Leute mit Mandat
Ein visionäres Buch über die entstehende Sowjetunion: "Der irdische Kelch" von Michail Prischwin
Selten habe ich mich bei einem Buch so danach gesehnt, die Originalsprache lesen zu können, und bekam zugleich so stark den Eindruck, dass diese für mich absolut außer Reichweite ist, wie im Falle von Michail Prischwins Der irdische Kelch. Eine Übersetzung aus dem Russischen von Eveline Passet, nach allem, was ich mir so zusammendenken kann, eine famose Übersetzung eines radikalen Texts. „Nach dem Deutschunterricht gegen Fastenbutter für Kolja, den Sohn des Kommissars, träumt Alpatow, dass er auf seiner Insel eine schwere Zeit durchlebt und sich im Frühjahr ein Boot bauen wird, mit dem er zu den Menschen fährt, um ihnen von seinen ungewöhnlichen Abenteuern im neunzehnten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts zu erzählen.“
Im neunzehnten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts setzten in Russland die Bolschewiki ihre Parteiherrschaft durch, mit katastrophalen Folgen: Überall herrscht Mangelwirtschaft, und wenn es irgendwo etwas gibt, wird es getauscht. Alpatow ist ein Lehrer in einer dörflichen Welt mit einem „Museum des Gutslebens“, in dem sich „Leute mit Mandat“ breitgemacht haben, und „eine Alte mit den Pfauen der Herrschaft“. Dieser Alpatow ist das Alter Ego des Autors Michail Prischwin, der schon drei Jahre nach dem besagten Jahr, also 1922, mit seinen Schilderungen aus der Revolution herauskam. Es ist ein visionärer Text in vielerlei Hinsicht, vor allem aber deswegen, weil Prischwin sich kaum einmal die Mühe macht, etwas sorgfältig zu beschreiben – er lässt es stattdessen alptraumhaft aus Gesprächsfetzen erkennbar werden, die er irgendwo aufschnappt:
„Ich rede vom Inneren.“„Das ist das Äußerste, ich meine: wie das Leben sich ändert, oder: die neue Linie .... Wir leben hier doch in einem Randgebiet, aber Sie reden von Reliquien. Sagen Sie lieber, wird die Richtlinie kommen?“„Die Bahnlinie?“„Meinetwegen die Rahmenlinie, trotzdem wissen Sie bestimmt etwas.“„Ich weiß nichts.“
Beim Schwarzbrennen des flüssigen Brots gibt es Momente verstörender Erkenntnis. „Alpatow probierte nicht zum ersten Mal dieses grässliche Zeug, aber trotzdem packte ihn vor jedem Glas die Angst: Es war ein großes Tee-, kein kleines Wodkaglas, voll mit einem Sprit, der dermaßen stank, dass der Wald im großen Umkreis nach den gebietskommissarlichen Innereien zu riechen schien. Das Glas wird unter der gespannten, jede Kleinigkeit im Gesicht registrierenden allgemeinen Aufmerksamkeit geleert, und man meint, in einen riesigen, brodelnden Bottich zu stürzen, den der Gott der schwarzen Umteilung der russischen Ländereien eingerührt hat. In dem Bottich dreht sich und kreist der schwarze Haufe mit all seinem stinkenden, schmutzigen Bettel, in Schuhen und Kleidern, mit Fußlappen und Hosenbeinen, da ein Bastschuh, da ein Rock, da ein Schwanz, da ein Horn, und dort ein Teufel, ein Stier, ein Muschik, und ein Weib kocht ihr Kind in einem Topf, und ein Junge zielt seinem Vater direkt auf die Schläfe, und all das heißt die irdische Welt.“
Nicht immer ist es die Politik, die alles verdirbt, aber sie macht immer alles noch schlimmer. Ein schrecklicher Frost lässt die Zivilisation förmlich bersten. „Als vom restlos untergegangenen Fernmeldenetz nur noch die Masten übriggeblieben waren, wurde in der Zeitung Hakenpflug und Hammer für den Diebstahl von Volkseigentum eine nicht unerhebliche Strafe verkündet, oder wie sie im Dorf sagten: zehn Jahre Erschießung.“
Prischwins eigenes geistiges Koordinatensystem ist naturmystisch. Das Buch beginnt mit einer Beschwörung der sumpfigen Landschaft des Tschistik, der „ruhmreiche Moorsumpf, die Mutter des großen russischen Stroms“, und endet mit einem großen mythischen Bild: „Und ein schwarzer Rabe durchschnitt noch die Scheibe der gekreuzigten russischen Sonne, aus Skythien flog er, die Leber des Prometheus zu fressen, in Richtung Kaukasus.“ In das Land, aus dem Stalin kommt, fügen wir da unwillkürlich hinzu.
Als zivilgesellschaftliche Ressource mag Der irdische Kelch nicht viel taugen, dazu ist das zu sehr das Buch eines Individualisten, der sich allen Zusammenhängen entzieht, ein russischer Thoreau, der sich eine Hütte aus Sätzen baut. Als Dokument der Menschenskepsis ist es im besten Sinne liberalkonservativ, wie dieses "Gebet" zeigt: "Herr, erleuchte am künftigen Tag unsere Vergangenheit und erhalte im Neuen alles, was früher gut war, erhalte unsere Bannwälder, erhalte die Quellen der machtvollen Ströme, die Vögel desgleichen, mehre die Fische in großer Zahl, führe zurück in die Wälder die Tiere und befreie sie von unserer Seele." Als literarischer Text ist Der irdische Kelch eine große, bereichernde Herausforderung.
Michail Prischwin, Der irdische Kelch. Aus dem Russischen von Eveline Passet, Guggolz Verlag 2015
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