Filme und Folgen (38)
Notizen: September 2021
9/11: Inside the President’s War Room Adam Wishart US 2021
George W. Bush hat sich nach seiner Amtszeit rar gemacht. An dieser Doku aber hat er mitgewirkt, entsprechen stark ist sie auf ihn zugeschnitten, es geht darum, wie er den 11. September 2001 erlebt hat: hauptsächlich an Bord der Air Force One, die von Florida nach Lousiana und dann nach Nebraska flog, während er selbst dringend nach Washington zurück wollte, wovon ihm aber die Sicherheitsleute abrieten. Man erfährt einiges Interessantes über die Panik, die nach den beiden Flugzeugen ins World Trade Center herrschte. So hielten es einige sogar für möglich, dass ein Attentäter an Bord des Präsidentenflugzeugs war, um es mit einem „inside job“ zum Absturz zu bringen. Man sieht noch einmal den Kontext zu dem Moment, in dem Bush in Florida in einer Schule sitzt, als ihm jemand die Nachricht vom zweiten Flugzeug überbringt, wodurch klar wurde, dass es sich um einen massiven Anschlag handelte: der Gesichtsausdruck von Bush ist eine der berühmtesten Großaufnahmen der politischen Geschichte, eine Mischung aus Informationsverarbeitung und Reaktionsvermeidung, die man wohl nicht zu sehr auf seine insgesamt ja stark verbürgte Einfalt anrechnen sollte. Das Fernsehen war in den ersten Stunden die wesentliche Quelle, wobei (wieder so ein interessantes Detail) Air Force One auf flackernde Signale von den Bodenantennen in Städten angewiesen war, die man gerade überflog. Sehr interessant sind die zahlreichen Fotografien, das Amtshandeln eines Präsidenten wird anscheinend hochfrequent fotografisch begleitet, aus diesen Beständen konnte sich der Film umfänglich bedienen. Spannend die Darstellung zum Flug United 93, den Cheney und andere abschießen lassen wollten: „we had reasons to believe that we had taken down that aircraft“, das erwies sich dann als Irrtum. Am Ende des Tages kehrt Bush nach Washington zurück, und zwar bereits mit einer „Bush doctrine“, die ein wenig weitreichender war als sein erster Impuls („kick their ass“): Zu jagen sind nicht nur Terroristen, sondern auch die, die sie verstecken. Damit war Afghanistan als Kriegsgegner freigegeben. Und der Irak wurde dafür passend gemacht. (AppleTV)
The Guilty Antoine Fuqua USA 2021
Joh 8,32 steht als Motto voran: Die Wahrheit wird euch freimachen. Joe Baylor ist beim LAPD zum Telefondienst eingeteilt. Vor ihm ist eine perfekt eingerichtete datentechnische Armatur: er muss nur ein Datum (Name, Kennzeichen, Telefonnummer) haben, sofort erscheinen zahlreiche Informationen auf dem Display, und er ist mit allen Einsatzkräften im Großraum Los Angeles auf Knopfdruck verbunden. Draußen ist die Lage kritisch: Waldbrände verfinstern die Sicht auf alles. Im Verlauf einer Nacht bekommt er es mit einem Sorgerechtsstreit zu tun, der sich zu einem fernmündlichen Thriller auswächst; dass Joe selbst ebenfalls von seiner Tochter getrennt ist, hat auch damit zu tun, dass er – wie allmählich klar wird – am nächsten Morgen vor Gericht erscheinen muss, weil er sich in einem Tötungsfall verantworten muss. Seine verschiedenen Probleme werden geschickt verknüpft, nach einer Stunde gibt es eine schockierende Wendung, am Ende dann noch eine Wandlung, eine moralische Konsequenz. Jake Gyllenhall schultert den Film im wesentlichen allein, seine Tränen (am Ende zerreißt es ihn fast) fließen auch für die weiße, verhärtete Polizei, die sich aus ihrem Korpsgeist erlösen lassen muss: „broken people save broken people“. (Toronto International Film Festival TIFF online)
Lingui, les liens sacrès Mahamat-Saleh Haroun Frankreich/Tschad 2021
Amina ist eine alleinerziehende Mutter im Tschad. Sie gilt als „loose woman“, dabei wurde sie schmählich verlassen. Ihre Tochter Maria (Mamita) ist 15 und schwanger. Ein kurzer Besuch bei einer Poolparty deutet an, dass sie vielleicht jugendlich leichtsinnig war, das erweist sich dann aber als falsche Fährte. Ein Imam setzt die Frauen immer wieder unter Druck: Sie müssen in die Moschee gehen, dort bekommen sie Hilfe. Amina sucht Hilfe bei Brahim, einem älteren Nachbarn, der ihr schon lange den Hof macht. Sie bietet sich ihm gegen Geld an, das Geld ginge an einen Arzt in der Klinik, der dafür das Risiko eingehen würde, bei Maria eine Abtreibung vorzunehmen. Es findet sich dann aber ein anderer Weg. Das Wort lingui verweist auf eine Vorstellung von sozialem Zusammenhalt ("heilige Bande"), der hier vor allem als ein Bereich der Autonomie von Frauen deutlich wird: Selbst für das Problem der Beschneidungen (der Mann der Schwester von Amina besteht bei seiner Tochter darauf) findet sich eine elegante Lösung. An dem generellen Druck, der in dieser muslimischen Gesellschaft auf den Frauen lastet, lässt der Film aber keinen Zweifel. Das alltägliche Leben (Amina baut Drahtgestelle aus Altreifen) ist beschwerlich, aber auch schön. (TIFF online)
America Latina Damiano & Fabio d‘Innocenzo Italien 2021
Der Zahnarzt Massimo lebt mit Frau und zwei Töchtern in einem architektonisch auffälligen Haus auf dem flachen Land. Es scheint also alles perfekt zu sein, umso merkwürdiger ist die Wendung, die der Film nimmt, als Massimo in den Keller geht. Dort ist nämlich ein gefesseltes Mädchen, das ihn ordentlich anheult, als er ihm kurz den Knebel aus dem Mund nimmt. Ratlos konsultiert Massimo das Internet, versucht herauszufinden, ob er vielleicht etwas getan hat, wovon sein Gedächtnis nichts (mehr) weiß oder wissen will. America Latina ist vor allem visuell stark: im Keller steigt allmählich das Wasser, die Frauen in Massimos Familie haben nasse Füße, zum Geburtstag bekommt er von ihnen einen Kuchen – und ein Fantombild. Auflösungen wären eine Enttäuschung, die Brüder Innocenzo gehen konsequent bis zu einem wahnhaften Ende. (TIFF online)
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