Die dritte Generation
Mein Kanon: "Evolution of a Filipino Family" (2004) von Lav Diaz
Raynaldo ist der Sohn zweier Frauen. Seine leibliche Mutter legt ihn in einem Moment der Verzweiflung weg. Als er wenig später von Hilda gefunden wird, ist sein ganzer Körper von Ameisen bedeckt. Bei den Gallardos findet Raynaldo eine Familie – eine Großmutter, eine Mutter, einen Onkel, Brüder und Schwestern. Die Geschichte dieser philippinischen Familie, die Lav Diaz in seinem fast elfstündigen Film Ebolusyon ng Isang Pamilyang Pilipino erzählt, hat von Beginn an eine natürliche und eine gesellschaftliche Dimension. Biologische und soziale Abstammung sind gleich wichtig. Den Begriff der Evolution nimmt Lav Diaz wörtlich, indem er zeigt, wie etwas aus etwas hervorgeht. Dieser Prozeß verliert in der Montage aber seine Linearität, denn Lav Diaz geht es gleichzeitig um eine Archäologie der philippinischen Existenz. Konstruktion und Rekonstruktion gehen ineinander über.
Die Gallardos, in denen sich die sozialen Strukturen der Verwandtschaft auf den Philippinen (Armut, Kollektivität, Ortlosigkeit) zeigen, sind seine „Familie“ gerade deswegen, weil sie in einer bürgerlichen Genealogie nicht aufgehen. Sie lesen Kinder auf, stehen füreinander ein, gruppieren sich ständig neu, überbrücken die Lücken in einer Generation. Die erzählte Zeit reicht von 1971 bis 1987. In der politischen Geschichte der Philippinen ist das Hauptereignis während dieser Ära das Ende der Diktatur von Ferdinand und Imelda Marcos, die Hoffnungen auf einen demokratischen Aufbruch unter Corazon Aquino und die Enttäuschung dieser Hoffnungen in der Niederschlagung der Bauernproteste. Die Gallardos erfahren von diesen politischen Ereignissen meistens mittelbar. Sie hören davon im Radio, ihrem Leitmedium, oder sie werden in die Kämpfe zwischen Rebellen und Militärs verwickelt.
Ricardo (genannt „Kadyo“), eine der Hauptfiguren, wird bei einem Übergriff der Marcos-Schergen am Knie verletzt. Er schleppt danach sein rechtes Bein nach. Sein behindertes Gehen ist eine der stärksten Konkretionen in Ebolusyon. Die politischen Umstände entsprechen im Leben der Gallardos einer bestimmten Erwerbslage. Das Marcos-Regime erscheint als der Zyklus des Goldes, also einer primitiv ausdifferenzierten Wirtschaft, in der sowohl die Armen (durch Schürfen) als auch die Machthaber (durch Horten) eine Form der ursprünglichen Akkumulation betreiben. Fernando Santelmo, der Ehemann von Ricardos Schwester, „schnüffelt“ im Dschungel nach Gold. Er treibt auf eigene Faust tiefe Stollen in einen Berg, auf den sein Konkurrent Dakila Lacsamana Anspruch erhebt. Auf seinen Erkundungsgängen wird Fernando von drei Söhnen begleitet, die er adoptiert hat, aber selbstverständlich wie die eigenen Kinder behandelt: der taubstumme Bendo, Carlos und Ray. Sie sind die Außenposten der Gallardos, sie sind auch besonders weit entfernt vom Zentrum der staatlichen Gewalt in Manila. Die Familie lebt in dieser ersten Phase in einer Hütte im Wald, mit Hühnern und Schweinen und dem obligaten carabao, dem Büffel. Nach dem Zyklus des Goldes schlagen sie sich eine Zeit lang als Holzsammler durch, bis Marcos dieses Geschäft für illegal erklärt.
