem Gestorbenen erkundigt. Fünf der Bellocchios leben noch, sind inzwischen alt, die Männer wirken alle noch hochproduktiv. Auch darum geht es in diesem Familienfilm: „sopravivere nel deserto“, Überleben in der Wüste einer Familie im Zeichen von Höllenangst und Fortschrittsdogmatik. (Viennale)
Johanna d’Arc of Mongolia Ulrike Ottinger 1989
Eine Reiseutopie trifft auf eine interkulturelle Utopie. Die erste Hälfte spielt in einer Studio-Transsib, eine Gruppe von Frauen ist auf dem Weg nach Osten, dazu ein Gastauftritt von Peter Kern, der eine tolle Gesangsnummer hat. Der jüdische Entertainer Micky Katz, den er spielt, nimmt später die Route nach Wladiwostok, während es die Ethnologin Lady Windermere (Delphine Seyrig), die Baedeker-hörige Deutsche Frau Müller-Vohwinkel (großartig: Irm Hermann), die Sängerin Fanny Ziegfeld (Gillian Scalici) und die junge Abenteurerin Giovanna (Inès Sastre) ins Mongolische zieht. Der Zug wird von lokalem Volk angehalten, die Expedition wird quasi gefangen genommen, Frau Müller-Vohwinkel findet das „romantisch“, hat aber ein wenig Angst. Es entwickelt sich ein „überwältigendes Steppen-Ereignis“, man könnte sagen: die Sommer-Festspiele der farbenfroh gekleideten Bevölkerung der chinesischen Mongolei. Die lokale Prinzessin ist wohl die Johanna d’Arc aus dem Titel. Es werden Tiere geschlachtet, Schamanenreisen unternommen, einmal öffnet sich die Erde, das ist der Moment, in dem Frau Müller-Vohwinkel die Seite wechselt. Giovanna, die allseitig begehrt wird, fällt an die Prinzessin. Lady Windermere ist zugleich Moderatorin und Beobachterin, sie erkennt einen Streit von „Doktrinen“, weiß also sogar um Schulen in den (teils buddhistischen) Weltverhältnissen, die sich hier zeigen. Vom Ende her bekommt Ottingers Inzensierung eines indigenen Ritualkosmos eine konzeptuelle Pointe: Exotisierung gab es von Beginn an beidseitig, das Rokoko wollte chinesisch sein, der chinesische Hof zur gleichen Zeit französisch. Die Prinzessin lässt in einer wichtigen Wendung erkennen, dass auch für sie das Mongolische ein Spiel mit der Authentizität ist, sie sucht wie viele aus ihrem Volk im Sommer die Jurten auf, um sich eines kulturellen Bezugs zu vergewissern, den sie nach Paris mitnimmt, in die Welthauptstadt des Hybriden. Chef d'oeuvre. (Doclisboa)
Fantômes du passé (comment l’histoire est entrée en moi) Boris Lehman 2020
Einer der großen Allesfilmer des Kinos tut sich mit einer ehemaligen Stripperin zusammen, um so etwas wie einen Abschiedsfilm zu machen. Sie näht zwar sein Herz, dessentwegen er 2018 auf die Intensivstation musste, symbolisch noch einmal zusammen, es bleibt aber ein Riss (eine fissure/blessure). Sarah Moon Howe legt ihm die Karten, ob es in seinem Leben noch einmal eine Liebe geben wird, kann sie nicht sagen. Sie zieht ihm die Bilder seines Lebens, einen Zelluloidstreifen, buchstäblich aus dem Mund, und setzt ihm (der Film versteht sich als drole d’aventure) Masken auf, die er später ins Meer wirft. Die Bilder der Weltgeschichte rasen vorbei, die fantomes de ma vie bekommen mehr Zeit, viele sind schon tot. Lehman ist um sein Atelier besorgt, für das er keinen einwandfreien Mietvertrag hat. In der Wand zeigt sich auch ein Riss. Die letzte Karte, die er aufgedeckt bekommt, ist der Fuchs (renard, der Odysseus unter den Tieren). Papa Renard. (Doclisboa)
Ya ne vernus (I Won’t Come Back) Ilmar Raag 2014
