Filme und Folgen (18)

Notizen: Januar 2020

Give Me Liberty (2019, Kirill Mikhanovsky)

Ein junger Mann namens Chris arbeitet als Chauffeur in Milwaukee. Seine Aufgabe ist es, Menschen mit Behinderungen zu transportieren. Der Film beginnt am frühen Morgen, und schon hier sollte Chris im Grunde zwei Sachen gleichzeitig machen: seinen Großvater in den Tag bringen, und einen Klienten abholen. Chris kommt aus einer russischen Community, an diesem Tag wird eine Frau aus Weißrussland begraben, und wie es sich ergibt, hat er irgendwann seinen Bus mit Klienten voll, und zugleich mit einer Trauergesellschaft. Und so geht es den ganzen Tag dahin, bis in den späten Abend hinein, ein Stressprotokoll mit Momenten, in denen sich alles in eine höhere Gelassenheit aufhebt, aber nur kurz. Mikhanovsky arbeitet  mit erzählerischen Mitteln aus dem Boulevard-Theater (Geld ist in einem Sofa versteckt, das dann ausgerechnet an den falschen Ort gebracht wird), er bewegt sich aber bei allem Druck und bei aller immer wieder gerade noch so die Kurve kriegenden Situationskomik sehr aufmerksam von einer Großfamilie zur nächsten (eine Klientin namens Tracy führt ihn in einen afroamerikanischen Hauhalt). Am Ende findet der Parcours eine doppelte „Aufhebung“: in einem Club-Moment in reinen Rhyhthmus und psychedelische Farben, und schließlich bei einem öffentlichen Protest, auch dort wieder in hohem Maß ambivalent und an der Schwelle zur Polizeigewalt. Give Me Liberty ist nicht zuletzt ein Film über unfügsame Körper, und über die Utopie von momenthaften Gemeinschaften aus langen Abstammungen heraus. (Unknown Pleasures, Arsenal, DCP)

La donna scimmia (1962, Marco Ferreri)

Ugo Tognazzi spielt einen „Lebenskünstler“ namens Antonio Focaccia, der sich von einer Fotoprojektion (Aufnahmen aus Afrika aus einem „missionarischen“ Kontext, de facto nackte werden Frauen präsentiert) davonstiehlt, um in der Nonnenküche vor allen anderen schon was zum Essen zu kriegen. Er trifft dort auf Maria, die „Affenfrau“: sie versucht, sich vor ihm zu verbergen, denn sie ist stark behaart. Antonio erkennt eine Chance, nimmt Maria mit, und zeigt sie gegen Geld her: auf einem Baum, den er für sie aufstellt. Die Sensation, ein Wesen im „stato selvaggio“ (also im „Naturzustand“) vor sich zu haben, ist die ganze Zeit stark sexuell bestimmt. Antonio bringt Maria zu einem Wissenschaftler, sie wird quasi objektiv die ganze Zeit als „il fenomeno“ bezeichnet, und während Antonio nur zu bereit wäre, sie „per la scienza“ zu prostituieren, möchte der Professor sie unbedingt ausziehen – wobei auch hier offen bleibt, was er genau sehen will: den behaarten Körper, oder hofft er doch auf Haut? Später wird die ambivalente Nacktheit noch einmal deutlicher in einen kolonialen Kontext gesetzt, in einer Varieté-Nummer in Frankreich, wohin Antonio mit Maria geht, weil er inzwischen mit ihr verheiratet ist, er kann sie dort besser „verwerten“, die anstößige Beziehung ist dort aber auch besser geschützt vor der katholischen Moral. LES NUS LES PLUS OSES DE MONDE verheißt der Laden, die gewagtesten Nackten der Welt. Maria tanzt hier in einem durchscheinenden Kostüm, das eindeutige Konturen erkennen lässt, Antonio macht den Mann im Tropenanzug, der auf das Fabelwesen stößt. Als ein Arzt ihre Schwangerschaft entdeckt, geht die Reihe der begrifflichen Zuschreibungen weiter: „c’est un monstre“, sie hingegen besteht darauf, keine „isterica“ zu sein, sondern eine „povera disgraziata“.

Ich habe das italienische Ende gesehen, es gibt auch ein „französisches“, das sich in beiden Versionen ankündigt: Maria verliert wegen der Schwangerschaft ihre Haare, sie könnte also hormonell erlöst werden. Das italienische Ende ist das konsequentere: Maria und das Kind sterben bei der Geburt (es gibt noch eine dritte Version, in der das Kind überlebt). Antonio, der zwischendurch gelernt hatte, sie zu lieben und als Frau zu sehen, wird auf seine ursprüngliche Intuition verwiesen. Er muss die tote Maria aus dem Museum befreien (wo sie im „reparto mammiferi“, also bei den Säugetieren, ressortiert), und ihm bleibt nichts anders übrig, als neuerlich als Schausteller mit ihr auf Tournee zu gehen. Nun ist sie eine Mumie. Die Blasmusik weist alles als Budenzauber und als Satire aus, man muss aber nur an die Blackface-Szene in Antonionis L’eclisse zwei Jahre davor denken, um einen Kontext dafür zu finden: die Afrikanisierung der unterdrückten Sexualität führt an die Schwelle zwischen Mensch und Tier. (Datei)