Die weibliche Linie nimmt ihren Ausgang von der Großmutter Purificacion („Puring“), und verläuft über die früh verstorbene Mutter zu Juliana („Huling“), Ana und Martina. Die Frauen leben, nachdem die Familie in zwei zentralen, traumatischen (in der Montage aber dezentralen) Ereignissen auseinandergebrochen ist, in einem Barrio, einer dörflichen Gemeinschaft, die ein Minimum an Schutz bietet, die Gallardos aber auch einer sozialen Kontrolle unterwirft. (Die Drehorte sind Benguet, Tarlac, Marikina.) Diese entscheidenden Ereignisse finden ungefähr 1980 statt. Raynaldo, der schon als Junge Zeuge der Vergewaltigung seiner Mutter wurde und die drei Täter erschossen hat, richtet im Minenarbeitercamp von Dakila Lacsama ein Blutbad an, nachdem offensichlich Carlos vorher den Rivalen zum Opfer gefallen war. Später, als die verbliebene Familie bereits im Barrio lebt, wird Kadyo als „Dieb“ verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Er kommt viele Jahre später frei und macht sich in Quezon City auf die Suche nach Raynaldo, der – als der Jüngste der Familie, als der adoptierte und verlorene Sohn – eine besondere Rolle spielt.
Dieser dritte Teil, dem als wirtschaftliche Existenzform der urbane Klein- und Straßenhandel entspricht, fällt historisch zusammen mit den Bauernprotesten gegen die Regierung von Corazon Aquino. Sie war an die Macht gekommen, nachdem ihr Ehemann, der populäre Oppositionelle „Ninoy“ Aquino, am 21. August 1983 bei seiner Rückkehr aus dem Exil in den USA noch auf dem Flughafen von Manila einem Attentat zum Opfer gefallen war. Lav Diaz widmet diesem Wendepunkt in der philippinischen Geschichte, der das Ende des Marcos-Regimes einläutete, mehrere lange Sequenzen mit Archivmaterial. Ebenso verwendet er Aufnahmen von der Niederschlagung der Bauernproteste im Zusammenhang mit Kadyos Suche in Quezon City.
Die fiktiven Figuren bleiben aber am Rande der öffentlichen Ereignisse. Sie sind nicht selbst Subjekte der Veränderung, sondern werden von ihnen betroffen. In einer der letzten Einstellungen von Ebolusyon schleppt sich der durch einen Messerstich in der Menge tödlich verwundete Kadyo schier endlos durch die Straßen von Quezon City, bevor er vor einer leeren Halle im Niemandsland der Stadt zusammenbricht. Die Familie findet nicht mehr zusammen, sie wird aber auch nicht in alle Winde zerstreut. Wie sie neue Mitglieder aufnimmt, verliert sie auch immer wieder Angehörige an den Tod.
Für die außergewöhnliche Erzählzeit von Ebolusyon legt der Film mehrere Begründungen nahe. Der Begriff Evolution deutet an, daß Lav Diaz mehrere Zeitformen miteinander vermitteln möchte. Die ungefähr zehn Minuten lange Einstellung, die er mit dem 16mm-Material, das er verwendet, drehen kann, ist die Grundeinheit seiner Syntax. Andere Passagen sind auf Digital Video gedreht. Der lange Entstehungszeitraum von Ebolusyon geht in die Montage ein und läßt die Produktion selbst evolutionär werden. Sie reicht bis in die frühen neunziger Jahre zurück. Damals arbeitete Lav Diaz als Journalist in New Jersey, und die Geschichte sollte sowohl im philippinischen Exil als auch in der Heimat spielen. Von den ersten Dreharbeiten in den USA ging nichts in Ebolusyon ein.
Wohl aber drehte Lav Diaz später in New Jersey den fünfstündigen Batang Westside, eine geduldige, selbstreflexive Recherche über die Bedingungen der philippinischen Diaspora. Ein Kriminalpolizist versucht, einen Todesfall aufzuklären, und legt im Zuge seiner Ermittlungen ein ganzes Netz von Abhängigkeiten und Ausbeutungen frei. In Ebolusyon geht Lav Diaz an einen kulturhistorischen Anfang. Es gibt zahlreiche Einstellungen, in denen die Frauen oder die Männer (die häufig jeweils unter sich sind) frontal aus dem Bild kommen. Sie kommen aus der Natur heraus, und treten als Individuen in Erscheinung. Während die Diaspora ein jüngeres Phänomen ist, sind die Lebensformen der Gallardos zum Teil sehr alt.
