Tagträume über den Fall Moses

Als 1938 der Anschluß Österreichs an Nazi-Deutschland vollzogen wurde, fürchtete Sigmund Freud weniger um seine eigene Existenz (obwohl auch er selbst schließlich zur Flucht nach London bewogen werden konnte), sondern in erster Line um den Fortbestand der von ihm begründeten Wissenschaft: bis auf wenige Ausnahmen waren die hervorragenden Repräsentanten der Psychoanalyse allesamt Juden, die ihrerseits vorwiegend nach Amerika emigrierten. In dieser Situation veröffentlichte Freud sein letztes Buch: Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist ein verquerer Text über jüdische Identität, über die Herkunft des jüdischen Monotheimsus, ein „Tagtraum“ – wie die Freud-Herausgeberin Ilse Grubrich-Simitis meint. Moses wie auch der von ihm begründete Monotheismus seien ägyptischen Ursprungs gewesen, die Juden hätten dann zwar Moses getötet, seine Lehre aber übernommen und seither tradiert, allen historischen Widrigkeiten zum Trotz.

Nicht nur Zeitgenossen lasen aus dem Buch eine Distanzierung Freuds von seinen jüdischen Wurzeln (und damit, spät aber doch, von seinem Vater!) heraus. Wie weit dies zutrifft, ist seither Gegenstand zahlreicher Kontroversen.

Yosef Hayim Yerushalmis Buch rollt die Diskussion insofern von vorne auf, als er mit „historisch-kritischer Kärrnerarbeit“ beginnt, also mit genauer Sichtung der Manuskripte und anderer unveröffentlichter Dokumente. Aus einer Fülle von Details ergibt sich ein Bild von Freuds Selbstverständnis als „gottlosen Juden“, der gegen Ende seines Lebens seine wesentlichen Theorien zur Menschheitsgeschichte an seinem eigenen Volk noch einmal bestätigt findet, auch wenn er dessen Geschichte dazu beträchtlich umschreiben muß. Dieses Ergebnis interpretiert Yerushalmi zweifach: einerseits erfüllt Freud den Auftrag seines Vaters, der ihm seinerzeit eine Bibel geschenkt hatte mit der Widmung: „Und ich bringe dir dieses zum Gedächtnis“. Andererseits bewahrt sich Freud seine Unabhängigkeit, indem das Resultat seines Bibelstudiums jene „historische Wahrheit“ ist, zu der erst die Psychoanalyse den Zugang ermöglicht hat.

Zur schließlichen Gestalt des Mann Moses trugen noch andere Motive bei, die Yerushalmi in den ersten vier Kapiteln seines aus fünf Vorträgen an der Yale University hervorgegangenen Buches darlegt. Das Schlußkapitel bildet ein eher persönlich gehaltener „Monolog mit Freud“, dessen Inhalt kritische Überlegungen zu Freuds Konzeption bilden sowie eine (intuitive) These: „Ich glaube, daß Sie im tiefsten Herzen davon überzeugt waren, daß die Psychoanalyse selbst eine weitere, wenn nicht die letzte, verwandelte Ausprägung des Judentums ist, welche, aller illusorischen religiösen Formen entkleidet, die entscheidenden monotheistischen Merkmale bewahrt, wenigstens in dem Sinne. Wie Sie sie verstanden und geschildert habe.“

Zusammen mit dem Aufsatz von Ilse Grubrich-Simitis zum gleichen Thema im Jahrgang 1990 der Zeitschrift Psyche liegen nun zwei quellenkritisch fundierte Untersuchungen zu diesem wichtigen Stück psychoanalytischer Geschichte vor. Yerushalmis Buch belegt darüber hinaus eindrucksvoll, daß die Geschichte der Psychoanalyse zu den spannendsten Kapiteln einer Kultur- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunders gehört. Berthold Rebhandl

Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses - Endliches und unendliches Judentum, Wagenbach 1993

Mit diesem Text wollte ich mich 1993 in Wien beim Standard für eine freie Mitarbeit bewerben. Ich habe ihn nie abgeschickt, aber auch nie weggeworfen

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