Als die Ski noch aus Holz waren

Lektürehinweis: "Vom Schnee der vergangenen Jahre" von Alois Brandstetter

Der österreichische Schriftsteller Alois Brandstetter wird heute wahrscheinlich nicht mehr so viel gelesen wie in den 1980er Jahren, als er vor allem mit Die Abtei einen Hit hatte, in dem ein Bildungsphilister sich einmal so richtig Luft verschaffte über Gott und die Welt – ein Buch, das man zugleich als gelungene Satire auf die Modernität wie auch als verschrobenen Ausdruck des Rückzugs aus ihr lesen konnte. Ich mag Brandstetter bis heute sehr, keines seiner Bücher aber ist mir näher als Vom Schnee der vergangenen Jahre, eine kleine Sammlung mit weihnachtlich gestimmten Texten, in denen aber eine ganze Kulturgeschichte der Nachkriegszeit in Oberösterreich steckt. Ich bin ein Kind dieser Zeit, mir wird bei diesem Büchlein sehr warm ums Herz.

Brandstetter beginnt damit, dass seine Familie 1948 einen Radioapparat bekommt, das erste Radio in einer Familie, deren (naturgemäß konservatives) Oberhaupt sich gegen den Volksempfänger der Nazis gesträubt hatte. Von einem „gefährlichen Mangel an Begeisterung“ schreibt Brandstetter über den Widerstand, den seine Familie nach 1938 leistete, nach 1945 wird dieser Widerstand auf viele der Segnungen des Konsumzeitalters übertragen. So wird schon die Anschaffung eines Radios zu einer komplexen Sache.

Eines meiner Lieblingskapitel handelt vom Eisstockschießen. Das ist ein Sport, den unser Vater sehr gern ausübte, und für den es unabdingbar war, dass die Teiche und Seen in der Gegend zufroren, sodass man darauf Bahnen ausschaufeln konnte, auf denen dann „geschossen“ wurde. Brandstetter beschreibt das Eisstockschießen als einen exklusiven Sport, bei dem sich die „Moarschaften (...) von Teich zu Teich“ anders, aber sehr oft als wenig aufgeschlossen für neue Schützen zeigten. Für die vielen Deportierten und Flüchtlinge aus dem Osten, die damals nach Oberösterreich kamen (vor allem Donauschwaben), fand sich nicht leicht sozialer Anschluss.

In diesem Kapitel zeigt sich die immer vorhandene Subversion bei Brandstetter sehr schön. Denn auch sein Vater, dessen Widerstandsgeist unter den Nazis gerade noch positiv erscheinen mochte, erweist sich gegenüber den zugewanderten Rumänen (oder, wie man sie nannte: „Rumänern“) als borniert. Wenn ein Herr Weißhaupt sich mit guten Ideen für die Landwirtschaft einzubringen versucht, wird das als „Banatlerbrauch“ abgetan. Ein signifikantes Detail betrifft die Art und Weise, wie man bei einer abgestochenen Sau die Borsten entfernt. Die rumänische Methode verunglimpft Brandstetters Vater als „Selchen“, die Folge ist, dass der Speck im Hause Brandstetter immer borstige Schwarten hat. Dass „der Rumäner mit dem Paprika per du ist“, wie die Leute damals sagten, führte schließlich zu einer Bereicherung der Esskultur. Es gab in Oberösterreich übrigens auch einmal eine Zeit, in der man noch keine Paradeiser kannte.

Brandstetter, Jahrgang 1938 und nur wenige Tage jünger als mein eigener Vater, durfte zur Schule gegen, und aus ihm wurde etwas: ein Professor und Schriftsteller, der den Konservatismus seiner Herkunft so weit reflektieren lernt, dass er ihn sich (halbwegs selbstreflexiv, halbwegs ironisch) zu eigen machen kann. Nicht zuletzt lese ich dieses kleine Buch als ein philologisches Brevier. Manche Dialektwörter, über die ich mir als Kind niemals Gedanken gemacht habe, finde ich hier in einer hochdeutschen Umschrift, und staune ein bisschen: zum Beispiel über Sagscheiten (Sägespäne), von uns immer als „Sogschoaten“ ausgesprochen.

Brandstetter erinnert auch an alte, soziale Gebräuche, die man als Vorformen des heutigen Sozialstaats sehen kann: So gab es das ungeschriebene Recht, sich einen Christbaum aus dem Wald zu holen, es musste aber ein „Untersteher“ sein, also ein Baum mit einer schlechten Dominanzprognose im Wald. Man hatte damals ein lateinisches Wort für bestimmte Nutzungsrechte: Servitut (kein Dien-, sondern ein Bedienrecht, so übersetze ich mir das). „Das Ährenlesen gehörte zu diesen Rechten. Waren die Getreidefelder abgeerntet, aber noch nicht geackert (Halmreißen), gingen Erwachsenen und Kinder unbegüterter Familien über die Felder hin und sammelten büschelweise liegengebliebene Halme mit Ähren. Auch das Laubsammeln war als Servitut auf kleineren Häusern.“ Wenn ich das lese, muss ich an Agnès Vardas Film Les glaneurs und la glaneuse denken, aber auch an das Holzsammeln von Roma-Familien in Rumänien, das ihnen dort der Staat zunehmend schwer macht.

1954 fuhr Brandstetter mit dem Fahrrad nach Rom, wie es sich für einen katholischen, jungen Mann gehört. Das Empfehlungsschreiben für das Germanische Kolleg war selbstverständlich auf Lateinisch abgefasst: Alois Brandstetter, Studiosus, e parochia Pichl bei Wels a parocho optime recommendatur, Ferdinand Hochedlinger, parochus.

Für mich liegt der im Titel des Buches angesprochene Bruch in der Erfahrung des Klimawandels: Der Schnee der vergangenen Jahre kommt nicht mehr. Die Winter der Kindheit waren Elementarerfahrungen, davon finde ich in Brandstetters Buch fast mehr, als wenn ich heute in ein schneesicheres Skigebiet fahren würde. Die Formulierung vom Schnee der vergangenen Jahre ist bei ihm aber im übertragenen Sinn zu verstehen: Sie meint alles, was man aus Gründen des Festhaltens an gutem Überkommenem gegen unnötiges Neues einwenden möchte. So wehrt sich zum Beispiel der Vater von Brandstetter anno 1952 gegen die Elektrifizierung der Kirchenglocken. Sein Protest ist Schnee vom vergangenen Jahr. Während des Krieges waren die Glocken als „bronzene Reserve“ irgendwann auch der Rüstungsanstrengung geopfert worden.

So werden die Glocken zu dem klingenden Motiv einer guten Skepsis: Als nach dem Krieg aus der Gießerei in Sant Florian eine neue Garnitur kommt, ist Brandstetters Vater überzeugt, „dass auch diese Garnitur nicht den ewigen Frieden einläuten würde“. Überraschenderweise hat diese Garnitur aber seither gut gehalten. In Europa herrscht zwar kein ewiger Friede, aber ein brauchbarer, der inzwischen zwei, drei Generationen hervorgebracht hat, die sich eigentlich nicht beschweren dürfen – außer über die eine oder andere Verlusterfahrung, die der Fortschritt gebracht hat, und die Alois Brandstetter so wunderbar in das „Abherschneiben“ („Herunterschneien“) seiner weichen Prosa hüllt.

Alois Brandstetter, Vom Schnee der vergangenen Jahre, Residenz Verlag 1979/2008

 

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