Programmatisch beginnt Ebolusyon mit einem Bild aus der Landwirtschaft, mit dem Pflügen eines Felds, und endet trotz aller Verluste in einer Stimmung der Ernte. Die zyklische Zeit der agrarischen Gesellschaft spielt noch eine Rolle im Kalender der Ernteeinsätze, zu denen die Frauen in regelmäßigen Abständen aufbrechen. Sie legen dafür lange Fußmärsche zurück, wofür Lav Diaz wiederum entsprechend lange Einstellungen wählt. Die Ernte ist eine Angelegenheit, für die eine Familie zu klein ist. Hier treffen viele Leute zusammen, sie verdienen ein wenig Geld. Puring trifft bei einer Ernte auch auf Violing, eine wohlhabende Verwandte aus der Stadt, die in einem Haus mit Garten lebt und später eines der Mädchen zu sich in Dienst nimmt, damit es eine Schule besuchen kann.
Wie schon in Batang Westside, in dem ein Dokumentarfilmer eine wichtige Rolle spielt, gibt es in Ebolusyon auch modernistische Brechungen, eine Beschäftigung des Films mit sich selbst im Zusammenhang der philippinischen Mediengeschichte. Die Familie Gallardo nimmt, wie die ganze Nation, regen Anteil an den Seifenopern, die im Radio ausgestrahlt werden. Sie tragen Titel wie Hope Waits for Everyone oder Shaped by Failure. Die melodramatischen Serien fungieren in Ebolusyon als eine Parallelwelt, in die Lav Diaz direkten Einblick gewährt. So zeigt er in einer Szene, die von sexueller Nötigung eines Dienstmädchens handelt, die Radiosprecher, wie sie hinter Stehpulten und Mikrophonen die exaltierten Emotionen produzieren, die bei den Gallardos als Hörspiel ankommen.
An diesen Radiodramen ist auch die Erzählkonstruktion von Ebolusyon orientiert. Die Einstellungen genügen häufig zuerst einmal sich selbst, sie sind wie eine Folge in einem sich großflächig entfaltenden Szenario. Retardierende Momente und Auflösung der unmittelbaren Kausalität haben ebenfalls mit dem perennischen Charakter der Radiodramen zu tun. Lav Diaz zeigt, wie die Gallardos diese Sendungen rezipieren. Manchmal schneidet er mitten in einem Dialog aus dem Studio in die Hütte, in der das Radio gerade läuft. An einer Stelle läßt sich Bendo, der eine Folge versäumt hat, von Ray den Inhalt nacherzählen. Die politischen Nachrichten werden für die Seifenoper unterbrochen. Indem Lav Diaz offenlegt, wie diese extrem identifikatorischen Hörspiele gemacht werden, macht er sie einer kritischen Rezeption zugänglich. Zugleich erkennt er aber ihre Wirkungsmacht an und misst seine eigenen Film daran.
Die zweite Brechung betrifft das philippinische Kino. Völlig unvermittelt tritt ungefähr zur Hälfte von Ebolusyon der Filmemacher Lino Brocka auf (gespielt von dem Kritiker Gino Dormiendo). In einem Interview spricht er über seinen Film Stardom aus dem Jahr 1970, über Monte Hellmans Flight to Fury (ein amerikanisches B-Picture mit Jack Nicholson auf den Philippinen), und über den Trash-Regisseur Eddie Romero. Die Familie Gallardo hört diese Sendung eher zufällig im Radio, sie schaltet dann auch gleich um zu einem Radiodrama, in dem es um einen aufstrebenden Star geht. Die verschiedenen Repräsentationsebenen beginnen, einander zu kommentieren. Lav Diaz misst seinen Realismus, mit dem er sich ausdrücklich in die Nachfolge von Brocka stellt, zugleich an den Mainstream-Formen, die das kollektive Imaginäre dominieren. In einer unheimlichen Wendung der Geschichte kommt er später auf Lino Brocka zurück. Der Filmemacher, der 1991 bei einem Verkehrsunfall unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, war der engagierteste Gegner von Marcos im künstlerischen Feld.