Anya, die wir zu Beginn bei der Verabschiedung aus einem Waisenhaus sehen, arbeitet einige Jahre später, sie ist nun schon fast erwachsen, als Assistentin eines Literaturprofessors. Sie hat auch ein Verhältnis mit ihm. Eines Tages taucht ein Bekannter aus dem Waisenhaus auf, und nötigt sie, etwas für ihn in Verwahrung zu nehmen. Die Polizei findet Drogen bei Anya, damit ist ihr Versuch, sich ein Leben zu schaffen, akut gefährdet. In ihrer Panik weiß sie keine andere Möglichkeit, als sich mit einer falschen Altersangabe wieder in ein Waisenhaus zu flüchten. Dort ist die Situation aber auch unhaltbar. Die jüngere Cristina kennt einen Weg aus der Institution, und hat auch einen Bezugspunkt draußen: eine Adresse in Kasachstan. Nach einigem Hin und Her machen Anya und Cristina sich auf den Weg. Ya ne vernus folgt in jeder Hinsicht geläufigen Formeln des Arthousekinos (das unwahrscheinliche Paar, das utopische Ziel, eine Dramaturgie von Weiterkommen und Widerständen), ich fand aber nahezu jede der vielen kleine Ideen und Details überzeugend: zum Beispiel die Götterspende, mit der Cristina, die einiges Mythologisches bzw. Märchenhaftes aus ihrem schweren Leben mitbekommen hat, die Reise unter ein gutes Zeichen setzen möchte (eine Libation mit Cola). Das Drehbuch ist subtil, scheut aber vor harten Momenten nicht zurück, die beiden Darstellerinnen sind phänomenal. Eine Überraschung. (MUBI)
Nous disons révolution Nicolas Klotz & Elisabeth Perceval 2021
Ein Essayfilm von einem Paar aus Paris: Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval haben von diversen Aufenthalten in Brazzaville, in Barcelona oder in Sao Paolo Material mitgebracht, das sie zu einer phasenweise extrem spannenden Collage über eine neue Konzeption von Revolution verarbeitet haben. Tanz in verschiedenen Formen spielt eine wichtige Rolle, oder generell körperlicher Ausdruck, verstärkt durch eine komplexe, begeisternde Tonspur. Die Ideen von Paul B. Preciado sind eine der Inspirationen, die radikale Veränderung der Verhältnisse wird von einer Abkehr von geläufigen (cartesianischen etc) Subjektpositione her gedacht. Der Titel entstammt einer der Antithesen, die am Ende programmatisch formuliert werden, zum Beispiel: ils disent pouvoir, nous disons puissance. Also auch: Wir sagen Revolution. Im dritten Teil gibt es eine etwa zwanzigminütige Sequenz, die auf einem afrobrasilianischen Fest gedreht wurde, bei dem die Befreiung aus der Versklavung gefeiert wird: der Umzug zu ekstatischer Musik, die Kamera mitten im Gewoge, und das alles noch mit zahlreichen klugen Akzentuierungen in der digitalen Nachbearbeitung, zählt zu den größten Momenten, die ich im Kino überhaupt erlebt habe. Ich komme auf diesen Film sicher ausführlicher zurück. (Doclisboa)
Winter Vadim Kostrow 2021
Im Juni habe ich in Sheffield (wo ich online akkreditiert war) den Dokumentarfilm Leto (Summer) von Vadim Kostrow gesehen. Eine der Entdeckungen des Jahres. Nun stand der junge Mann persönlich im Cinema Ideal in Lissabon und präsentierte den nächsten Teil seiner Jahreszeiten: Winter in Nischni Tagil, der östlichsten Stadt Europas, wie der Regisseur in der Anmoderation zuspitzte. Eine postsowjetische Industriestadt am Ural. Der Winter ist hier nicht still, sondern durchhallt von einem merkwürdigen Dröhnen, als hätte der Luftdruck einen Sound. Kostrow zeigt zwei junge Männer (wohl auch so etwas wie jüngere Selbste) in alltäglichen Situationen: Computerspielen in einem dunklen Zimmer, Sprayen auf einsamen Mauern, die der Schnee freistehen ließ, stille Präsenz zwischen aufgekratzten Menschen, die sich in der Winterlandschaft beim Schlittenfahren vergnügen. Das Weiß des Schnees geht in das Grau der Jahreszeit über. Die digitalen Bilder werden von Kostrow bis in das hinterste Pixel eines Zooms strapaziert, mit dem er eine Kerze im Fenster vergrößert, bis ihr Bild abstrakt wird. (Doclisboa)
Idyll Tatiana Lushnikova 2021
