Filme und Folgen (36)
Notizen: Juli 2021
Land der Vernichtung Romuald Karmakar Deutschland 2004
2003 ist Romuald Karmakar mit einer DV-Kamera und manchmal mit einem Französisch und Polnisch sprechenden Dolmetscher im Osten von Polen unterwegs, um sich ein Bild von den Orten zu machen, an denen während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg die Operation Reinhardt stattfand: die systematische Ermordung polnischer Juden in den Lagern Majdanek, Treblinka, Belzec, Sobibor und oft auch einfach vor Ort, in Dörfern oder außerhalb. Er arbeitet damals an einem Spielfilmprojekt, in dem er die juristische Aufarbeitung der Verbrechen von Mitgliedern des Polizeibataillons 101 thematisieren möchte: Ganz normale Männer, so heißt das Buch des Historikers Christopher Browning darüber. Karmakar macht Videonotizen: er schreitet die Längsseite des Zauns von Majdanek ab, in Sichtweite der Stadt Lublin. Er lässt sich ein Gebäude zeigen, in dem sich Gaskammern befanden. Er versucht, mit Besuchern aus Israel ins Gespräch zu kommen. Mit einem 82 Jahre alten Polen spricht er über den Zaun, der Begleiter dolmetscht, man kommt aber nicht weit, jedenfalls nicht im Sinne belastbarer Zeugenschaft: die Erinnerungen sind vage und werden durch die Übersetzung noch unklarer.
Später trifft Karmakar auf einen Mann, der eine ganze Reihe von Namen für eine Tätergruppe nennt, die an einem bestimmten Ort aktiv war: Usbeken? Ungarn? Rumänen? Schlitzaugen? Karmakar besucht Gedenkorte, manchmal aber einfach unscheinbare Orte, an denen man von Massengräbern weiß. Auf einer Baustelle sieht man ein Denkmal, dahinter wird in großem Stil etwas errichtet, ein Bauarbeiter lüftet kurz seinen Helm – trägt er darunter eine Kippa? Das überraschende Detail wird nicht angesprochen, der Mann kann kaum Englisch, auf Polnisch will er nichts sagen. Parallelen zu Claude Lanzmann sind deutlich, die Unterschiede aber sind gravierender: Karmakar hat keine Überlebenden bei sich, er versucht, über eine unüberwindliche Sprachgrenze hinweg mit Menschen ins Gespräch zu kommen, an denen am ehesten der Grad ihres Halb- oder Geredewissens interessant wäre.
Einmal begegnet er einer Frau, die von den Deutschen gefoltert wurde, weil ihr Vater (als Förster) der Zusammenarbeit mit Partisanen verdächtigt wurde. Sie lebt heute an dem Ort, an dem sie früher gefangen war. Sie erzählt (der Dolmetscher übersetzt) von ihrem Schicksal, die Szene dauert zwölf, dreizehn Minuten, am Ende sagt sie, dass sie nicht gefilmt werden möchte, und dass die Bilder nicht verwendet werden sollen. In der 3sat-Fassung wurde diese Szene entfernt, das Zeughaus zeigte den vollständigen, 140 Minuten langen Film, inklusive dieser widersprüchlichen Passage, die Karmakar in ihrer Ambivalenz belässt: er zeigt den Einspruch, über den er sich hinwegsetzt. Die letzte Passage ist dann beinahe grotesk: bei einer polnischen Familie, die unmittelbar neben einem Ort der Vernichtung lebt, trifft er auf einen jungen Mann, der schlecht Englisch spricht, ihm seine Sammlung mit Occult Metal-Kassetten zeigt (dazu läuft auch die entsprechende Musik). Sie treten vor das Haus, blicken auf einen Turm, den Karmakar als „signal of death“ sehen will, der Junge wendet ein, es handle sich um einen Feuerwachturm vom Forstamt. Karmakar insistiert: „isn’t this also a monument of death“? (Zeughauskino)
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