In die Tradition der Concerned Artists of the Philippines stellt Lav Diaz sich nun sowohl politisch wie ästhetisch. Die wichtige Rückblende, in der Raynaldo von Hilda gefunden wird, hat eine visuelle Qualität, die den Schluß erlaubt, daß Raynaldo auch das weggelegte Kind des philippinischen Kinos ist. Er könnte selbst aus einem Film von Lino Brocka stammen, er verkörpert das Uneingelöste des kinematographischen Aufbruchs der siebziger Jahre. Die Bewegung von der Provinz in der Stadt, die Lino Brocka mit seinem wichtigsten Film Maynila Sa mag Kuko ng Liwanag (Manila in den Klauen des Neonlichts, 1975) tragisch enden ließ, ist in Ebolusyon aber umkehrbar. Während Lino Brocka in seinen politischen Filmen die Identifikationsmuster der populären Formen beibehielt, arbeitet Lav Diaz an einem Kino der Kollektivität. Indem er viele Figuren über einen langen Zeitraum im Auge behält, kann er Raynaldo (der bei Brocka die Figur gewesen wäre, auf der die Blicke ruhen) lange verschwinden lassen. Die Familie ist aber nicht mit dem Volk identisch. Das Volk ist selbst gespalten in seinen Interessen und politischen Parteinahmen. Die Familie wird abgespalten und an den Rand gedrängt. Den Gallardos eignet der Ruf von „Verrückten“.
Das Kino von Lav Diaz hat neben seiner neorealistischen Dimension eine ausgeprägt mentale Ebene. In Batang Westside spielen psychologische Konsultationen eine wichtige Rolle, in denen eine spezifisch philippinische Form der Traumdeutung erkennbar wird. In Ebolusyon gehen Vision, Traum, Filmgeschichte ineinander über. Wenn André Bazin den Neorealismus noch als eine „humanistische Weltanschauung“ begreifen konnte, dann muß das Kino durch die Kritik des Humanismus hindurch, die seither geleistet wurde. Lav Diaz sucht in Ebolusyon nach einer Darstellung der kollektiven Geschichte, ohne dabei zum Darwinisten zu werden. Er versichert sich gegen den Teleologieverdacht, der kritisch auf den Fortschrittsoptimismus der Moderne reagiert, indem er Orte und Szenen zueinander in Bezug setzt, ohne sie kausal zu verbinden. Er sucht sie auf wie in einer Analyse.
Es gibt für das Kino wie für das Volk keine Möglichkeit, an einen Nullpunkt zurückzugehen. Die Gegenwart ist immer schon traumatisch geprägt, sie kann weder durch Entwicklung noch durch eine historische Abkürzung überwunden werden. Das klingt in dem Satz an, den Gilles Deleuze mit Blick auf Lino Brocka schrieb: „Es hat den Anschein, als lebte das moderne politische Kino nicht mehr wie das klassische von der Möglichkeit von Evolution und Revolution, sondern von Unmöglichkeiten oder, wie bei Kafka, vom Unerträglichen.“ Dem hält Lav Diaz die Erfahrung entgegen, daß das Unerträgliche, wenn es nicht zum Tod führt, eine zeitliche Dimension behält, die das eigentliche Repräsentationsproblem seines Kinos bildet. Er löst es (temporär), indem er zwei klassische Formen des politischen Kinos – den Humanismus der Schärfentiefe und Plansequenz von Bazin und den agitatorischen Individualismus von Brocka – in seinen Film inkorporiert und ihn in einer Form daraus hervorgehen läßt, die die selbst evolutionär ist.
Die Länge des Films ist keinem anderen Prinzip geschuldet als dem Leben selbst, das von einer Erzählung nie einzuholen ist. Gegen die Serien, in denen die Zeit in einer melodramatischen Gegenwart aufgehoben ist, insistiert Lav Diaz auf den Dimensionen der Zeit als der eigentlichen Gegenwart des Kinos. Die dritte Generation der Gallardos zählt zur ersten Generation der freien Philippinen. Sie erfahren sich nicht als Subjekte dieser Entwicklung. Agonie und Kontemplation liegen nahe beisammen. „Tayo, mabubuhay pa rin“ – wir werden weiterleben. Dieser Satz, in dem es nun nicht mehr um Optimismus oder Pessimismus, um Hoffnung oder Verzweiflung geht, sondern um das Leben als jene Dauer, die nicht dem Tod gehört, gilt für die Individuen wie für die Familie in gleichem Maß. In dieser Verschränkung liegt die revolutionäre Leistung von Ebolusyon.
Kommentare
Kommentar von g |
danke!
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