Zu Beginn ist der Protagonist Valera in einem Propagandavideo aus dem Jahr 2016 zu sehen, ein prorussischer Söldner auf dem Gebiet der selbst erklärten Volksrepubliken auf dem Territorium der östlichen Ukraine. Nun, einige Jahre später, lebt er in Kozelsk in Russland, ohne Papiere und in provisorischen Verhältnissen. Er spricht über seine Erlebnisse im Krieg, über den Verlust des Angstgefühls, über seine sexuelle Erregung beim Töten. Die Schlachtung eines Kaninchens ruft Erinnerungen hervor an einen Mann aus Odessa, der sich damals auch auf die Seite der Separatisten schlug, der aber den Krieg nicht ertrug und sich mit einer Handgranate das Leben nahm (es heißt auch, er hätte davor von einer Krebserkrankung seiner schwangeren, jungen Frau erfahren). „I’m nuts“, sagt Valera einmal, er spricht entweder direkt in die Kamera, oder mit Menschen, mit denen der das Leben in Kozelsk teilt. Religion ist allgegenwärtig, Ikonenlegenden werden erzählt, die eigene Moral wird dazu in ein pragmatisches Verhältnis gesetzt. Valera überlegt, einen Kirchenraub zu begehen, um sich Geld für falsche Dokumente zu beschaffen. Der Film endet nachts im Schein von Straßenlaternen, für deren Licht die Gemeinde kein Geld mehr hat, das nun also von den Leuten bezahlt werden soll. Pasha, 36, schwerer Alkoholiker, wird von der Rettung abgeholt, seine Frau hofft, dass er nicht zurückgebracht wird. Tatiana Lushnikova zeigt die Verhältnisse, um die der Krieg in der Ukraine geführt wurde: Anschluss an ein desolates Land. (Doscliboa)
O Bom Cinema Eugenio Puppo 2021
Für einen kurzen historischen Moment rund um 1968 tauchte in Brasilien ein cinema post novo auf, man sprach auch von einem Cinema Marginal. Es verstand sich als Reaktion auf das international bereits bestens etablierte Cinema Novo, vor allem auf Glauber Rochas Revolutionskino. Carlos Reichenbach und Rogerio Sganzerla treten hier als Zeitzeugen auf, die Filmausschnitte dienen, teilweise durchaus verwirrend, als Erzählung, die in verschiedenste Richtungen weist: Überwindung des revolutionären Dogmatismus, Spiel mit den Formen (zum Beispiel chanchada, de facto Sexfilme, die psychoanalytisch aufgeladen werden sollten). Es fallen viele Namen und Filmtitel, eine präzisere Einordnung auch der Abgrenzung vom Cinema nicht post novo fällt schwer bzw. ist nicht Vorhaben des Films. 1958 hielt Papst Pius XII eine Rede über den guten Film, daraus entstand in Brasilien (in Minas Gerais) eine Bewegung für Filmbildung (wichtigster Protagonist: Edeimar Massote), die sich wiederum auf die Filmschule Sao Luis in Sao Paulo auswirkte. Zu all dem wäre es spannend, mehr zu erfahren. O Bom Cinema kann eher als Anregung dienen. 1970 schließt sich die Öffnung bereits wieder, das Cinema Novo geht einen Pakt mit der Diktatur ein und gründet das Studio Embrafilme, das ein brasilianisches Kino der Qualität machen wird. Reichenbach und Sganzerla halten sich fern. Audacia und Orgia heißen die beiden Filme, mit denen das Aufleuchten des guten Kinos auch schon wieder endet. 1970. (Doclisboa)
Retour a Reims (Fragments) Jean-Francois Periot 2021
Periot erzählt das Buch von Didier Eribon mit Bildern nach, die er der französischen Film- und Fernsehgeschichte der Ära entnimmt. Spielfilmszenen tauchen dabei ebenso auf wie Material aus dem Fernsehen, das damals durchaus anspruchsvoll versuchte, alltägliche Erfahrungen von Menschen aus der Republik zu erschließen. Das Material ist durchwegs sehr spannend. Eribons Überlegungen zu sexueller (schwuler) Identität spielen keine Rolle, Periot greift eben tatsächlich nur Fragmente auf. Nicht ganz folgen konnte ich ihm gegen Ende, als er aus dem Aufstieg der Rechten in Frankreich eine für meine Begriffe untaugliche Konsequenz zieht: er setzt seine Hoffnung auf eine Rückkehr zu einem kollektiven Parteisubjekt, wie es die Kommunistische Partei in Frankreich einmal angeboten hat. (Viennale)
