Geschlechtliche Seele

Lektüre: "Das babylonische Wörterbuch" von Joaquim Maria Machado de Assis

Auf dem Akkreditierungsformular für das Filmfestival in Toronto musste ich heuer zum ersten Mal drei Fragen beantworten, die wohl als identitätsbezogen zu bezeichnen sind: „sexual orientation“, „gender identity“ und „cultural heritage“. In allen drei Fällen gab es mehr als zwei Antworten, und als ausweichende Option „prefer not to answer“. Das Formular wäre leichte Beute für Menschen, die schnell einmal einen „Genderwahnsinn“ am Werke sehen. Ich musste dabei aber an eine Erzählung denken, die ich ein paar Tage davor gelesen hatte: Die Akademien von Siam von Joaquim Maria Machado de Assis, einem brasilianischen Klassiker aus dem 19. Jahrhundert. Der kurze conto aus dem Jahr 1884 kreist um den Begriff „geschlechtliche Seele“, der wohl zu der damaligen Zeit dem heutigen Begriff „gender“ am nächsten kam. In Siam (der alte Name für Thailand) kommt es zu einem wissenschaftlichen Streit darüber, ob die Seele ein Geschlecht hat. Es gibt sogar Todesopfer, denn mit der Frage „Warum gibt es Männer, die weiblich, und Frauen, die männlich sind?“ ist nicht zu spaßen.

Die Frage stellt sich, weil in Siam ein König herrscht, dessen „Naturell“ in eine offensichtliche Richtung weist: „Alles an ihm verströmte ausgesuchteste Weiblichkeit. Seine Augen waren liebevoll, die Stimme silberhell, seine Umgangsformen sanft und willfährig, und er hatte eine wahre Abscheu vor Waffen.“ Die schönste Konkubine des Königs hingegen ist „ein Büffel mit Schwanenfedern“, also eine männliche Frau. Es liegt nahe, dass die beiden - es handelt sich um eine fantastische Geschichte - die Körper tauschen: „Beiden ging es nun gut, wie Menschen, die endlich das richtige Haus gefunden haben.“ Der - je nachdem - Seelen- oder Körpertausch ist aber zeitlich befristet, beide müssen in eine Identität zurück, von der damals auch schon klar war, dass sie zwischen den beiden exklusiven Alternativen männlich/weiblich lag - nur hatte Machado de Assis noch keine Begriffe dafür. (Wobei der König einmal eine Antwort gibt, die dem heutigen „prefer not to answer“ entspricht.)

Letztlich geht es in der Geschichte um eine Wissenschaftssatire, die Machado de Assis in eine exotische Kultur und in eine märchenhafte Zeit verlegt. Dabei ist das eine hoch-, wenn nicht schon postmoderne kleine Geschichte, die völlig zu Recht am Eingang zu dem Band Das babylonische Wörterbuch steht, mit dem der Manesse Verlag auf diesen weltberühmten Autor aufmerksam machen möchte, von dem in deutscher Sprache zur Zeit wenig erhältlich ist. Nach der Lektüre würde ich der Ableitung von Salman Rushdie durchaus zustimmen: er zog eine Linie von Machado de Assis über Borges zu Gabriel García Márquez, was natürlich sofort zu einer nicht minder frivolen deutschsprachigen analogen Konstruktion verführt: Wilhelm Raabe - Paul Scheerbart - Günter Grass? Nach einem seriösen Pendant zu Borges zu suchen, macht wirklich keinen Sinn.

Bei Machado de Assis kann man sehr schön sehen, wie im 19. Jahrhundert der kritische Geist, der aus der philologischen Lektüre der Bibel allmählich in die Natur- und Einzelwissenschaften weiterwandert, zugleich die literarische Fantasie wissenschaftskritisch inspiriert und freisetzt. Mehrfach beschäftigt er sich mit den Mythen der hebräischen Bibel, an einer Stelle kommt er dann auf eine ziemlich drastische Darstellung von Tierversuchen, an der ihn vielleicht gar nicht so sehr der ethische Aspekt interessiert als der zunehmend verzweifelte Versuch, in einem anatomisch erschlossenen Körper die abendländischen Identitätskonzepte noch irgendwo zu finden. Was das 19. Jahrhundert war, das kann man an diesem Band aus dem jungen Nationalstaat Brasilien (damals schon eine kulturelle Großmacht) auch ganz hervorragend begreifen.

Und an vielen Stellen sieht man schon das 20. und sogar das 21. Jahrhundert kommen. So hält zum Beispiel in einer Erzählung der Teufel eine (seine alternative) Bergpredigt: „Verwahret eure Schätze nicht in der Erde“, heißt es da, und das klingt noch fast jesuanisch, es geht aber so weiter: „Leget eure Schätze lieber auf eine Bank in London, wo weder Rost noch Motten sie zerfressen und auch keine Diebe sie stehlen und wo ihr sie wiedersehen werdet am Jüngsten Tag.“ Da zeichnet sich eine Weltordnung ab, die von der heutigen nicht allzu verschieden ist, die aber mit dem dezenten Hinweis auf den Jüngsten Tag einen apokalyptischen Akzent bekommt. Der Jüngste Tag, das hat Machado Assis wohl nur von ganz fern geahnt, wird ein Bank Run werden.

Oder ein Border Run. Dafür gibt es in Das babylonische Wörterbuch auch Indizien, zum Beispiel in einer Geschichte, in der die Söhne Noahs auf der noch schwimmenden Arche schon die Claims für die Zeit nach der Sintflut abstecken. „Da besitzen sie das Land noch nicht einmal und streiten über seine Grenzen“, klagt Noah. „Wie soll das erst werden, wenn die Türken und Russen kommen?“ Letzter Satz: „Die Arche aber schaukelte weiter über den Wassern des Abgrunds.“

Joaquim Maria Machado de Assis: Das babylonische Wörterbuch. Erzählungen, Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis und Melanie P. Strasser, Nachwort von Manfred Pfister, Manesse Bibliothek 2018, 250 Seiten

 

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