Beyond the Forest (1951, King Vidor)

Großartiger Beginn: Der Bahnhof, später die menschenleeren Straßen von Loyalton, Wisconsin. Eine Erzählerstimme macht klar, dass alle bei einem Gerichtstermin sind. Rosa Moline steht unter Anklage, einen Mann erschossen zu haben – oder war es ein Jagdunfall? Rückblende auf eine interessante soziale Situation, ein Kleinstadtpaar (Joseph Cotten ist der Arzt Louis Moline, Bette Davis spielt seine Frau Rosa) kommt in die Sphäre eines reichen Mannes aus Chicago, der mit dem Wasserflugzeug unterwegs ist. Für Rosa bietet sich eine Gelegenheit, die Beengung ihrer Welt zu überschreiten. Aber Neil Latimer kehrt zurück in die Stadt, Rosa aber bleibt in Loyalton, verhärtet in ihrem Trotz. Sie will unbedingt die kleine Welt der Provinz hinter sich lassen. Ihrem Mann gegenüber macht sie kein Hehl aus ihren Ambitionen, er lässt sich nicht aus der  biederen Ruhe bringen. Sie büxt tatsächlich nach Chicago aus, holt sich eine Abfuhr, kehrt zurück, empfängt in einem Moment der Schwäche von ihrem Mann ein Kind, und versucht alles, die Schwangerschaft zu beenden. Als Latimer unvermutet wieder auftaucht, sind alle gerade bei einem Square Dance in einem Gemeinschaftsgebäude, do macht King Vidor deutlich, wie die soziale Ordnung zugleich in Bewegung und traditionell bestimmt ist. Rosa Moline ist wohl selbst für die Verhältnisse von Bette Davis eine extreme Figur: so kategorisch nicht integrierbar, dass das vorgeschaltete Absicherungsinsert keinen anderen Begriff für sie findet als das Böse schlechthin („evil“). (Berlinale Pressevorführung, 35mm)

Daleká cesta (Der weite Weg, 1950, Alfréd Radok)

Ein früher tschechischer Versuch, die Erfahrungen der Shoa zu verarbeiten. Der Film beginnt mit einer Montagesequenz der wichtigsten Nazis, die alle mit kurzen Sequenzen aus ihren Reden vorgestellt werden: von Hitler bis Frank. Dann folgt ein wenig Alltag der bürgerlichen Familie Kaufmann, soweit man das in einer Atmosphäre sagen kann, in der das Wort „Transport“ plötzlich allgegenwärtig ist. Hana Kaufmannová arbeitet in einem Krankenhaus (diese Szenen nehmen mit ihrer hervorgehobenen Modernität, mit der klaren Architektur, den späteren Umschlag in chaotische Bildräume vorweg), sie ist mit einem Nichtjuden verheiratet. Bei einer bürgerlichen Abendgesellschaft wird alten Ritualen folgend eine Tasse zerschlagen, und die Glücksscherben werden verteilt. Bald bleiben aber Stühle leer. Familienmitglieder werden zuerst nach Theresienstadt, später nach Auschwitz deportiert. Radok erzählt von den Versuchen, innerhalb der Familie und mit Unterstützern Hilfe zu organisieren: der alte Vater braucht Haarfärbemittel, um bei der Selektion weniger alt zu erscheinen. In den Szenen in Theresienstadt, wo schließlich auch Hana hinkommt, inszeniert Radok beeindruckende Massenszenen, jedes Bild ist komponiert auf starke ästhetische Wirkung hin, überall sind ständig Gitterroste oder andere Gegenstände als Brüche im Bild, die Lagersituation hat etwas von einer vorweggenommenen Ruinenlandschaft. Auch die Tonspur ist sehr artifiziell, das durchwegs spannende Sounddesign gipfelt schließlich in einer Szene, in der ein Klavier (oder Reste dieses Requisits bürgerlicher Kultur) von einer Decke hängen, und eine Frau auf der Bespannung apokalyptisch den Horror in die Welt prügelt. Höhepunkt des ganzen Films ist eine Zugszene, in der sich das Motiv der Deportation (mit dem Zug nach Auschwitz) mit dem Motiv der Rückkehr verbindet, allerdings ist der Zug leer und muss gegen Typhus desinfiziert werden. Hana steht bei der Einfahrt an der Weiche. Daleká cesta hat Aspekte eines filmhistorischen Mittelpunkts des zweigeteilten 20. Jahrhunderts: tief in den 20er Jahren verwurzelt und vieles vorwegnehmend, was man mit einem Hilfsbegriff sehr verallgemeinernd als Ostblock-Ästhetik bezeichnen könnte. (Berlinale PV, DCP einer digitalen Restaurierung)

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