Self-Portrait Fairytale at 47km Mengqui Zhang 2021
Seit 2011 filmt Mengqi Zhang in einem Dorf, dessen Name nur aus der Abstandsangabe zu der nächstgelegenen größeren Stadt besteht: 47 Kilometer bis Suizhou (in Hubei, die nächste Metropole wäre dann schon Wuhan). Ein paar Kinder leben hier bei den Großeltern, die Eltern sind zum Arbeiten in Guangzhou. Ich habe also den neuesten zuletzt gesehen, ohne die neun Filme zu kennen, die davor schon an diesem Ort entstanden sind. Mengqi Zhang (im Film wird sie immer Ding Qiqi genannt) baut in dem Dorf ein Haus, ein offenes Haus, wie sie sich vorstellt, in dem die Kinder lernen können, vielleicht sogar so etwas wie ein lokales Kulturzentrum. Während das Gebäude (das erste aus Zement in der Gegend) allmählich wächst, erleben wir den Alltag der Kinder, die nebenbei auch das Filmemachen lernen (es gibt so etwas wie eine Hierarchie der digitalen Kameras, die kleinsten gehören den Kleinsten). Im Abspann liest man, dass Self-Portrait Fairytale at 47km in ein Folk Memory Project gehört, das an der Duke University bzw. am MIT zu Hause ist. Dieses sammelt Berichte von Überlebenden des Great Leap Famine in China in den Jahren 1959 bis 1961, in diesem Zusammenhang ist Mengqi Zhangs Projekt wohl eher so etwas wie eine persönliche Randnotiz, die allerdings auch gleich einen ganzen Kosmos eröffnet. Spannend. (Doclisboa)
A.I. In War Florent Marcie 2021
Mit einer sprechenden Puppe reist Florent Marcie zuerst in den Irak (Mossul), dann nach Syrien (Raqqa), und schließlich kehrt er mit ihr nach Paris zurück, wo gerade die Gelbwesten für Unruhe sorgen. Die Puppe ist ein Service-Bot, eine lernende Maschine namens Zota, hergestellt und programmiert in Malaysia, wo Marcie auch kurz Station macht, und wo es eine kleine heutige Weltgesellschaft zu sehen gibt mit Codern aus vielen verschiedenen Ländern. An und zu sehen wir die Welt mit den Augen von Zota, dann wird in einem Abgleichungsritual entschlüsselt, was denn zu sehen sein könnte: 96,6 Prozent sieht für den Bot etwas nach einen Museum aus, was eigentlich ein Krankenhaus. Zota spricht mit der Frauenstimme, die man von Autonavis kennt. Im Gespräch nach dem Film hat Marcie sich mit Sokrates verglichen, das passt zu seiner „naiven“ Rolle, die er in den zerstörten Städten einnimmt, zwischen den Menschen, die vom Krieg gegen Daesh getroffen wurden, und in deren Gegenwart er Zota Fragen nach den menschlichen Erfahrungen stellt: Leid und Tod. Die Proteste der Gelbwesten zeigt Marcie dann wie eine heutige Version der Stürme von 1789, er lässt sie also für meine Begriffe an dem Pathos der Legitimität der Französischen Revolution teilhaben, wenn auch gebrochen, denn die Marseillaise kommt von Zota, und das Stichwort Revolution von den Protestierenden selbst. Marcie beendet seine Reise mit einem mythologischen Bild: Ein Ton-Double (der aus Lehm gemachte künstliche Mensch?) wird in Syrien begraben. Zota hat also mit der Gattung, die es ergänzen oder ablösen soll, zumindest hier die Endlichkeit gemeinsam. Youtube-Bilder des Transhumanisten Laurent Alexandre ordnen die Gelbwesten in eine Auseinandersetzung ein, die den wenigsten von ihnen bewusst sein wird: technische Innovation schafft eine disponible Klasse, die sich allerdings auf den Champs Elysees zurückmeldet. (Viennale Retrospektive)
Cenzorka (107 Mothers) Peter Kerekes 2021
Zu Beginn werden einige schwangere Frauen vermessen, dann kommt ein Kind zur Welt, die Mutter kehrt damit in die Institution zurück, um die es dann im wesentlichen geht: ein Frauengefängnis in Odessa. Dessen Innenleben wird mehr oder weniger dokumentarisch erschlossen, die Leiterin führt immer wieder Gespräche mit Frauen, die wie Anamnesen wirken. Die meisten sitzen wegen Delikten, die man als Anti-Femizide bezeichnen könnte, sie haben ihre Männer oder deren Geliebte getötet, aus Eifersucht oder um sich zur Wehr zu setzen. Sechs Mütter sind gerade in der Stillphase, sie werden nach Protokoll mit den Kinder zusammengebracht, dann wieder getrennt. Der Alltag im Gefängnis gibt Gelegenheit, die Frauen ein wenig näher kennenzulernen, es entsteht der Eindruck eines Dokumentarfilms, der dann aber eine sehr schöne narrative Wendung nimmt. Denn das zentrale Problem, wie lange die Kinder in der Anstalt bei ihren Müttern bleiben dürfen, wird schließlich zu einem Plot Point. Am Ende bekommen wir sogar die Eisenstein-Treppe in Odessa zu sehen, in einer schönen Paraphrase. Ein unerwarteter Lieblingsfilm. (Viennale)
Compartment Nr. 6 Juho Kuosmanen 2021
Die Kanozero-Petroglyphen in der Gegend von Murmansk im hohen russischen Norden sind für Archäologen eine aufregende Sache. Im Winter sollte man sie aber vielleicht nicht besuchen wollen. Eine junge Finnin namens Laura hat bezüglich der Jahreszeit keine besondere Überlegung angestellt, sie fährt einfach mit dem Zug nach Murmansk. Eigentlich hätte ihre Freundin mit dabei sein sollen, aber da scheint gerade eine große Liebe zu zerbrechen, darauf deuten jedenfalls die Telefongespräche von unterwegs hin. Im Abteil Nummer 6 trifft Laura auf Ljocha, einen ungehobelten jungen Russen, der säuft und raucht und einen Slang spricht, der noch in den Untertiteln viel von einer Poesie maximaler Unverfeinerung erkennen lässt. Also eine klassisch-schematische Dramaturgie: zwei gegensätzliche Figuren aneinander gekettet und mit exotischem Ziel. Wie die beiden Figuren dann aber durch den russischen Dreck stapfen, halbe Mondgestalten mit ihrer Winterkleidung, wie Laura sich allmählich auf Ljocha einlässt (es geht nicht um Liebe, sondern um etwas Zärtlicheres, Momentaneres), das hat schon was. Und die Petroglyphen haben für eine kleine Utopie immer geöffnet. (Viennale)
Re Granchio Alessio Rigo de Righi, Matteo Zoppis 2021
Die Bahia Aguirre im südlichen Argentinien hat mit Lope de Aguirre aus dem Film von Werner Herzog nichts zu tun, außer dass Filmmenschen sofort daran denken. In Re Granchio ist die Bahia Aguirre entweder das Ende (italienisch fine) oder der Arsch der Welt (spanisch culo del mundo). Ein Mann namens Luciano gerät an diesen Ort, nachdem er zuvor in Italien in einer antifeudalen Rebellion ein Schloss angezündet hat. Lucianos Geschichte wird von einem Mann gesungen, der in einer Jagdhütte inmitten verwitterter Gestalten sitzt, es handelt sich also um eine Volkslegende, die der Film ausspinnt wie ein verschlungenes Garn. Luciano (gespielt von dem Künstler Gabriele Silli) beginnt eine Liebesbeziehung mit der Fürstentochter Emma, deren Vater ihn aber nicht ernst nimmt, sondern ihn mit dem bezeichnenden Wort fantasma belegt. Das Fantasma legt Feuer, mit einer bitteren Pointe, die sich erst viel später in der Bahia Aguirre enthüllt. Dort ist Luciano im zweiten Teil des Films als Schatzsucher unterwegs, auf den Spuren einer (wohl fiktiven) indigenen Sage von einem Schatz in einem See in den Bergen. Ein Krebs soll den Weg dorthin führen, der wird allerdings in einem Schusswechsel (Duel in the Sun ohne Sonne und ohne Dolores del Rio) zerschossen. Die beiden Hälften der Geschichte fügen sich schließlich im besten Sinn fantasmatisch zusammen, lokales italienisches Erzählgut trifft auf borgesianische Konstruiertheit. Hat mir gefallen. (Viennale)
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